Unsere Wirtschaft

Unsere Wirtschaft / Iqtisaduna

Muhammad Baqir al-Sadr

Historischer Materialismus und soziale Frage

Der Marxismus sagt in diesem Zusammenhang auf der Grundlage des historischen Materialismus: Überlasst das Problem sich selbst, denn die historischen Gesetzmäßigkeiten verbürgen, dass es eines Tages gelöst sein wird. Besteht das Problem nicht darin, dass der persönliche Antrieb nicht die Interessen und das Glück der ganzen Gemeinschaft zustande bringen kann, weil er aus den persönlichen Interessen entsteht, die sich meistens von den Interessen der Allgemeinheit unterscheiden? Dies ist kein Problem, sondern eine Tatsache in allen menschlichen Gesellschaften seit der frühen Geschichte. Der ganze Verlauf der Geschichte wurde durch den persönlichen Antrieb bestimmt, der sich in der Gesellschaft in Klassenform manifestierte, und zwar indem die persönlichen Antriebe der verschiedenen Klassen ihre Konflikte austrugen, wobei immer der persönliche Antrieb derjenigen Klasse den Sieg davon trug, die im folgenden über die Produktionsmittel verfügte. So bleibt der persönliche Antrieb zwangsläufig die beherrschende Kraft, bis die historischen Gesetzmäßigkeiten das Problem radikal lösen, durch die Errichtung der klassenlosen Gesellschaft, in der die eigennützigen persönlichen Antriebe verschwinden und an ihren Platz gemeinschaftliche Motive treten, entsprechend den Auswirkungen des kollektiven Eigentums.

Wir haben bereits in unserer Untersuchung des historischen Materialismus erklärt, dass derartige Prophezeiungen des historischen Materialismus auf keiner wissenschaftlichen Grundlage stehen, und dass man von ihnen keine entscheidende Lösung des Problems erwarten kann. Das Problem bleibt also bestehen, nämlich das Problem einer Gemeinschaft, in der der persönliche Antrieb die herrschende Kraft darstellt, und solange das letzte Wort dem persönlichen Antrieb, wie er jedem einzelnen durch seine persönlichen Interessen diktiert wird, vorbehalten bleibt, wird die Macht im Staat den Interessen derer dienen, die sie ausüben. Wer verbürgt dann inmitten des Chaos der gegeneinander gerichteten Egoismen, dass im Sinne des Allgemeinwohls Gesetze geschaffen werden, die den “sozialen Interessen“ der Menschheit gerecht werden, solange diese Gesetze ein Ausdruck der Interessen der herrschenden Macht in der Gesellschaft sind?! Wir können nicht erwarten, dass eine gesellschaftliche Institution wie der Regierungsapparat das Problem mit Gewalt löst und die eigennützigen Motive in ihre Schranken verweist, weil dieser Apparat aus der Gesellschaft selbst hervorgeht. Das Problem ist eines der gesamten Gesellschaft, weil in ihr der persönliche Antrieb die dominierende Kraft ist. All das führt uns zu dem Schluss, dass der persönliche Antrieb der Ursprung des sozialen Problems ist, und dass er im Menschen fest verwurzelt ist, weil er auf dessen Eigenliebe zurückgeht.

Ist die Menschheit also dazu verdammt, immerfort mit diesem gesellschaftlichen Problem zu leben, das durch ihre eigennützigen Antriebe und ihre Natur [fitra] entsteht, und an dieser Natur zu leiden?! Und ist die Menschheit von der universellen Ordnung ausgenommen, in der jedes Wesen mit den Fähigkeiten zur Vervollkommnung ausgestattet und mit einer Natur geschaffen ist, die es zu seiner eigenen Vervollkommnung treibt, was durch wissenschaftliche Erkenntnisse ebenso wie durch philosophische Beweisführung bestätigt wird?!

