Zeitliche Befristung der persönlichen Rechte
Die allgemeine Theorie über die
Verteilung, welche die persönlichen Rechte in der von uns zur
Kenntnis genommenen Art und Weise festsetzt, erlegt diesen
Rechten ganz allgemein eine zeitliche Begrenzung auf. Im Islam
ist jedes Eigentum und Recht durch die Lebenszeit des
Eigentümers begrenzt, und er kann es nicht in beliebiger Form
darüber hinaus ausdehnen. Daher darf im Islam der Einzelne
nicht frei darüber bestimmen, was mit den Gütern, die ihm
gehören, nach seinem Tode geschehen soll, vielmehr bestimmt
darüber zunächst einmal das Gesetz, mit den Vorschriften über
die Vererbung und den gesetzlichen Anordnungen, welche die
Verteilung der Erbschaft an die Verwandten regeln. Hierin
unterscheidet sich der Islam von den kapitalistischen
Gesellschaften, die im allgemeinen die weitestmögliche
Ausdehnung der Verfügungsgewalt des Eigentümers über seine
Güter propagieren, und ihm das Recht übertragen, die Zukunft
seiner Güter nach seinem Tode zu bestimmen, und diese wem er
will und in welcher Weise ihm gutdünkt zu überlassen.
Tatsächlich ergibt sich diese zeitliche
Befristung der persönlichen Rechte aus der allgemeinen Theorie
der Verteilung der primären Produktionsmittel, welche die
Grundlage für die gesetzliche Verankerung jener Rechte ist. So
erfuhren wir bereits bei der Erörterung dieser Theorie,
dass die persönlichen Rechte auf zwei Grundlagen beruhen
können: Entweder schafft eine Person durch Erschließung eine
Gelegenheit der Nutzung an einer natürlichen
Produktionsquelle, die ihr als Ergebnis ihrer Arbeit gehört,
und dadurch entsteht ihr ein Anrecht auf das Gut, derart, dass
andere ihr diese Gelegenheit nicht streitig machen dürfen.
Oder das Recht beruht auf der kontinuierlichen Nutzung eines
bestimmten natürlichen Reichtums, die dem Betreffenden ein
vorrangiges Recht an jenem Gut verleiht, solange er dessen
Nutzung fortsetzt. Diese beiden Grundlagen bleiben nach dem
Tode der betreffenden Person nicht mehr bestehen. So erlischt
die Gelegenheit der Nutzung, die einer Person gehört, die z.B.
Ödland neukultiviert hat, natürlicherweise mit deren Tod, da
die Gelegenheit für diese Person endgültig nicht mehr besteht,
und wenn eine andere Person sie sich zunutze macht, wäre das
kein Diebstahl an der ersteren, da für diese die Gelegenheit
mit ihrem Tod natürlicherweise hinfällig geworden ist. Genauso
verhält es sich mit der kontinuierlichen Nutzung, die mit dem
Tod unmöglich geworden ist. Somit verlieren die persönlichen
Rechte ihre jeweilige Grundlage, welche die allgemeine Theorie
vorschreibt.
Die zeitliche Befristung der privaten
Rechte und Eigentums in Gestalt der Bestimmungen des
islamischen Rechts [scharia] über die Vererbung
ist also ein Teil des wirtschaftsideologischen Gebäudes, und
mit der allgemeinen Theorie des Islam über die Verteilung
verbunden. Diese zeitliche Befristung manifestiert sich in dem
negativen Aspekt der Bestimmungen über die Vererbung, der
festsetzt, dass die Verbindung des Eigentümers zu seinen
Gütern mit seinem Tode endet. Dagegen ergibt sich der positive
Aspekt der Bestimmungen über die Vererbung, der die neuen
Eigentümer definiert und die Art und Weise der Verteilung der
vererbten Güter unter ihnen regelt, nicht aus der allgemeinen
Theorie über die Verteilung der primären Produktionsmittel,
sondern steht im Zusammenhang mit anderen Theorien der
islamischen Wirtschaftslehre, wie wir in späteren Kapiteln
sehen werden.
