Unsere Wirtschaft

Unsere Wirtschaft / Iqtisaduna

Muhammad Baqir al-Sadr

Zusammenhang zwischen Ideologie und Gesetz

Ebenso wie wir wissen, dass sich die Wirtschaftsideologie von der Wirtschaftswissenschaft unterscheidet, müssen wir auch den Unterschied zwischen Wirtschaftsideologie und Zivilgesetz kennen: Die Ideologie umfasst eine Anzahl von grundsätzlichen Theorien über die Probleme des Wirtschaftslebens, während das Zivilgesetz die Gesetzgebung ist, welche die Einzelheiten der wirtschaftlichen Beziehungen der Individuen untereinander und ihre jeweiligen persönlichen und individuellen Rechte regelt. Demnach kann die Wirtschaftsideologie einer Gesellschaft nicht mit deren Zivilgesetz gleichgesetzt werden. So ist z.B. der Kapitalismus, als die wirtschaftliche Ideologie vieler Staaten der Welt, nicht gleichbedeutend mit den jeweiligen Zivilgesetzen jener Staaten, und zwei kapitalistische Staaten können sich durchaus in ihrer Gesetzgebung unterscheiden, z.B. entsprechend deren romanischer oder germanischer Ausrichtung, obwohl beiden die gleiche Wirtschaftsideologie zugrunde liegt, denn diese Gesetzgebungen sind nicht die Sache der kapitalistischen Ideologie. Es ist nicht die Aufgabe des Kapitalismus – in seiner Eigenschaft als wirtschaftliche Ideologie – die Paragraphen zu formulieren, mit denen das Zivilgesetz eines kapitalistischen Staates geschäftliche Transaktionen wie z.B. Verkauf, Vermietung und Kredit regelt. Denn wenn diese Einzelbestimmungen als integraler Bestandteil der kapitalistischen Ideologie vorgebracht würden, wäre das gleichbedeutend mit Vermischung und Durcheinander von grundsätzlichen Theorien und gesetzgeberischen Details, von Ideologie und Gesetz, genauer gesagt eine Vermischung der grundsätzlichen Theorien des Kapitalismus über die Freiheit der Aneignung, die Freiheit der Verfügungsgewalt und die Freiheit der Ausnutzung mit den geschriebenen Gesetzen, die sich auf diese Freiheitsprinzipien des Kapitalismus begründen. Deshalb ist es ein Fehler, wenn der islamische Forscher eine Anzahl der Bestimmungen des Islam – die nach dem Sprachgebrauch der Gegenwart einem Zivilgesetz entsprechen würden – vorlegt, und sie so wie sie in den gesetzgeberischen Textquellen und in den Schriften der Rechtswissenschaft [fiqh] geschrieben stehen als die islamische Wirtschaftslehre präsentiert, wie das einige muslimische Autoren tun, wenn sie sich an einer Studie über die islamische Wirtschaftslehre versuchen, nämlich indem sie eine Anzahl gesetzlicher Bestimmungen erörtern, mit denen der Islam die Vermögensrechte und die geschäftlichen Transaktionen regelt, wie die Bestimmungen des islamischen Rechts [scharia] über den Verkauf, die Vermietung, die Teilhaberschaft, Täuschung, Glücksspiel und ähnliche Gesetzgebungen. Jene Autoren verhalten sich wie jemand, der die wirtschaftliche Ideologie, z.B. der Gesellschaft von England, untersuchen und definieren will, und sich bei seinen Studien auf das Zivilgesetz dieses Landes und die darin enthaltenen gesetzgeberischen Bestimmungen beschränkt, anstatt den Kapitalismus und seine Grundprinzipien über die Freiheit der Aneignung, der Verfügung und der Ausnutzung von Vermögenswerten und die Vorstellungen und Wertbegriffe, die durch diese Prinzipien ausgedrückt werden, darzustellen.