Hier setzt die Bedeutung der Religion als einzige Lösung des Problems ein, denn die Religion ist der einzige Rahmen, innerhalb dessen die soziale Frage ihre angemessene Lösung finden kann. Denn die Lösung beruht darauf, die persönlichen Antriebe und das Wohl der Allgemeinheit miteinander in Einklang zu bringen, und diese “Vermittlung“ ist es, was die Religion für die Menschheit leistet, weil sie die spirituelle Kraft darstellt, die den Menschen von seinen kurzfristigen Genüssen ablenken kann, so dass er in seinem irdischen Leben, in der Hoffnung auf immerwährendes Glück, darauf verzichtet, und die ihn dazu treiben kann, sein eigenes Leben zu opfern, durch den Glauben, dass dieses begrenzte Leben, das er opfert, nur die Vorbereitung für eine ewige Existenz und ein immerwährendes Leben ist; und sie kann in seinem Geist eine neue Einstellung zu seinen persönlichen Interessen und eine höhere Vorstellung von Gewinn und Verlust als die Begriffe des materiellen Geschäftslebens bewirken. Dann wird Mühsal ein Weg zum Genuss, und Verlust zugunsten der Gemeinschaft führt zum Gewinn, und Schutz der Interessen der Anderen bedeutet Bewahrung der Eigeninteressen in einem höheren, erhabeneren Leben. So werden die Interessen der Allgemeinheit mit den persönlichen Motiven verknüpft, indem sie als Vorteile für den Einzelnen in religiöser Hinsicht angesehen werden.

Im Heiligen Qur´an finden wir an zahlreichen Stellen eindrucksvolle Bestätigungen für diese Interpretation, die alle zum Ziel haben, diese neue Einstellung zu seinen Interessen und zu seinem persönlichen Gewinn zu schaffen. So sagt der Heilige Qur´an:

Wer Gutes tut, ob Mann oder Frau, und gläubig ist, jene gehen ins Paradies ein und werden im Übermaß versorgt.[1]

Wer Gutes tut, der tut es für sich selbst, und wer Schlechtes tut, der tut es gegen sich selbst.[2]

An jenem Tage des jüngsten Gerichts werden die Menschen in zerstreuten Gruppen hervorkommen, um ihre Taten zu sehen. Und wer nur ein Körnchen Gutes getan hat, wird es sehen. Und wer ein Körnchen Schlechtes getan hat, wird es sehen.[3]

Glaube ja nicht, dass diejenigen, die für die Sache Allahs erschlagen wurden, tot sind! Nein, sie leben und werden von ihrem Herrn versorgt.[4]

Es ziemt sich nicht für Angehörige von Medina, noch für die Wüstenaraber, die sie umringen, hinter Allahs Gesandten zurückzubleiben und nicht, dass sie ihre Seelen vor seiner Seele wünschen. Dies, weil weder Durst noch Mühsal noch Hungriggelassensein sie auf Allahs Weg erleiden, auch betreten sie keinen Weg, der die Nichtmuslime[5] erzürnt, noch fügen sie einem Feind Leid zu, ohne dass ihnen ein verdienstliches Werk angeschrieben würde. Wahrlich, Allah lässt den Lohn der Wohltäter nicht verloren gehen. Und sie spenden keine Summe, sei sie groß oder klein, und sie durchziehen kein Tal, ohne dass es ihnen angeschrieben würde, auf dass Allah ihnen wohlgefälliger das vergelte, was sie getan haben.[6]

