Zusammenhang zwischen Ideologie und Gesetz
Ebenso wie wir wissen, dass sich die
Wirtschaftsideologie von der Wirtschaftswissenschaft
unterscheidet, müssen wir auch den Unterschied zwischen
Wirtschaftsideologie und Zivilgesetz kennen: Die Ideologie
umfasst eine Anzahl von grundsätzlichen Theorien über die
Probleme des Wirtschaftslebens, während das Zivilgesetz die
Gesetzgebung ist, welche die Einzelheiten der wirtschaftlichen
Beziehungen der Individuen untereinander und ihre jeweiligen
persönlichen und individuellen Rechte regelt. Demnach kann die
Wirtschaftsideologie einer Gesellschaft nicht mit deren
Zivilgesetz gleichgesetzt werden. So ist z.B. der
Kapitalismus, als die wirtschaftliche Ideologie vieler Staaten
der Welt, nicht gleichbedeutend mit den jeweiligen
Zivilgesetzen jener Staaten, und zwei kapitalistische Staaten
können sich durchaus in ihrer Gesetzgebung unterscheiden, z.B.
entsprechend deren romanischer oder germanischer Ausrichtung,
obwohl beiden die gleiche Wirtschaftsideologie zugrunde liegt,
denn diese Gesetzgebungen sind nicht die Sache der
kapitalistischen Ideologie. Es ist nicht die Aufgabe des
Kapitalismus – in seiner Eigenschaft als wirtschaftliche
Ideologie – die Paragraphen zu formulieren, mit denen das
Zivilgesetz eines kapitalistischen Staates geschäftliche
Transaktionen wie z.B. Verkauf, Vermietung und Kredit regelt.
Denn wenn diese Einzelbestimmungen als integraler Bestandteil
der kapitalistischen Ideologie vorgebracht würden, wäre das
gleichbedeutend mit Vermischung und Durcheinander von
grundsätzlichen Theorien und gesetzgeberischen Details, von
Ideologie und Gesetz, genauer gesagt eine Vermischung der
grundsätzlichen Theorien des Kapitalismus über die Freiheit
der Aneignung, die Freiheit der Verfügungsgewalt und die
Freiheit der Ausnutzung mit den geschriebenen Gesetzen, die
sich auf diese Freiheitsprinzipien des Kapitalismus begründen.
Deshalb ist es ein Fehler, wenn der islamische Forscher eine
Anzahl der Bestimmungen des Islam – die nach dem
Sprachgebrauch der Gegenwart einem Zivilgesetz entsprechen
würden – vorlegt, und sie so wie sie in den gesetzgeberischen
Textquellen und in den Schriften der Rechtswissenschaft [fiqh]
geschrieben stehen als die islamische Wirtschaftslehre
präsentiert, wie das einige muslimische Autoren tun, wenn sie
sich an einer Studie über die islamische Wirtschaftslehre
versuchen, nämlich indem sie eine Anzahl gesetzlicher
Bestimmungen erörtern, mit denen der Islam die Vermögensrechte
und die geschäftlichen Transaktionen regelt, wie die
Bestimmungen des islamischen Rechts
[scharia] über den Verkauf, die Vermietung, die
Teilhaberschaft, Täuschung, Glücksspiel und ähnliche
Gesetzgebungen. Jene Autoren verhalten sich wie jemand, der
die wirtschaftliche Ideologie, z.B. der Gesellschaft von
England, untersuchen und definieren will, und sich bei seinen
Studien auf das Zivilgesetz dieses Landes und die darin
enthaltenen gesetzgeberischen Bestimmungen beschränkt, anstatt
den Kapitalismus und seine Grundprinzipien über die Freiheit
der Aneignung, der Verfügung und der Ausnutzung von
Vermögenswerten und die Vorstellungen und Wertbegriffe, die
durch diese Prinzipien ausgedrückt werden, darzustellen.
