Historischer Materialismus und soziale Frage
Der Marxismus sagt in diesem Zusammenhang
auf der Grundlage des historischen Materialismus: Überlasst
das Problem sich selbst, denn die historischen
Gesetzmäßigkeiten verbürgen, dass es eines Tages gelöst sein
wird. Besteht das Problem nicht darin, dass der persönliche
Antrieb nicht die Interessen und das Glück der ganzen
Gemeinschaft zustande bringen kann, weil er aus den
persönlichen Interessen entsteht, die sich meistens von den
Interessen der Allgemeinheit unterscheiden? Dies ist kein
Problem, sondern eine Tatsache in allen menschlichen
Gesellschaften seit der frühen Geschichte. Der ganze Verlauf
der Geschichte wurde durch den persönlichen Antrieb bestimmt,
der sich in der Gesellschaft in Klassenform manifestierte, und
zwar indem die persönlichen Antriebe der verschiedenen Klassen
ihre Konflikte austrugen, wobei immer der persönliche Antrieb
derjenigen Klasse den Sieg davon trug, die im folgenden über
die Produktionsmittel verfügte. So bleibt der persönliche
Antrieb zwangsläufig die beherrschende Kraft, bis die
historischen Gesetzmäßigkeiten das Problem radikal lösen,
durch die Errichtung der klassenlosen Gesellschaft, in der die
eigennützigen persönlichen Antriebe verschwinden und an ihren
Platz gemeinschaftliche Motive treten, entsprechend den
Auswirkungen des kollektiven Eigentums.
Wir haben bereits in unserer Untersuchung
des historischen Materialismus erklärt, dass derartige
Prophezeiungen des historischen Materialismus auf keiner
wissenschaftlichen Grundlage stehen, und dass man von ihnen
keine entscheidende Lösung des Problems erwarten kann. Das
Problem bleibt also bestehen, nämlich das Problem einer
Gemeinschaft, in der der persönliche Antrieb die herrschende
Kraft darstellt, und solange das letzte Wort dem persönlichen
Antrieb, wie er jedem einzelnen durch seine persönlichen
Interessen diktiert wird, vorbehalten bleibt, wird die Macht
im Staat den Interessen derer dienen, die sie ausüben. Wer
verbürgt dann inmitten des Chaos der gegeneinander gerichteten
Egoismen, dass im Sinne des Allgemeinwohls Gesetze geschaffen
werden, die den “sozialen Interessen“ der Menschheit gerecht
werden, solange diese Gesetze ein Ausdruck der Interessen der
herrschenden Macht in der Gesellschaft sind?! Wir können nicht
erwarten, dass eine gesellschaftliche Institution wie der
Regierungsapparat das Problem mit Gewalt löst und die
eigennützigen Motive in ihre Schranken verweist, weil dieser
Apparat aus der Gesellschaft selbst hervorgeht. Das Problem
ist eines der gesamten Gesellschaft, weil in ihr der
persönliche Antrieb die dominierende Kraft ist. All das führt
uns zu dem Schluss, dass der persönliche Antrieb der Ursprung
des sozialen Problems ist, und dass er im Menschen fest
verwurzelt ist, weil er auf dessen Eigenliebe zurückgeht.
Ist die Menschheit also dazu verdammt,
immerfort mit diesem gesellschaftlichen Problem zu leben, das
durch ihre eigennützigen Antriebe und ihre Natur [fitra]
entsteht, und an dieser Natur zu leiden?! Und ist die
Menschheit von der universellen Ordnung ausgenommen, in der
jedes Wesen mit den Fähigkeiten zur Vervollkommnung
ausgestattet und mit einer Natur geschaffen ist, die es zu
seiner eigenen Vervollkommnung treibt, was durch
wissenschaftliche Erkenntnisse ebenso wie durch philosophische
Beweisführung bestätigt wird?!
Hier setzt die Bedeutung der Religion als
einzige Lösung des Problems ein, denn die Religion ist der
einzige Rahmen, innerhalb dessen die soziale Frage ihre
angemessene Lösung finden kann. Denn die Lösung beruht darauf,
die persönlichen Antriebe und das Wohl der Allgemeinheit
miteinander in Einklang zu bringen, und diese “Vermittlung“
ist es, was die Religion für die Menschheit leistet, weil sie
die spirituelle Kraft darstellt, die den Menschen von seinen
kurzfristigen Genüssen ablenken kann, so dass er in seinem
irdischen Leben, in der Hoffnung auf immerwährendes Glück,
darauf verzichtet, und die ihn dazu treiben kann, sein eigenes
Leben zu opfern, durch den Glauben, dass dieses begrenzte
Leben, das er opfert, nur die Vorbereitung für eine ewige
Existenz und ein immerwährendes Leben ist; und sie kann in
seinem Geist eine neue Einstellung zu seinen persönlichen
Interessen und eine höhere Vorstellung von Gewinn und Verlust
als die Begriffe des materiellen Geschäftslebens bewirken.
