Unsere Wirtschaft

Unsere Wirtschaft / Iqtisaduna

Muhammad Baqir al-Sadr

Prinzip der wirtschaftlichen Freiheit in begrenztem Rahmen

Der zweite Grundpfeiler der islamischen Wirtschaft ist eine begrenzte Freiheit auf wirtschaftlicher Ebene – umrissen durch die ideellen und moralischen Werte, an die der Islam glaubt – die den einzelnen Mitgliedern der Gesellschaft zuerkannt wird. Bei diesem Grundprinzip finden wir ebenfalls deutliche Unterschiede zwischen der islamischen Wirtschaft und der kapitalistischen bzw. sozialistischen Wirtschaft. Denn während unter der kapitalistischen Wirtschaftsordnung der Einzelne über unbegrenzte Freiheiten verfügt, und während die sozialistische Wirtschaft die Freiheiten aller unterdrückt ... nimmt der Islam einen Standpunkt ein, welcher der allgemeinen Natur des Menschen gerecht wird, und erlaubt es den Einzelnen, von ihren Freiheiten in einem Rahmen von verbindlichen Werten und Idealen Gebrauch zu machen, der die Freiheit läutert und verfeinert, und sie zu einem Instrument des Guten für die ganze Menschheit macht. Der Islam begrenzt die gesellschaftliche Freiheit im wirtschaftlichen Bereich auf zweierlei Art:

·       Erstens: Durch die Selbstkontrolle, die aus den Tiefen der Seele entspringt, und ihre Kraft und Wirksamkeit aus der spirituellen und geistigen Komposition der islamischen Persönlichkeit bezieht.

·       Zweitens: Durch die objektive Kontrolle in Gestalt einer äußeren Kraft, die das soziale Verhalten begrenzt und regelt.

Die Selbstkontrolle wird naturgemäß durch die besondere Erziehung herangebildet, die der Islam jedem Einzelnen in einer islamischen Gesellschaft, d.h. einer Gesellschaft, in welcher der Islam alle Bereiche des Lebens bestimmt, angedeihen lässt. Denn die ideellen und spirituellen Leitlinien, nach denen der Islam die islamische Persönlichkeit formt, wenn ihm die Gelegenheit gegeben wird, das gesellschaftliche Leben ungehindert zu beeinflussen und die Geschichte nach seinen Prinzipien zu gestalten ... entfalten dann eine enorme ideelle Kraft und große Wirksamkeit, indem sie die Freiheit, die jedem einzelnen Menschen der islamischen Gesellschaft gegeben ist, auf natürliche und freiwillige Weise beschränken und ihr eine verfeinerte, angemessene Zielrichtung geben, ohne dass der Einzelne irgendwelche Beeinträchtigung seiner Freiheit empfindet, denn die Beschränkungen stehen im Einklang mit seiner eigenen seelisch-geistigen Natur und er sieht sie nicht als einengend an. Darum ist die Selbstkontrolle in Wahrheit gar keine Beschränkung der Freiheit, sondern ein innerer Entwicklungsprozess des freien Menschen, der seinen Charakter so formt, dass die Freiheit ihren wahren Zweck erfüllen kann. Diese innerliche Selbstkontrolle hat die Natur und den Charakter der islamischen Gesellschaft mit eindrucksvollem Erfolg und großer Wirksamkeit geprägt, und obwohl die Phase der vollkommenen Praktizierung des Islam kurz war, hat sie Früchte getragen und der Menschheit beispielhaft ihre idealen und erhabenen Möglichkeiten vor Augen geführt, und ihr ein reiches spirituelles Erbe von Gefühlen der Gerechtigkeit, der Güte und der Wohltätigkeit geschenkt. Und wenn es diesem Modell bestimmt gewesen wäre, anzudauern und über einen längeren Zeitraum der menschlichen Geschichte weiterzubestehen als die tatsächliche kurze historische Phase, dann hätte es die Fähigkeit des Menschen zur Stellvertreterschaft Allahs auf Erden beweisen können, hätte eine neue Welt, erfüllt von Gefühlen der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, geschaffen, und hätte aus der menschlichen Seele die Elemente des Bösen und die Antriebe der Ungerechtigkeit und Verderbnis so weit wir irgend möglich beseitigt. Abgesehen von den erwähnten Konsequenzen der Selbstkontrolle konnte sie allein Rechtschaffenheit und moralisch gute Taten in der islamischen Gesellschaft gewährleisten, nachdem der Islam seine lebendige Praxis, seine politische Führungsrolle und seine Funktion als soziales Leitbild verloren hatte. Und obwohl sich die Muslime vom Geist dieses “Führungsmodells“ zeitlich viele Jahrhunderte entfernt haben, und geistig in dem Maße, wie ihr geistig seelisches Niveau gesunken ist, und sich an verschiedene andere Spielarten des gesellschaftlichen und politischen Lebens gewöhnt haben ... trotzt alledem spielt die moralische Selbstkontrolle, deren Anlage auf die Zeit der vollkommenen Praktizierung des Islam zurückgeht, eine positive und aktive Rolle, indem sie rechtschaffenes und gutes Handeln gewährleiste, wie etwa das Zahlen der Almosenabgabe [zakat][1] und anderer religiöser Abgaben, und die aktive Mitwirkung an der Verwirklichung der islamischen Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit. Wie bedeutend wären angesichts dieser Tatsache erst die Erfolge gewesen, wenn jene Muslime unter einer vollkommenen islamischen Ordnung gelebt hätten, und ihre Gesellschaft eine vollkommene Verkörperung des Islam, seiner Ideen, seiner Werte und seiner Politik, d.h. ein praktisches Spiegelbild seiner Leitbilder und Ideale gewesen wäre!