Wenn wir auch die Notwendigkeit betonen, zwischen dem theoretischen Gebilde der Wirtschaftsideologie und dem Zivilgesetz zu unterscheiden, bekräftigen wir vielmehr gleichzeitig die feste Verbundenheit von Ideologie und Gesetz, die aus ihnen zwei Teile eines vollständigen theoretischen Lehrgebäudes für die Gesellschaftsordnung macht. Es ist also nicht nur wichtig, genügend Überblick zu bekommen, um zwischen der Wirtschaftsideologie und dem Zivilgesetz unterscheiden zu können, sondern wir müssen auch die wechselseitige Verbindung zwischen beiden, die sie zu einem einzigen, organisch zusammengefügten theoretischen Gebilde macht, in ihrer ganzen Tiefe erkennen. Die wirtschaftliche Ideologie mit ihren Theorien und Prinzipien bildet das Fundament für einen Überbau von Gesetzen und ist ein wichtiger Faktor bei der Feststellung von deren allgemeiner Tendenz. Es liegt kein Widerspruch darin, wenn die Ideologie das theoretische Fundament für die Gesetze darstellt und gleichzeitig ihrerseits als Überbau eines Fundamentes von Prinzipien, auf denen sie sich begründet, angesehen werden kann. Denn das vollständige theoretische Gebäude der Gesellschaftsordnung baut auf der Grundlage einer allgemeinen Weltsicht auf und enthält zahlreiche “Stockwerke“, die sich jeweils aufeinander stützen, und jedes vorhandene “Stockwerk“ kann als Basis und Fundament des nächst höheren angesehen werden. Ideologie und Gesetz entsprechen also zwei Stockwerken des theoretischen Gebäudes, wobei das Gesetz das höherliegende der beiden Stockwerke darstellt, das in Abhängigkeit von der Ideologie Gestalt annimmt und im Lichte der grundsätzlichen Theorien und Konzepte, welche die Theorie ausmachen, definiert wird. Nehmen wir zur Verdeutlichung dessen das Beispiel der kapitalistischen Ideologie mit ihrem Prinzip der freien Wirtschaft und deren Zusammenhang mit den zivilgesetzlichen Bestimmungen auf theoretischer und praktischer Ebene, damit wir eine Vorstellung vom Zusammenhang zwischen Ideologie und Gesetz und dem Grad der theoretischen und praktischen Beeinflussung des Gesetzes durch die ideologischen Sichtweisen bekommen. So können wir die Wirksamkeit der Ideologie im Bereich der Rechte der Person des Zivilgesetzes erkennen, wenn wir berücksichtigen, dass die Pflichtentheorie – die einen Eckstein des Zivilgesetzes bildet – ihren theoretischen Gehalt aus der Natur der kapitalistischen Ideologie hergeleitet hat, und zwar zu einer Zeit, als die kapitalistischen Ideen der wirtschaftlichen Freiheiten übermächtig waren und Prinzipien der freien Wirtschaft die allgemeine Denkweise beherrschte.

So entstand als deren Folgewirkung das Prinzip der Vorrangigkeit des freien Willens in der Pflichtentheorie, die kapitalistisch-ideologischen Charakter hat, denn sie bestätigt – im Einklang mit dem Glauben des Kapitalismus an die Freiheit und mit seiner individualistischen Tendenz – dass der persönliche freie Wille des Einzelnen der einzige Ursprung aller Pflichten und Rechte sei, und sie erkennt keinerlei Rechte von Personen über andere oder der Gemeinschaft über den Einzelnen an, hinter denen sich nicht eine freie Willensentscheidung verbirgt, die den Einzelnen veranlasst, die Rechte anderer über seine Person mit voller Überzeugung zu akzeptieren. Es ist eindeutig, dass die Ablehnung jeglicher Rechte über eine Person, solange diese Person ihre eigene Verpflichtungen nicht mit voller Überzeugung anerkennt, nichts als eine getreue Übertragung des geistigen Gehaltes der kapitalistischen Ideologie – nämlich der wirtschaftlichen Freiheit – vom wirtschaftlichen auf den privatrechtlichen Bereich ist, und daher bemerken wir, dass die Pflichtentheorie anders aussieht, wenn sie auf einer anderen ideologischen Grundlage beruht, so dass der freie Wille dann unter Umständen eine weit geringere Rolle für sie spielen kann.