Dann wird Mühsal ein Weg zum Genuss, und Verlust zugunsten der
Gemeinschaft führt zum Gewinn, und Schutz der Interessen der
Anderen bedeutet Bewahrung der Eigeninteressen in einem
höheren, erhabeneren Leben. So werden die Interessen der
Allgemeinheit mit den persönlichen Motiven verknüpft, indem
sie als Vorteile für den Einzelnen in religiöser Hinsicht
angesehen werden.
Im Heiligen Qur´an finden wir an
zahlreichen Stellen eindrucksvolle Bestätigungen für diese
Interpretation, die alle zum Ziel haben, diese neue
Einstellung zu seinen Interessen und zu seinem persönlichen
Gewinn zu schaffen. So sagt der Heilige Qur´an:
„Wer Gutes tut, ob Mann oder Frau,
und gläubig ist, jene gehen ins Paradies ein und werden im
Übermaß versorgt.“
„Wer Gutes tut, der tut es für sich
selbst, und wer Schlechtes tut, der tut es gegen sich selbst.“
„An jenem Tage des jüngsten
Gerichts werden die Menschen in zerstreuten Gruppen
hervorkommen, um ihre Taten zu sehen. Und wer nur ein Körnchen
Gutes getan hat, wird es sehen. Und wer ein Körnchen
Schlechtes getan hat, wird es sehen.“
„Glaube ja nicht, dass diejenigen,
die für die Sache Allahs erschlagen wurden, tot sind! Nein,
sie leben und werden von ihrem Herrn versorgt.“
„Es
ziemt sich nicht für Angehörige von Medina, noch für die
Wüstenaraber, die sie umringen, hinter Allahs Gesandten
zurückzubleiben und nicht, dass sie ihre Seelen vor seiner
Seele wünschen. Dies, weil weder Durst noch Mühsal noch
Hungriggelassensein sie auf Allahs Weg erleiden, auch betreten
sie keinen Weg, der die Nichtmuslime
erzürnt, noch fügen sie einem Feind Leid zu, ohne dass ihnen
ein verdienstliches Werk angeschrieben würde. Wahrlich, Allah
lässt den Lohn der Wohltäter nicht verloren gehen. Und sie
spenden keine Summe, sei sie groß oder klein, und sie
durchziehen kein Tal, ohne dass es ihnen angeschrieben würde,
auf dass Allah ihnen wohlgefälliger das vergelte, was sie
getan haben.“
Diese eindrucksvollen Bilder zeigt die
Religion in den Zeilen des Heiligen Qur´ans, um die Verbindung
zwischen den persönlichen Motiven und einer moralisch guten
Lebensführung herzustellen und das Verständnis von
individuellen Interessen so weiterzuentwickeln, dass der
Einzelne glaubt, seine persönlichen Interessen und das wahre
Allgemeinwohl der ganzen Menschheit, wie es der Islam
definiert, seien miteinander verknüpft. Die Religion spielt
also die Hauptrolle bei der Lösung des sozialen Problems,
indem sie die persönlichen Motive für die Sache des
Allgemeinwohls mobilisiert. Damit erkennen wir, dass die
Religion eine naturgegebene Notwendigkeit für die Menschheit
ist, denn wenn die menschliche Natur [fitra]
verantwortlich für die persönlichen eigennützigen Antriebe
ist, aus denen das soziale Problem entsteht, dann muss diese
auch die Möglichkeit zur Lösung des Problems beinhalten, damit
der Mensch nicht in einer schlechteren Lage ist, als die
übrigen Wesen, die sämtlich von Natur aus mit Fähigkeiten
ausgestattet sind, ihre jeweilige besondere Vollkommenheit
anzustreben. Und diese Fähigkeiten, die die Menschheit
naturgemäß zur Lösung des Problems besitzt, sind gerade der
natürliche Hang [gariza]
zur Religiosität und die natürliche Bereitschaft, das eigene
Leben mit der Religion zu verknüpfen und innerhalb des von ihr
vorgegebenen Rahmens zu gestalten.
Die menschliche Natur hat also zwei
Seiten: Einerseits wird das Verhalten des Menschen von
eigennützigen Antrieben diktiert, aus denen das größte Problem
für das menschliche gesellschaftliche Zusammenleben entsteht
(das Problem des Widerspruchs zwischen jenen Antrieben und dem
wahren Allgemeinwohl der menschlichen Gesellschaft).
Anderseits besitzt der Mensch die Fähigkeit, dieses Problem zu
überwinden, durch die natürliche Neigung, sich der Religion
zuzuwenden und sie zu einem festen Bestandteil seines Lebens
zu machen, in einer Form, die die persönlichen Motive und die
Interessen der Allgemeinheit miteinander in Einklang bringt.
