Gedichte im Islam
Der Schiedsspruch

von
Friedrich Rückert

Weise war der Sohn des Kotba,
herm, als er den Streit um Vorzug,
Um den Vorzug ihres Adels,
Sollt’ entscheiden zwischen Amir,
Sohn Tofeil’s, und Alkama.

Beide mit ein Anverwandten,
Mit dem Heer der Stammgenossen,
Traten sie vor seine Schranken,
Eifrig beide, doch ihr Anhang
Noch viel eifriger als sie.

Vor dem anberaumten Tage,
Wo er soll den Schweren Spruch tun,
Lasset er den einen Werber,
Amir, heimlich zu sich rufen,
Den er also redet an:

Sohn Tofei’s, es nimmt mich Wunder,
Wie du diesen Kampf begonnen;
Denn es ist des Volkes Meinung,
Meine nicht allein, den Vorzug
Habe vor dir Alkama.

Amir spricht bestürzt: Sohn Kotba’s!
Also sollt’ ich unterliegen?
Ich beschwöre dich, dafern du
Nicht mich vorziehn kannst, doch stelle
Meinen Gegner mich nicht nach!

Doch der Richter spricht voll Ernstes:
Geh mit Gott! – Mit weinig Hoffnung
Geht von dannen jener; aber
Jetzo lässt den zweiten rufen
Herrn, und sagt ihm ebenso:

Alkama, ich bin verwundert,
Dass du diesen Wettstreit wagtest;
Frage mich nicht, frag dich selber,
Ob den Vorzug nicht in allen
Stücken Amir vor dir.

Und auch er spricht: Sohn des Kotba!
Sollt’ ich diese Schmach erleben?
Dich beschwör’ ich, kannst du mich nicht
Über meinen Gegner setzen,
Setze mich nicht unter ihn!

Als er diesen auch entlassen,
Rief er seine beiden Söhne:
Lieben Söhne, morgen hab’ ich
Einen schweren Spruch zu sprechen,
Der dem Land Unfrieden droht.

Geht und nehmt aus meinem Stalle
Jeder von euch zehn Kamele,
Führt sie zur Versammlungsstätte,
Zehn zum Ort, wo Amir stehn wird,
zehn zum Ort des Alkama.

Und sobald mein Spruch erschollen,
Fanget an zu schlachten Mahlzeit,
Hüden eine, drüben eine,
Die für Amir’s Anhang, jene
Für den Anhang Alkama’s

Als der Tag nun war erschienen,
Wo sie vor den Schranken standen,
Mit den harrenden genossen,
Ihrem ungeduldigen Anhang,
Tat er so den Richterspruch:

Zwischen euch soll ich entscheiden?
So einscheid’ ich: Beide seid ihr
Eines rötlichen Kameles
Beide weiße Vorderkniee,
Die zu gleicher zeit es beuget,
Und zu gleicher Zeit erhebt.

Andre sagen, dass er so sprach:
Eines doppelschneidigen Schwertes
Beide Schneiden seid ihr beiden;
Wohin auch das Schwert sich kehre,
Seine Schneid’ ist vornenan.

Ob er so nun oder so sprach,
Völlige Gleichheit wollt’ er sprechen;
Und jedweder Werber, weil er
Fürchtete zu unterliegen,
War zufrieden gleich zu stehn.

Auch ihr Anhang war zufrieden,
Denn des Richters Söhne fingen
Ihre Mahlzeit an zu schlachten;
Aller Streit war ausgeglichen,
Hüben Schmaus und drüben Schmaus.

Aus: Sieben Bücher Morgenländischer Sagen und Geschichten

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