Zu den Beispielen der Übertragung des theoretischen Gehalts der kapitalistischen Ideologie auf Einzelheiten der Gesetzgebung gehört weiterhin, dass die für Kauf-, Kredit- und Lohnverträge zuständigen Bestimmungen des auf kapitalistischer Grundlage geregelten Zivilgesetzes erlauben, eine sofort ausgelieferte Menge von Weizen im Austausch für eine größere Menge zu verkaufen, die später ausgeliefert wird, oder Kapital für einen bestimmten prozentuellen Zinssatz zu verleihen, oder dass ein kapitalistischer Unternehmer Arbeiter für Lohn engagieren kann, die mit den ihm gehörenden Hilfsmitteln Öl aus der Erde fördern, damit er sich das Öl aneignet. Wenn das Gesetz all dieses erlaubt, so bezieht es tatsächlich die Argumente für diese Erlaubnis aus den kapitalistischen Theorien der Ideologie, auf die es sich begründet.

Den gleichen Sachverhalt finden wir im Bereich der Körperschaftsrechte des Zivilgesetzes; denn das Recht auf Eigentum ist das wichtigste Körperschaftsrecht, das vom Gesetz entsprechend der allgemeinen Haltung der Wirtschaftsideologie zur Frage der Güterverteilung geregelt wird, und da der ideologische Kapitalismus an die Freiheit der Aneignung glaubt und Eigentum als heiliges Recht betrachtet, muss das “obere Stockwerk“ des kapitalistischen weltanschaulichen Gebäudes, das Zivilgesetz, es den Einzelnen erlauben, z.B. Bodenschätze als Eigentum zu besitzen, in Anwendung des Prinzips der Freiheit der Aneignung, und dem Interesse des Einzelnen, aus seinem Eigentum Nutzen zu ziehen, vor allem Vorrang einräumen, so dass der Einzelne nicht daran gehindert wird, so wie es ihm beliebt von seinem Vermögen Gebrauch zu machen, gleichgültig, was für Auswirkungen dies auf die anderen hat, da das Eigentum und die Freiheit als natürliche Rechte gelten, und nicht als mit einer sozialen Pflicht verbundene Rechte, die der Einzelne innerhalb der Gemeinschaft ausübt. Und erst wenn der Stellenwert der wirtschaftlichen Freiheit geringer und der Begriffsinhalt von Privateigentum modifiziert wird, beginnt das Zivilgesetz, die Aneignung gewisser Vermögenswerte und natürlicher Ressourcen durch Einzelpersonen zu unterbinden, und verbietet ihnen dann, die Rechte über die Verfügung und Ausnutzung ihres Eigentums zu missbrauchen. All das verdeutlicht das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Zivilgesetz und Ideologie, das in einem so weitreichenden Maße besteht, das es möglich wird, die Ideologie und ihre charakteristischen Merkmale anhand des Zivilgesetzes zu erkennen.

Jemand, der nicht auf direktem Wege Einblicke in die Ideologie eines bestimmten Landes gewinnen kann, hat die Möglichkeit, auf das Zivilgesetz zurückzugreifen, nicht weil das die Wirtschaftsideologie darstellt, denn die Ideologie ist etwas anderes als Gesetz, sondern indem er es als den auf der Ideologie basierenden Überbau, bzw. als das “obere Stockwerk“, ansieht, das den geistigen Gehalt der Ideologie und deren allgemeine Besonderheiten widerspiegelt. Mann kann also, indem man das Zivilgesetz eines Landes studiert, mit Leichtigkeit erkennen, ob es sich um ein kapitalistisches oder sozialistisches Land handelt, ja sogar den Grad, indem es an den Kapitalismus bzw. Sozialismus glaubt.

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