Unter objektiver Kontrolle der Freiheit verstehen wir die Grenzen, die den Individuen der islamischen Gesellschaft von außen gesetzt werden, durch die Macht des religiösen Gesetzes. Diese objektiven Einschränkungen der Freiheit im Islam gründen sich auf das Prinzip, dass der einzelne Mensch nicht die Freiheit zu Handlungen hat, welche das heilige islamische Recht [scharia] ausdrücklich verbietet, nämlich solche Aktivitäten, die den Idealen und Zielen, an deren Verbindlichkeit der Islam glaubt, widersprechen. Dieses Prinzip wird im Islam auf folgende Weise durchgesetzt:

·       Erstens: Das islamische Recht [scharia] verbürgt in ihren allgemeinen Rechtsquellen das ausdrückliche Verbot einer Anzahl von wirtschaftlichen Aktivitäten, die – nach islamischer Ansicht – hinderlich bei der Verwirklichung der Ideale und Werte des Islam sind, wie Zinsgeschäfte [riba] und Monopolisierung [ihtikar] und andere.

·       Zweitens: Das islamische Recht [scharia] setzt das Prinzip der Aufsicht des “verantwortlichen Befehlshabers“ [wali-ul-amr][2] über die allgemeinen gesellschaftlichen Aktivitäten und das der Eingriffskompetenz des Staates zum Schutz und zur Wahrung des Allgemeinwohls fest, was die Handlungsfreiheit der einzelnen Bürger einschränkt.

Und der Islam machte dieses Prinzip verbindlich, um die Verwirklichung seiner Ideale und Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit für alle Zeiten zu gewährleisten. Denn die Erfordernisse der sozialen Gerechtigkeit, die der Islam vertritt, ändern sich entsprechend den wirtschaftlichen Bedingungen der Gesellschaft und der materiellen Lage, in der sie sich jeweils befindet. So könnte eine gewisse Maßnahme zu bestimmten Zeiten schädlich für die Gesellschaft und ihre Erfordernisse sein, eine Angelegenheit, die sich nicht in festen konstitutionellen Formeln vorherbestimmen lässt. Der einzige Weg ist der, dem verantwortlichen Befehlshaber [wali-ul-amr] Vollmacht zu geben, seine Aufgaben als beaufsichtigende und lenkende Autorität wahrzunehmen und gemäß dem islamischen Ideal der Gesellschaft zu entscheiden, inwieweit die Bürger die Freiheit haben, die vom religiösen Gesetz als “indifferent“ [mubah][3] bewerteten Dingen zu tun und zu lassen.

Die gesetzgeberische Quelle für das Prinzip der Aufsicht und der staatlichen Eingriffe ist der Qur´an, mit Allahs Wort: „... gehorcht Allah und gehorcht dem Gesandten und Vorderen des Gebots unter euch.“[4] Dieses Zitat weist deutlich auf die Notwendigkeit, dem verantwortlichen Befehlshaber [wali-ul-amr] zu gehorchen hin, und es besteht unter den Muslimen Einigkeit, dass “den Vorderen des Gebots (bzw. des Befehls)“ die legitime Herrschergewalt in der islamischen Gesellschaft zukommt, auch wenn sie verschiedener Meinung über deren Definition und deren geforderte Eigenschaften sind. Die oberste islamische Autorität hat also das Recht, Gehorsam zu fordern und einzugreifen, um die Gesellschaft vor Schaden zu bewahren und das islamische Gleichgewicht zu verwirklichen, unter der Voraussetzung, dass diese Eingriffe im Rahmen der Bestimmungen des heiligen islamischen Rechts [scharia] geschehen. So ist es dem Staat, bzw. dem verantwortlichen Befehlshaber [wali-ul-amr], nicht möglich, den Zinsprofit zu erlauben, Täuschungen zu legalisieren, die Bestimmungen des Erbrechtes außer Kraft zu setzen oder Eigentum, das in der Gesellschaft nach islamischen Prinzipien garantiert wird, abzuerkennen. Es ist dem verantwortlichen Befehlshaber [wali-ul-amr] im Islam lediglich gestattet, hinsichtlich der gemäß dem islamischen Rechts [scharia] “indifferenten“ Handlungen und Verhaltensweisen einzugreifen und sie mit Blick auf das islamische Ideal jeweils ad hoc zu verbieten oder auch zu befehlen.

