Gedichte im Islam
Das Fest der Toten

von
Friedrich Rückert

Das Fest der Toten

Ich war (erzählte Thabit Elbunami)
Gewohnt, in jeder Nacht vor einem Freitag
Die Gräber zu besuchen, und zu beten
Bis gegen Tagesanbruch. Als ich einstmals
Nun wieder machte den Besuch, versank ich
In einen Traum, und sah das Volk der Gräber
Hervorgehn aus den Gräbern, als und junge,
Mit frohen Mienen und geschmückten Kleidern,
Die lagerten sich auf betautem Grase
Im Schein des Monds an Wohlbesetzten Tafeln,
Und schmausten alle fröhlich miteinander.

Ein einziger, ein schöner blasser Jüngling,
Saß nebenaus, betrübt, wie ausgeschlossen
Vom Fest und der Gesellschaft. Als die andern
Nun freudensatt zur Ruhstatt giengen, blieb er
Zurück, als wartet’ er dass ich ihn fragte.
Und ich befragt’ ihn, und er gab mir Antwort:
Imam der Moslemin! Ich bin ein Fremdling,
Und habe keinen, der an diesem Orte
Sich meiner annimmt, wie hier all die andern
Am Leben haben Eltern oder Kinder,
Geschwister und Verwandte, die sie reichlich
Mit Todtenspendenen Gebet bedenken,
Was ihnen so zu Gott kommt, wie du siehest.

Ich war mit meiner Mutter auf der Wallfahrt,
Und hier war Gottes Ratschluss dass ich stürbe.
Mit Tränen hat die Mutter mich begraben,
Verlassen dann im fremden Land, genommen
Den zweiten Mann, des ersten Sohn vergessen.
Willst du mir nun zu meines Vaters verhelfen,
Der Totenspend’ aus meines Vaters Erbteil,
Imam der Moslemin, so geh! Sie wohnet –
Hier nannt’ er flüsternd Gasse, Haus und Namen,
Genau bezeichnend; und mir war’s als hätt’ ich,
Ich konnte mich nur deutlich nicht besinnen,
Schon irgenwo vernommen die Geschichte
Von solcher Witwe, die sich so vermählet.

Doch ich entschloss mich, um der Ruhe willen
Des Toten, andern Tages nachzuforschen,
Und alles fand ich, wie er mir’s beschrieben.
Da mahnte ich das Weib, das leicht gemahnte,
Den Sohn in seinem Grabe zu bedenken,
Mit einem Teil von seines Vaters Erbe,
Mehr aber mit Gebet und Angedenken,
Damit er mir, wenn beim Besuch der Gräber
Ich wieder fiel’ in Schlaf, er mir erschiene
Nicht traurig, sondern fröhlich gleich den andern.

Aus: Sieben Bücher Morgenländischer Sagen und Geschichten

© seit 2006 - m-haditec GmbH - info@eslam.de