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Muhammad Baqir al-Sadr

Vorurteile gegenüber Textquellen

Unter einer bestimmten Haltung gegenüber dem Text verstehen wir die persönliche Neigung des Untersuchenden, die einen großen Einfluss auf das Verständnis des Textes hat. Nehmen wir zur Verdeutlichung der Haltung zwei Personen an, die eine Textquelle untersuchen, wobei die eine psychologisch dahin tendiert, aus den Bestimmungen und Begriffsinhalten des Islam die sozialen Aspekte und das, was mit dem Staat zusammenhängt, herauszufinden, während die andere ihrer psychologischen Neigung nach sich für die Bestimmungen, die mit dem persönlichen Verhalten des Einzelnen zu tun haben, interessiert. Diese beiden Personen werden, auch wenn sie sich beide die selben Texte vornehmen, durch ihre Studien zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen; jeder von beiden wird auf dem Gebiet, das seiner psychologischen Neigung und seiner persönlichen Geisteshaltung entspricht, zu umfangreicheren Ergebnissen kommen, während die Merkmale desjenigen Aspekts des Islam, zu dem er sich psychologisch nicht hingezogen fühlt, ihm vielleicht verborgen bleiben. Die Wirkung dieser psychologischen Einstellung, die von der Persönlichkeit des Interpreten und nicht von den objektiven Erfordernissen der Textquelle diktiert wird, beschränkt sich nicht darauf, dass ihm einige Charakteristika der islamischen Gesetzgebung verborgen bleiben, sondern kann zu Irrtümern beim Verständnis des für die Gesetzgebung relevanten Textes und zu Fehlern bei der Herausarbeitung seines gesetzlichen Gehaltes führen. Wenn der Interpret dem Text seine eigene subjektive Haltung, die er im Voraus einnimmt, aufzwingen will, gelingt es ihm nicht, ihn objektiv und richtig zu interpretieren.

Es gibt in der Rechtswissenschaft [fiqh] zahlreiche Beispiele für diese Fehlerquelle; und vielleicht zeigen die verschiedenen Interpretationen des vom Propheten (s.) ausgesprochenen Verbots, überschüssiges Wasser und Weideland anderen vorzuenthalten, am deutlichsten, in welchem Maße die subjektive Einstellung des Interpreten die Auslegung des Textes beeinflusst. In der Überlieferung heißt es, dass der Prophet (s.) unter den Bürgern in Medina einen Schiedsspruch über die Bewässerung der Dattelpalmen fällte, nämlich dass niemand an der Nutzung eines Brunnens gehindert werden dürfe, und dass er unter den Beduinen entschied, dass weder jemandem der Überschuss an Wasser vorenthalten, noch überschüssiges Weideland verkauft werden dürfe. Dieses Verbot seitens des Propheten (s.), andere von der Nutzung überreichlich vorhandenen Wassers oder Weidelands abzuhalten, könnte nun Ausdruck einer allgemeinen gesetzlichen Bestimmung sein, die zu jeder Zeit und überall gültig wäre, wie das Verbot von Glücksspiel oder Alkoholgenuss. Genauso gut könnte es Ausdruck einer bestimmten Maßnahme sein, die der Prophet (s.) in seiner Eigenschaft als für die Wahrung der Interessen aller Muslime verantwortlicher Befehlshaber [wali-ul-amr], im Rahmen seiner Statthalterschaft [wilaya] und seiner Kompetenzen, ergriffen hat; dann wäre es keine allgemeine gesetzliche Bestimmung, sondern an bestimmte Umstände und Interessen der Allgemeinheit gebunden, über die der verantwortliche Befehlshaber [wali-ul-amr] jeweils zu befinden hat. Die objektiven Erfordernisse der Untersuchung verpflichten nun den Interpreten, beide Varianten gründlich abzuwägen, und unter der Berücksichtigung der Form des fraglichen Überlieferungs-Textes und vergleichbarer Textquellen sich für eine von beiden zu entscheiden. Aber diejenigen, die mit einer vorgefassten subjektiven Einstellung an den Text herangehen, sehen sich von Anfang an gezwungen, in jedem Überlieferungs-Text eine allgemeingültige gesetzliche Bestimmung zu entdecken. Sie sehen den Propheten (s.) in den schriftlichen Überlieferungen immer als Medium der Übermittlung von allgemeingültigen Bestimmungen an, und vernachlässigen seine aktive Rolle als verantwortlicher Befehlshaber [wali-ul-amr], daher interpretieren sie den besagten Text als eine allgemeinverbindliche Bestimmung.[1] Dieser spezielle Ansatz bei der Interpretation des Textes entsteht nicht aus dem Text selbst, sondern als Ergebnis eines eingefahrenen Denkschemas, nach dem sich der Interpret ein spezielles Bild vom Propheten (s.) macht, und einer bestimmten Methode über die Handlungen und Aussprüche des Propheten zu reflektieren, wobei der Interpret gewohnt ist, den Propheten (s.) immer als Übermittler unveränderlich gültiger Gesetze anzusehen, so dass ihm der andere Aspekt von dessen Persönlichkeit, nämlich die des Regenten verborgen bleibt, und mithin auch die Manifestation dieser Rolle in den verschiedenen Texten der Überlieferung.

[1] Und sie schlussfolgern auf dieser Grundlage weiter, dass es sich nicht um ein kategorisches Verbot, sondern nur um eine bedingte Missbilligung handelt, weil sie es für undenkbar halten, dass es dem Besitzer von reichlichem Wasser jederzeit und überall verboten sein sollte, andere an dessen Nutzung zu hindern. (Fußnote des Autors)

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