Diese eindrucksvollen Bilder zeigt die Religion in den Zeilen des Heiligen Qur´ans, um die Verbindung zwischen den persönlichen Motiven und einer moralisch guten Lebensführung herzustellen und das Verständnis von individuellen Interessen so weiterzuentwickeln, dass der Einzelne glaubt, seine persönlichen Interessen und das wahre Allgemeinwohl der ganzen Menschheit, wie es der Islam definiert, seien miteinander verknüpft. Die Religion spielt also die Hauptrolle bei der Lösung des sozialen Problems, indem sie die persönlichen Motive für die Sache des Allgemeinwohls mobilisiert. Damit erkennen wir, dass die Religion eine naturgegebene Notwendigkeit für die Menschheit ist, denn wenn die menschliche Natur [fitra] verantwortlich für die persönlichen eigennützigen Antriebe ist, aus denen das soziale Problem entsteht, dann muss diese auch die Möglichkeit zur Lösung des Problems beinhalten, damit der Mensch nicht in einer schlechteren Lage ist, als die übrigen Wesen, die sämtlich von Natur aus mit Fähigkeiten ausgestattet sind, ihre jeweilige besondere Vollkommenheit anzustreben. Und diese Fähigkeiten, die die Menschheit naturgemäß zur Lösung des Problems besitzt, sind gerade der natürliche Hang [gariza][7] zur Religiosität und die natürliche Bereitschaft, das eigene Leben mit der Religion zu verknüpfen und innerhalb des von ihr vorgegebenen Rahmens zu gestalten.

Die menschliche Natur hat also zwei Seiten: Einerseits wird das Verhalten des Menschen von eigennützigen Antrieben diktiert, aus denen das größte Problem für das menschliche gesellschaftliche Zusammenleben entsteht (das Problem des Widerspruchs zwischen jenen Antrieben und dem wahren Allgemeinwohl der menschlichen Gesellschaft). Anderseits besitzt der Mensch die Fähigkeit, dieses Problem zu überwinden, durch die natürliche Neigung, sich der Religion zuzuwenden und sie zu einem festen Bestandteil seines Lebens zu machen, in einer Form, die die persönlichen Motive und die Interessen der Allgemeinheit miteinander in Einklang bringt. So trägt die menschliche Natur [fitra] ihren Teil dazu bei, den Menschen auf den Weg seiner Vervollkommnung zu führen. Wenn sie dagegen andauernd diese Schwierigkeiten auslösen würde, ohne den Menschen mit der Fähigkeit zu deren Überwindung auszustatten, bedeutete das, jedes menschliche Wesen wäre Gefangener dieses Problems, unfähig zu seiner Lösung, und Kraft seiner Natur dazu getrieben, seine Komplikationen und misslichen Auswirkungen immer wieder heraufzubeschwören. Dies stellt der Heilige Qur´an mit aller Deutlichkeit fest, mit Allahs Wort:

Wende dich der Religion zu als wahrer Gläubiger. Dies ist die natürliche Verhaltensweise, für welche Allah die Menschen geschaffen hat, und du wirst in Allahs Schöpfung keine Veränderung von der Regel finden. Dies ist die machtvolle Religion, aber die meisten Menschen wissen es nicht.[8]

Dieser edle Vers stellt fest:

·       Erstens: Dass die Religion zur menschlichen Natur gehört, wie sie allen Menschen gemeinsam ist, und dass sich Allahs Schöpfung nicht verändert.

·       Zweitens: Dass die Religion, für die die Menschheit geschaffen wurde, nur die “wahre Religion“ ist, d.h. die Religion der reinen Einheit Gottes, denn nur die Religion des Ein-Gott-Bekenntnisses [tauhid] ist in der Lage, die größte Aufgabe der Religion überhaupt zu erfüllen, nämlich der Menschheit einen Handlungsmaßstab und eine Gesellschaftsordnung zu schaffen, durch die das Wohl der Allgemeinheit gewahrt wird. Hingegen sind die Religionen des Polytheismus [schirk] und der “verschiedenen Herren“, wie der Heilige Qur´an sie bezeichnet, in Wahrheit nur Folgeerscheinungen des Problems und können es nicht beheben, denn es verhält sich so, wie Josef (a.) zu seinen Mitgefangenen sagte: Was ihr an Seiner statt anbetet sind nichts als Namen, die ihr und eure Vorväter erfunden habt, und Allah hat dafür keine Vollmacht herabgesandt.[9]Das bedeutet, sie sind aus den persönlichen Motiven hervorgegangen, die den Menschen die Annahme von polytheistischen Religionen im Einklang mit ihren individuellen Interessen nahelegten, womit sie ihre natürliche Neigung zu der “wahren“ [hanif] Religion auf unnatürliche Weise verfälschten, und verhinderten, dass ihre ursprünglichen religiösen Neigungen in die richtigen Bahnen gelenkt wurden.

