Unsere Wirtschaft

Unsere Wirtschaft / Iqtisaduna

Muhammad Baqir al-Sadr

Zeitliche Befristung der persönlichen Rechte

Die allgemeine Theorie über die Verteilung, welche die persönlichen Rechte in der von uns zur Kenntnis genommenen Art und Weise festsetzt, erlegt diesen Rechten ganz allgemein eine zeitliche Begrenzung auf. Im Islam ist jedes Eigentum und Recht durch die Lebenszeit des Eigentümers begrenzt, und er kann es nicht in beliebiger Form darüber hinaus ausdehnen. Daher darf im Islam der Einzelne nicht frei darüber bestimmen, was mit den Gütern, die ihm gehören, nach seinem Tode geschehen soll, vielmehr bestimmt darüber zunächst einmal das Gesetz, mit den Vorschriften über die Vererbung und den gesetzlichen Anordnungen, welche die Verteilung der Erbschaft an die Verwandten regeln. Hierin unterscheidet sich der Islam von den kapitalistischen Gesellschaften, die im allgemeinen die weitestmögliche Ausdehnung der Verfügungsgewalt des Eigentümers über seine Güter propagieren, und ihm das Recht übertragen, die Zukunft seiner Güter nach seinem Tode zu bestimmen, und diese wem er will und in welcher Weise ihm gutdünkt zu überlassen.

Tatsächlich ergibt sich diese zeitliche Befristung der persönlichen Rechte aus der allgemeinen Theorie der Verteilung der primären Produktionsmittel, welche die Grundlage für die gesetzliche Verankerung jener Rechte ist. So erfuhren wir bereits bei der Erörterung dieser Theorie[1], dass die persönlichen Rechte auf zwei Grundlagen beruhen können: Entweder schafft eine Person durch Erschließung eine Gelegenheit der Nutzung an einer natürlichen Produktionsquelle, die ihr als Ergebnis ihrer Arbeit gehört, und dadurch entsteht ihr ein Anrecht auf das Gut, derart, dass andere ihr diese Gelegenheit nicht streitig machen dürfen. Oder das Recht beruht auf der kontinuierlichen Nutzung eines bestimmten natürlichen Reichtums, die dem Betreffenden ein vorrangiges Recht an jenem Gut verleiht, solange er dessen Nutzung fortsetzt. Diese beiden Grundlagen bleiben nach dem Tode der betreffenden Person nicht mehr bestehen. So erlischt die Gelegenheit der Nutzung, die einer Person gehört, die z.B. Ödland neukultiviert hat, natürlicherweise mit deren Tod, da die Gelegenheit für diese Person endgültig nicht mehr besteht, und wenn eine andere Person sie sich zunutze macht, wäre das kein Diebstahl an der ersteren, da für diese die Gelegenheit mit ihrem Tod natürlicherweise hinfällig geworden ist. Genauso verhält es sich mit der kontinuierlichen Nutzung, die mit dem Tod unmöglich geworden ist. Somit verlieren die persönlichen Rechte ihre jeweilige Grundlage, welche die allgemeine Theorie vorschreibt.

Die zeitliche Befristung der privaten Rechte und Eigentums in Gestalt der Bestimmungen des islamischen Rechts [scharia] über die Vererbung ist also ein Teil des wirtschaftsideologischen Gebäudes, und mit der allgemeinen Theorie des Islam über die Verteilung verbunden. Diese zeitliche Befristung manifestiert sich in dem negativen Aspekt der Bestimmungen über die Vererbung, der festsetzt, dass die Verbindung des Eigentümers zu seinen Gütern mit seinem Tode endet. Dagegen ergibt sich der positive Aspekt der Bestimmungen über die Vererbung, der die neuen Eigentümer definiert und die Art und Weise der Verteilung der vererbten Güter unter ihnen regelt, nicht aus der allgemeinen Theorie über die Verteilung der primären Produktionsmittel, sondern steht im Zusammenhang mit anderen Theorien der islamischen Wirtschaftslehre, wie wir in späteren Kapiteln sehen werden.[2]

Wenn der Islam auch das private Eigentum zeitlich durch die Lebensdauer des Eigentümers begrenzt, und diesem testamentarische Willkür und die Entscheidungsbefugnis über die Verwendung seiner Güter nach seinem Tode verwehrt, nimmt er dennoch ein Drittel der Erbschaft davon aus, und erlaubt dem Eigentümer über die Verwendung eines Drittels von seinem Reichtum selbst zu bestimmen. Das widerspricht nicht den von uns festgestellten Tatsachen über die zeitliche Befristung des Eigentumsrechtes und deren Zusammenhang mit der allgemeinen Theorie, denn die gesetzgeberischen Textquellen, welche belegen, dass der Eigentümer über ein Drittel der Erbschaft bestimmen darf, weisen deutlich darauf hin, dass diese Erlaubnis Ausnahmecharakter hat und einen bestimmten Zweck verfolgt. So heißt es in einer Überlieferung von Ali ibn Yaqtin, dass er Imam Musa ibn Dschafar (a.) gefragt habe, über wie viel von seinem Vermögen ein Mensch bei seinem Tode verfügen dürfe, worauf dieser ihm antwortete: „Über ein Drittel, und ein Drittel ist viel.“ Und von Imam al-Sadiq (a.) wird überliefert, er habe gesagt, dass die testamentarische Vollmacht über ein Viertel oder ein Fünftel besser sei, als die über ein Drittel. Weiterhin gibt es eine Überlieferung, wonach Allah der Erhabene dem Menschen gesagt haben soll:

In drei Dingen zeigte Ich mich dir gegenüber langmütig: Ich hielt von dir verborgen, was deine Sippe nicht geheim halten würde, wenn sie es wüsste; Ich machte dich reich und bat dich um ein Darlehen, und du tatest nichts Gutes; Ich überließ dir bei deinem Tode die Vollmacht über ein Drittel deiner Hinterlassenschaft, und du tatest nichts Gutes.[3]

Das Drittel ist also im Lichte dieser Überlieferung ein Recht, von dem der Eigentümer besser nicht (für sich selbst) Gebrauch machen sollte, das für viel gehalten wird, und das als eine Gunst angesehen wird, die Allah seinem Diener bei dessen Tod großzügigerweise gewährt, und nicht als eine natürliche Verlängerung seiner zu Lebzeiten erworbenen Rechte. All das deutet darauf hin, dass die Erlaubnis für den Erblasser, über ein Drittel seines Vermögens frei zu verfügen, eine Ausnahmebestimmung darstellt, womit indirekt die von uns angeführte Aussage über die zeitliche Befristung des Eigentums und deren Zusammenhang mit der allgemeinen Theorie bestätigt wird. Indem sie diese Ausnahmebestimmung erließ, beabsichtigt das islamische Recht [scharia] weitere Errungenschaften im Sinne der sozialen Gerechtigkeit zu erzielen. Denn sie gibt dem Menschen, der von seiner ganzen diesseitigen Welt Abschied nimmt und einer neuen, jenseitigen Welt entgegensieht, die Gelegenheit, von seinem Reichtum für sein Schicksal in der neuen Welt Gebrauch zu machen. Und meistens ist es in den Momenten vor dem unvermeidlichen Übergang vom Leben in den Tod eines muslimischen Menschen so, dass die Flamme der materiellen Antriebe und zeitlichen Gelüste erlischt, was dem Menschen dabei hilft, sich Gedanken über neue Arten der Verwendung seines Vermögens zu machen, die für sein künftiges Schicksal und das erwartete jenseitige Leben, in das hinüberzugehen er sich vorbereitet, von Bedeutung sind. Diese neuen Verwendungsarten sind es, welche die oben angeführte Überlieferung als “Gutes“ umschreibt, und der Mensch, der von seinem testamentarischen Recht nicht in diesem Sinne Gebrauch macht, wird getadelt, weil sein Verhalten dem Zweck, für den ihm dieses Recht verliehen wurde, nicht entspricht.

Während der Islam das Recht, über ein Drittel seiner Hinterlassenschaft zu verfügen, gewährt, legt er gleichzeitig dem Betreffenden nahe, von dieser letzten Gelegenheit im Sinne seiner jenseitigen Zukunft Gebrauch zu machen, und dieses Drittel verschiedenen wohltätigen Zwecken zugunsten der Allgemeinheit zuzuführen, die ihren Beitrag zur Festigung der sozialen Gerechtigkeit leisten. Die zeitliche Begrenzung des Eigentums ist also die allgemeine Regel, und die Erlaubnis, über ein Drittel der Hinterlassenschaft frei zu verfügen, ist die Ausnahme, die durch Zielsetzungen im Zusammenhang mit anderen Aspekten der islamischen Wirtschaftsideologie motiviert ist.[4]

[1] Gemeint ist das Unterkapitel “Theorie“ im Kapitel „Theorie über die Verteilung der Produktionsmittel“.

[2] Siehe Kapitel “Entwicklung der Produktion“ und “Soziales Gleichgewicht“.

[3] Es handelt sich um eine Heilige Überlieferung [hadith qudsi] bzw. einen Heiligen Ausspruch. Es ist eine Spezialform einer Überlieferung. Die Besonderheit besteht darin, dass es sich um ein direktes Wort Allahs außerhalb des Heiligen Qur'an handelt. Während eine übliche Überlieferung eine Aussage oder Handlungsweise der Ahl-ul-Bait (a.) beschreibt bis hin zu den direkten Aussagen des Propheten Muhammad (s.), die er stets im Bewusstsein der Gegenwart Gottes geäußert hat, spricht Allah in einer Heiligen Überlieferung direkt zu den Menschen.

[4] Zuweilen wird das Drittel auch dafür verwendet, bestehende religionsrechtliche Schulden, wie z.B. die verpasste Pilgerfahrt, nachholen zu lassen, indem jemand mit dem Geld beauftragt wird.

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