Wenn wir auch die Notwendigkeit betonen,
zwischen dem theoretischen Gebilde der Wirtschaftsideologie
und dem Zivilgesetz zu unterscheiden, bekräftigen wir vielmehr
gleichzeitig die feste Verbundenheit von Ideologie und Gesetz,
die aus ihnen zwei Teile eines vollständigen theoretischen
Lehrgebäudes für die Gesellschaftsordnung macht. Es ist also
nicht nur wichtig, genügend Überblick zu bekommen, um zwischen
der Wirtschaftsideologie und dem Zivilgesetz unterscheiden zu
können, sondern wir müssen auch die wechselseitige Verbindung
zwischen beiden, die sie zu einem einzigen, organisch
zusammengefügten theoretischen Gebilde macht, in ihrer ganzen
Tiefe erkennen. Die wirtschaftliche Ideologie mit ihren
Theorien und Prinzipien bildet das Fundament für einen Überbau
von Gesetzen und ist ein wichtiger Faktor bei der Feststellung
von deren allgemeiner Tendenz. Es liegt kein Widerspruch
darin, wenn die Ideologie das theoretische Fundament für die
Gesetze darstellt und gleichzeitig ihrerseits als Überbau
eines Fundamentes von Prinzipien, auf denen sie sich
begründet, angesehen werden kann. Denn das vollständige
theoretische Gebäude der Gesellschaftsordnung baut auf der
Grundlage einer allgemeinen Weltsicht auf und enthält
zahlreiche “Stockwerke“, die sich jeweils aufeinander stützen,
und jedes vorhandene “Stockwerk“ kann als Basis und Fundament
des nächst höheren angesehen werden. Ideologie und Gesetz
entsprechen also zwei Stockwerken des theoretischen Gebäudes,
wobei das Gesetz das höherliegende der beiden Stockwerke
darstellt, das in Abhängigkeit von der Ideologie Gestalt
annimmt und im Lichte der grundsätzlichen Theorien und
Konzepte, welche die Theorie ausmachen, definiert wird. Nehmen
wir zur Verdeutlichung dessen das Beispiel der
kapitalistischen Ideologie mit ihrem Prinzip der freien
Wirtschaft und deren Zusammenhang mit den zivilgesetzlichen
Bestimmungen auf theoretischer und praktischer Ebene, damit
wir eine Vorstellung vom Zusammenhang zwischen Ideologie und
Gesetz und dem Grad der theoretischen und praktischen
Beeinflussung des Gesetzes durch die ideologischen Sichtweisen
bekommen. So können wir die Wirksamkeit der Ideologie im
Bereich der Rechte der Person des Zivilgesetzes erkennen, wenn
wir berücksichtigen, dass die Pflichtentheorie – die einen
Eckstein des Zivilgesetzes bildet – ihren theoretischen Gehalt
aus der Natur der kapitalistischen Ideologie hergeleitet hat,
und zwar zu einer Zeit, als die kapitalistischen Ideen der
wirtschaftlichen Freiheiten übermächtig waren und Prinzipien
der freien Wirtschaft die allgemeine Denkweise beherrschte.
So entstand als deren Folgewirkung das
Prinzip der Vorrangigkeit des freien Willens in der
Pflichtentheorie, die kapitalistisch-ideologischen Charakter
hat, denn sie bestätigt – im Einklang mit dem Glauben des
Kapitalismus an die Freiheit und mit seiner
individualistischen Tendenz – dass der persönliche freie Wille
des Einzelnen der einzige Ursprung aller Pflichten und Rechte
sei, und sie erkennt keinerlei Rechte von Personen über andere
oder der Gemeinschaft über den Einzelnen an, hinter denen sich
nicht eine freie Willensentscheidung verbirgt, die den
Einzelnen veranlasst, die Rechte anderer über seine Person mit
voller Überzeugung zu akzeptieren. Es ist eindeutig, dass die
Ablehnung jeglicher Rechte über eine Person, solange diese
Person ihre eigene Verpflichtungen nicht mit voller
Überzeugung anerkennt, nichts als eine getreue Übertragung des
geistigen Gehaltes der kapitalistischen Ideologie – nämlich
der wirtschaftlichen Freiheit – vom wirtschaftlichen auf den
privatrechtlichen Bereich ist, und daher bemerken wir, dass
die Pflichtentheorie anders aussieht, wenn sie auf einer
anderen ideologischen Grundlage beruht, so dass der freie
Wille dann unter Umständen eine weit geringere Rolle für sie
spielen kann.