·       Drittens: Dass die “wahre“ Religion, für die die Menschheit ihrer Natur nach geschaffen ist, sich dadurch auszeichnet, dass sie eine auf das Leben machtvoll einwirkende Religion ist („Diese ist die beständige Religion...[10]), die in der Lage ist, es zu dominieren und es nach ihrem Rahmen zu formen. Dagegen kann eine Religion, die nicht zur Führung und Lenkung des menschlichen Lebens autorisiert ist, dem in der Natur des Menschen angelegten Bedürfnis nach der Religion nicht voll gerecht werden und das Grundproblem des menschlichen Zusammenlebens nicht überwinden.

Fassen wir einige Begriffsinhalt des Islam von der Religion und dem Leben zusammen: Das Grundproblem für das menschliche Zusammenleben entspringt der Natur des Menschen [fitra]. Denn es handelt sich um das Problem der eigennützigen persönlichen Motivationen, die dem Allgemeinwohl widersprechen und entgegenwirken. Ihre natürliche Veranlagung stellt der Menschheit gleichzeitig ein Gegenmittel zur Verfügung. Dieses Gegenmittel ist nur die wahre und machtvolle Religion, denn sie allein ist in der Lage, die persönlichen Motive aller Menschen miteinander in Einklang zu bringen und für die ganze Gemeinschaft einheitliche Interessen und Handlungsmaßstäbe zu schaffen. Daher kann für die Regelung des gesellschaftlichen Lebens nicht auf eine wahre und machtvolle Religion verzichtet werden. Und die Gesellschaftsordnung mit ihren verschiedenen (Lebens-)bereichen muss dem Rahmen der Religion, die in der Lage ist, der natürlichen Veranlagung des Menschen gerecht zu werden und das Grundproblem in seinem gesellschaftlichen Leben zu überwinden, angepasst werden.

In diesem Lichte erkennen wir, dass die islamische Wirtschaftsordnung, als Teil einer umfassenden Ordnung des gesellschaftlichen Lebens, in den allgemeinen Rahmen dieser Ordnung, nämlich die Religion, eingepasst sein muss. Die Religion ist also der allgemeine Rahmen unserer ideologischen Wirtschaftslehre. Und die Aufgabe der Religion – als Rahmen der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung im Islam – ist es, die persönlichen Motive und Interessen einerseits und das wahre Allgemeinwohl der menschlichen Gesellschaft – so wie der Islam es sieht – anderseits miteinander in Einklang zu bringen.

[1] Heiliger Qur´an 40:40

[2] Heiliger Qur´an 41:46

[3] Heiliger Qur´an 99:6

[4] Heiliger Qur´an 3:169

[5] Der hier eigentlich verwendete Begriff “Ungläubige“ ist eine der missverständlichsten Übersetzungen islamischer Begriffe und wird oft als Übersetzung des Begriffs “Kafir“ (plural Kuffar) verwendet. Das arabische Verb mit dem Konsonantenbestand "k, f, r" [kafara] hat die Grundbedeutung “bedecken“, “verbergen“, “verhüllen“, so dass die Bedeckung bzw. das verbergen der vollständigen Wahrheit gemeint ist. Er kann aber durchaus einen eigenen Glauben haben bzw. der Islam geht sogar davon aus, dass letztendlich jeder irgendeinen Glauben bzw. Religion hat. In dieser Übersetzung wird der Begriff “Nichtmuslime“ verwendet.

[6] Heiliger Qur´an 9:120-121

[7] “Gariza“ ist auch das arabische Wort für “Instinkt“. Hier steht es als Teil der angeborenen menschlichen Natur, die ihn zur Religiösität lenkt.

[8] Heiliger Qur´an 30:30

[9] Heiliger Qur´an 12:40

[10] Heiliger Qur´an 9:39

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