Beispielsweise sind die Urbarmachung von Land, die Ausbeutung von Bodenschätzen, das Anlegen von Bewässerungskanälen und andere Unternehmungen vom islamischen Recht [scharia] im allgemeinen erlaubt, und es definiert für jede dieser Aktivitäten ihre jeweiligen legalen Konsequenzen. Wenn dann der verantwortliche Befehlshaber [wali-ul-amr] es im Rahmen seiner Kompetenzen für richtig hält, irgendwelche Unternehmungen dieser Art zu verbieten oder anzuordnen, so steht ihm das zu, entsprechend dem oben erwähnten Prinzip. Auch der Prophet Muhammad (s.) pflegte entsprechend diesem Prinzip zu handeln, wenn es notwendig war und die Situation sein Eingreifen und seine Lenkung erforderte. Ein Beispiel dafür geht aus authentischen Überlieferungen [hadith] hervor, wonach der Prophet unter den Bürgern von Medina über die Bewässerung der Dattelpalmen entschied, dass niemand an der Nutzung der Quellen gehindert werden dürfe, und wonach er unter den Beduinen entschied, dass niemand von der Nutzung reichlich vorhandenen Wassers und damit von überzähligem Weideland ausgeschlossen werden dürfe; und er sagte: „Kein Schaden und keine Schädigung.“[5]

Für die muslimischen Rechtsgelehrten ist es nun klar, dass es nach dem heiligen islamischen Recht [scharia] nicht grundsätzlich verboten ist, andere von der Nutzung einer Sache oder überreichlichem Wasser auszuschließen. Und wir wissen in diesem Zusammenhang, dass der Prophet (s.) den Leuten von Medina die Ausschließung anderer von der Nutzung des überschüssigen Wassers nicht in seiner Eigenschaft als Gesandter Allahs und Übermittler der allgemeingültigen Bestimmungen des islamischen Rechts [scharia] verboten hat, sondern in seiner Eigenschaft als verantwortlicher Befehlshaber [wali-ul-amr], der dafür verantwortlich ist, das wirtschaftliche Leben der Gemeinschaft zu regeln und es in eine Richtung zu lenken, die nicht zum Allgemeinwohl, so wie er es einschätzt, in Widerspruch gerät. Dies ist vielleicht der Grund, weshalb in der Überlieferung von dem Schiedsspruch und nicht dem Verbot [nahy] des Propheten (s.) die Rede ist, wenn man bedenkt, dass der Schiedsspruch eine Art von Befehl [hukm] ist.

Wir werden dieses Prinzip – das Prinzip der Aufsicht und der Eingriffe des verantwortlichen Befehlshabers [wali-ul-amr] – in einem anderen Kapitel[6] noch ausführlicher, deutlicher und genauer umrissen behandeln.

[1] Zakat ist eine Art Vermögenssteuer für definierte Güter, die für arme Menschen bestimmt ist. Der allgemein übliche Vergleich mit Almosen ist hingegen nicht angebracht, da Zakat definierten Regeln unterliegt. Der Wortstamm im Arabischen geht auf “Läuterung“ zurück, so dass die Zakat als Läuterungsgabe verstanden werden kann.

[2] Ayatollah Sadr schreibt hier über ein Prinzip, das erst zwei Jahrzehnte später im Sieg der Islamischen Revolution im Iran mit der “Statthalterschaft des Rechtsgelehrten“ [wilayat-ul-faqih] praktisch umgesetzt wird.

[3] Indifferent ist eine islamische Einstufung bzw. Wertung zwischen den erlaubten und verbotenen Handlungen, wobei eine grundsätzliche Einteilung in fünf Stufen erfolgt: 1. religiöse Verpflichtung [wadschib], 2. empfohlen [mustahab], 3. indifferent [mubah], 4. verpönt [makruh], 5. verboten [haram]. Als “indifferent“ wird eine Handlung beschrieben, die zwar erlaubt ist, deren Alternative aber keinen Wertunterschied darstellt, z.B. ob man Reis oder Nudeln speist.

[4] Heiliger Qur´an: Sure 4, Vers 59

[5] Al-Wasa´il al-Schia, Band 3, „Kitab Ihya´al al-Mawat“, Variante des Prinzips „unterdrückt nicht und lasst euch nicht unterdrücken aus dem Heiligen Qur’an, vgl. 2:279

[6] Siehe Kapitel: “Das Prinzip der Eingriffe des Staates“

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