Zu den Beispielen der Übertragung des
theoretischen Gehalts der kapitalistischen Ideologie auf
Einzelheiten der Gesetzgebung gehört weiterhin, dass die für
Kauf-, Kredit- und Lohnverträge zuständigen Bestimmungen des
auf kapitalistischer Grundlage geregelten Zivilgesetzes
erlauben, eine sofort ausgelieferte Menge von Weizen im
Austausch für eine größere Menge zu verkaufen, die später
ausgeliefert wird, oder Kapital für einen bestimmten
prozentuellen Zinssatz zu verleihen, oder dass ein
kapitalistischer Unternehmer Arbeiter für Lohn engagieren
kann, die mit den ihm gehörenden Hilfsmitteln Öl aus der Erde
fördern, damit er sich das Öl aneignet. Wenn das Gesetz all
dieses erlaubt, so bezieht es tatsächlich die Argumente für
diese Erlaubnis aus den kapitalistischen Theorien der
Ideologie, auf die es sich begründet.
Den gleichen Sachverhalt finden wir im
Bereich der Körperschaftsrechte des Zivilgesetzes; denn das
Recht auf Eigentum ist das wichtigste Körperschaftsrecht, das
vom Gesetz entsprechend der allgemeinen Haltung der
Wirtschaftsideologie zur Frage der Güterverteilung geregelt
wird, und da der ideologische Kapitalismus an die Freiheit der
Aneignung glaubt und Eigentum als heiliges Recht betrachtet,
muss das “obere Stockwerk“ des kapitalistischen
weltanschaulichen Gebäudes, das Zivilgesetz, es den Einzelnen
erlauben, z.B. Bodenschätze als Eigentum zu besitzen, in
Anwendung des Prinzips der Freiheit der Aneignung, und dem
Interesse des Einzelnen, aus seinem Eigentum Nutzen zu ziehen,
vor allem Vorrang einräumen, so dass der Einzelne nicht daran
gehindert wird, so wie es ihm beliebt von seinem Vermögen
Gebrauch zu machen, gleichgültig, was für Auswirkungen dies
auf die anderen hat, da das Eigentum und die Freiheit als
natürliche Rechte gelten, und nicht als mit einer sozialen
Pflicht verbundene Rechte, die der Einzelne innerhalb der
Gemeinschaft ausübt. Und erst wenn der Stellenwert der
wirtschaftlichen Freiheit geringer und der Begriffsinhalt von
Privateigentum modifiziert wird, beginnt das Zivilgesetz, die
Aneignung gewisser Vermögenswerte und natürlicher Ressourcen
durch Einzelpersonen zu unterbinden, und verbietet ihnen dann,
die Rechte über die Verfügung und Ausnutzung ihres Eigentums
zu missbrauchen. All das verdeutlicht das
Abhängigkeitsverhältnis zwischen Zivilgesetz und Ideologie,
das in einem so weitreichenden Maße besteht, das es möglich
wird, die Ideologie und ihre charakteristischen Merkmale
anhand des Zivilgesetzes zu erkennen.
Jemand, der nicht auf direktem Wege
Einblicke in die Ideologie eines bestimmten Landes gewinnen
kann, hat die Möglichkeit, auf das Zivilgesetz
zurückzugreifen, nicht weil das die Wirtschaftsideologie
darstellt, denn die Ideologie ist etwas anderes als Gesetz,
sondern indem er es als den auf der Ideologie basierenden
Überbau, bzw. als das “obere Stockwerk“, ansieht, das den
geistigen Gehalt der Ideologie und deren allgemeine
Besonderheiten widerspiegelt. Mann kann also, indem man das
Zivilgesetz eines Landes studiert, mit Leichtigkeit erkennen,
ob es sich um ein kapitalistisches oder sozialistisches Land
handelt, ja sogar den Grad, indem es an den Kapitalismus bzw.
Sozialismus glaubt.