So trägt die menschliche Natur [fitra] ihren Teil dazu
bei, den Menschen auf den Weg seiner Vervollkommnung zu
führen. Wenn sie dagegen andauernd diese Schwierigkeiten
auslösen würde, ohne den Menschen mit der Fähigkeit zu deren
Überwindung auszustatten, bedeutete das, jedes menschliche
Wesen wäre Gefangener dieses Problems, unfähig zu seiner
Lösung, und Kraft seiner Natur dazu getrieben, seine
Komplikationen und misslichen Auswirkungen immer wieder
heraufzubeschwören. Dies stellt der Heilige Qur´an mit aller
Deutlichkeit fest, mit Allahs Wort:
„Wende dich der Religion zu als
wahrer Gläubiger. Dies ist die natürliche Verhaltensweise, für
welche Allah die Menschen geschaffen hat, und du wirst in
Allahs Schöpfung keine Veränderung von der Regel finden. Dies
ist die machtvolle Religion, aber die meisten Menschen wissen
es nicht.“
Dieser edle Vers stellt fest:
·
Erstens: Dass die Religion zur
menschlichen Natur gehört, wie sie allen Menschen gemeinsam
ist, und dass sich Allahs Schöpfung nicht verändert.
·
Zweitens: Dass die Religion, für
die die Menschheit geschaffen wurde, nur die “wahre Religion“
ist, d.h. die Religion der reinen Einheit Gottes, denn nur die
Religion des Ein-Gott-Bekenntnisses [tauhid] ist in der
Lage, die größte Aufgabe der Religion überhaupt zu erfüllen,
nämlich der Menschheit einen Handlungsmaßstab und eine
Gesellschaftsordnung zu schaffen, durch die das Wohl der
Allgemeinheit gewahrt wird. Hingegen sind die Religionen des
Polytheismus [schirk] und der “verschiedenen Herren“,
wie der Heilige Qur´an sie bezeichnet, in Wahrheit nur
Folgeerscheinungen des Problems und können es nicht beheben,
denn es verhält sich so, wie Josef (a.) zu seinen
Mitgefangenen sagte: „Was ihr an Seiner statt anbetet
sind nichts als Namen, die ihr und eure Vorväter erfunden
habt, und Allah hat dafür keine Vollmacht herabgesandt.“Das
bedeutet, sie sind aus den persönlichen Motiven
hervorgegangen, die den Menschen die Annahme von
polytheistischen Religionen im Einklang mit ihren
individuellen Interessen nahelegten, womit sie ihre natürliche
Neigung zu der “wahren“ [hanif] Religion auf
unnatürliche Weise verfälschten, und verhinderten, dass ihre
ursprünglichen religiösen Neigungen in die richtigen Bahnen
gelenkt wurden.
·
Drittens: Dass die “wahre“
Religion, für die die Menschheit ihrer Natur nach geschaffen
ist, sich dadurch auszeichnet, dass sie eine auf das Leben
machtvoll einwirkende Religion ist („Diese
ist die beständige Religion...“),
die in der Lage ist, es zu dominieren und es nach ihrem Rahmen
zu formen. Dagegen kann eine Religion, die nicht zur Führung
und Lenkung des menschlichen Lebens autorisiert ist, dem in
der Natur des Menschen angelegten Bedürfnis nach der Religion
nicht voll gerecht werden und das Grundproblem des
menschlichen Zusammenlebens nicht überwinden.
Fassen wir einige Begriffsinhalt des
Islam von der Religion und dem Leben zusammen: Das
Grundproblem für das menschliche Zusammenleben entspringt der
Natur des Menschen [fitra]. Denn es handelt sich um das
Problem der eigennützigen persönlichen Motivationen, die dem
Allgemeinwohl widersprechen und entgegenwirken. Ihre
natürliche Veranlagung stellt der Menschheit gleichzeitig ein
Gegenmittel zur Verfügung. Dieses Gegenmittel ist nur die
wahre und machtvolle Religion, denn sie allein ist in der
Lage, die persönlichen Motive aller Menschen miteinander in
Einklang zu bringen und für die ganze Gemeinschaft
einheitliche Interessen und Handlungsmaßstäbe zu schaffen.
Daher kann für die Regelung des gesellschaftlichen Lebens
nicht auf eine wahre und machtvolle Religion verzichtet
werden. Und die Gesellschaftsordnung mit ihren verschiedenen (Lebens-)bereichen
muss dem Rahmen der Religion, die in der Lage ist, der
natürlichen Veranlagung des Menschen gerecht zu werden und das
Grundproblem in seinem gesellschaftlichen Leben zu überwinden,
angepasst werden.
In diesem Lichte erkennen wir, dass die
islamische Wirtschaftsordnung, als Teil einer umfassenden
Ordnung des gesellschaftlichen Lebens, in den allgemeinen
Rahmen dieser Ordnung, nämlich die Religion, eingepasst sein
muss. Die Religion ist also der allgemeine Rahmen unserer
ideologischen Wirtschaftslehre. Und die Aufgabe der Religion –
als Rahmen der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung im Islam
– ist es, die persönlichen Motive und Interessen einerseits
und das wahre Allgemeinwohl der menschlichen Gesellschaft – so
wie der Islam es sieht – anderseits miteinander in Einklang zu
bringen.