Vorurteile gegenüber Textquellen
Unter einer
bestimmten Haltung gegenüber dem Text verstehen wir die
persönliche Neigung des Untersuchenden, die einen großen
Einfluss auf das Verständnis des Textes hat. Nehmen wir zur
Verdeutlichung der Haltung zwei Personen an, die eine
Textquelle untersuchen, wobei die eine psychologisch dahin
tendiert, aus den Bestimmungen und Begriffsinhalten des Islam
die sozialen Aspekte und das, was mit dem Staat zusammenhängt,
herauszufinden, während die andere ihrer psychologischen
Neigung nach sich für die Bestimmungen, die mit dem
persönlichen Verhalten des Einzelnen zu tun haben,
interessiert. Diese beiden Personen werden, auch wenn sie sich
beide die selben Texte vornehmen, durch ihre Studien zu
unterschiedlichen Ergebnissen kommen; jeder von beiden wird
auf dem Gebiet, das seiner psychologischen Neigung und seiner
persönlichen Geisteshaltung entspricht, zu umfangreicheren
Ergebnissen kommen, während die Merkmale desjenigen Aspekts
des Islam, zu dem er sich psychologisch nicht hingezogen
fühlt, ihm vielleicht verborgen bleiben. Die Wirkung dieser
psychologischen Einstellung, die von der Persönlichkeit des
Interpreten und nicht von den objektiven Erfordernissen der
Textquelle diktiert wird, beschränkt sich nicht darauf, dass
ihm einige Charakteristika der islamischen Gesetzgebung
verborgen bleiben, sondern kann zu Irrtümern beim Verständnis
des für die Gesetzgebung relevanten Textes und zu Fehlern bei
der Herausarbeitung seines gesetzlichen Gehaltes führen. Wenn
der Interpret dem Text seine eigene subjektive Haltung, die er
im Voraus einnimmt, aufzwingen will, gelingt es ihm nicht, ihn
objektiv und richtig zu interpretieren.
Es gibt in der
Rechtswissenschaft [fiqh] zahlreiche Beispiele für
diese Fehlerquelle; und vielleicht zeigen die verschiedenen
Interpretationen des vom Propheten (s.) ausgesprochenen
Verbots, überschüssiges Wasser und Weideland anderen
vorzuenthalten, am deutlichsten, in welchem Maße die
subjektive Einstellung des Interpreten die Auslegung des
Textes beeinflusst. In der Überlieferung heißt es, dass der
Prophet (s.) unter den Bürgern in Medina einen Schiedsspruch
über die Bewässerung der Dattelpalmen fällte, nämlich dass
niemand an der Nutzung eines Brunnens gehindert werden dürfe,
und dass er unter den Beduinen entschied, dass weder jemandem
der Überschuss an Wasser vorenthalten, noch überschüssiges
Weideland verkauft werden dürfe. Dieses Verbot seitens des
Propheten (s.), andere von der Nutzung überreichlich
vorhandenen Wassers oder Weidelands abzuhalten, könnte nun
Ausdruck einer allgemeinen gesetzlichen Bestimmung sein, die
zu jeder Zeit und überall gültig wäre, wie das Verbot von
Glücksspiel oder Alkoholgenuss. Genauso gut könnte es Ausdruck
einer bestimmten Maßnahme sein, die der Prophet (s.) in seiner
Eigenschaft als für die Wahrung der Interessen aller Muslime
verantwortlicher Befehlshaber [wali-ul-amr], im Rahmen
seiner Statthalterschaft [wilaya] und seiner
Kompetenzen, ergriffen hat; dann wäre es keine allgemeine
gesetzliche Bestimmung, sondern an bestimmte Umstände und
Interessen der Allgemeinheit gebunden, über die der
verantwortliche Befehlshaber [wali-ul-amr] jeweils zu
befinden hat. Die objektiven Erfordernisse der Untersuchung
verpflichten nun den Interpreten, beide Varianten gründlich
abzuwägen, und unter der Berücksichtigung der Form des
fraglichen Überlieferungs-Textes und vergleichbarer
Textquellen sich für eine von beiden zu entscheiden. Aber
diejenigen, die mit einer vorgefassten subjektiven Einstellung
an den Text herangehen, sehen sich von Anfang an gezwungen, in
jedem Überlieferungs-Text eine allgemeingültige gesetzliche
Bestimmung zu entdecken. Sie sehen den Propheten (s.) in den
schriftlichen Überlieferungen immer als Medium der
Übermittlung von allgemeingültigen Bestimmungen an, und
vernachlässigen seine aktive Rolle als verantwortlicher
Befehlshaber [wali-ul-amr], daher interpretieren sie
den besagten Text als eine allgemeinverbindliche Bestimmung.
Dieser spezielle Ansatz bei der Interpretation des Textes
entsteht nicht aus dem Text selbst, sondern als Ergebnis eines
eingefahrenen Denkschemas, nach dem sich der Interpret ein
spezielles Bild vom Propheten (s.) macht, und einer bestimmten
Methode über die Handlungen und Aussprüche des Propheten zu
reflektieren, wobei der Interpret gewohnt ist, den Propheten
(s.) immer als Übermittler unveränderlich gültiger Gesetze
anzusehen, so dass ihm der andere Aspekt von dessen
Persönlichkeit, nämlich die des Regenten verborgen bleibt, und
mithin auch die Manifestation dieser Rolle in den
verschiedenen Texten der Überlieferung.