Wenn der Islam auch das private Eigentum
zeitlich durch die Lebensdauer des Eigentümers begrenzt, und
diesem testamentarische Willkür und die Entscheidungsbefugnis
über die Verwendung seiner Güter nach seinem Tode verwehrt,
nimmt er dennoch ein Drittel der Erbschaft davon aus, und
erlaubt dem Eigentümer über die Verwendung eines Drittels von
seinem Reichtum selbst zu bestimmen. Das widerspricht nicht
den von uns festgestellten Tatsachen über die zeitliche
Befristung des Eigentumsrechtes und deren Zusammenhang mit der
allgemeinen Theorie, denn die gesetzgeberischen Textquellen,
welche belegen, dass der Eigentümer über ein Drittel der
Erbschaft bestimmen darf, weisen deutlich darauf hin, dass
diese Erlaubnis Ausnahmecharakter hat und einen bestimmten
Zweck verfolgt. So heißt es in einer Überlieferung von Ali ibn
Yaqtin, dass er Imam Musa ibn Dschafar (a.) gefragt habe, über
wie viel von seinem Vermögen ein Mensch bei seinem Tode
verfügen dürfe, worauf dieser ihm antwortete: „Über ein
Drittel, und ein Drittel ist viel.“ Und von Imam
al-Sadiq (a.) wird überliefert, er habe gesagt, dass die
testamentarische Vollmacht über ein Viertel oder ein Fünftel
besser sei, als die über ein Drittel. Weiterhin gibt es eine
Überlieferung, wonach Allah der Erhabene dem Menschen gesagt
haben soll:
„In drei Dingen zeigte Ich mich dir
gegenüber langmütig: Ich hielt von dir verborgen, was deine
Sippe nicht geheim halten würde, wenn sie es wüsste; Ich
machte dich reich und bat dich um ein Darlehen, und du tatest
nichts Gutes; Ich überließ dir bei deinem Tode die Vollmacht
über ein Drittel deiner Hinterlassenschaft, und du tatest
nichts Gutes.“
Das Drittel ist also im Lichte dieser
Überlieferung ein Recht, von dem der Eigentümer besser nicht
(für sich selbst) Gebrauch machen sollte, das für viel
gehalten wird, und das als eine Gunst angesehen wird, die
Allah seinem Diener bei dessen Tod großzügigerweise gewährt,
und nicht als eine natürliche Verlängerung seiner zu Lebzeiten
erworbenen Rechte. All das deutet darauf hin, dass die
Erlaubnis für den Erblasser, über ein Drittel seines Vermögens
frei zu verfügen, eine Ausnahmebestimmung darstellt, womit
indirekt die von uns angeführte Aussage über die zeitliche
Befristung des Eigentums und deren Zusammenhang mit der
allgemeinen Theorie bestätigt wird. Indem sie diese
Ausnahmebestimmung erließ, beabsichtigt das
islamische Recht [scharia] weitere
Errungenschaften im Sinne der sozialen Gerechtigkeit zu
erzielen. Denn sie gibt dem Menschen, der von seiner ganzen
diesseitigen Welt Abschied nimmt und einer neuen, jenseitigen
Welt entgegensieht, die Gelegenheit, von seinem Reichtum für
sein Schicksal in der neuen Welt Gebrauch zu machen. Und
meistens ist es in den Momenten vor dem unvermeidlichen
Übergang vom Leben in den Tod eines muslimischen Menschen so,
dass die Flamme der materiellen Antriebe und zeitlichen
Gelüste erlischt, was dem Menschen dabei hilft, sich Gedanken
über neue Arten der Verwendung seines Vermögens zu machen, die
für sein künftiges Schicksal und das erwartete jenseitige
Leben, in das hinüberzugehen er sich vorbereitet, von
Bedeutung sind. Diese neuen Verwendungsarten sind es, welche
die oben angeführte Überlieferung als “Gutes“ umschreibt, und
der Mensch, der von seinem testamentarischen Recht nicht in
diesem Sinne Gebrauch macht, wird getadelt, weil sein
Verhalten dem Zweck, für den ihm dieses Recht verliehen wurde,
nicht entspricht.
Während der Islam das Recht, über ein
Drittel seiner Hinterlassenschaft zu verfügen, gewährt, legt
er gleichzeitig dem Betreffenden nahe, von dieser letzten
Gelegenheit im Sinne seiner jenseitigen Zukunft Gebrauch zu
machen, und dieses Drittel verschiedenen wohltätigen Zwecken
zugunsten der Allgemeinheit zuzuführen, die ihren Beitrag zur
Festigung der sozialen Gerechtigkeit leisten. Die zeitliche
Begrenzung des Eigentums ist also die allgemeine Regel, und
die Erlaubnis, über ein Drittel der Hinterlassenschaft frei zu
verfügen, ist die Ausnahme, die durch Zielsetzungen im
Zusammenhang mit anderen Aspekten der islamischen
Wirtschaftsideologie motiviert ist.