Unsere Wirtschaft

Unsere Wirtschaft / Iqtisaduna

Muhammad Baqir al-Sadr

Gelegentliche Notwendigkeit des subjektiven Faktors

Zum Schluss müssen wir auf den einzigen Bereich hinweisen, in dem bei dem Bemühen um die Entwicklung eines allgemein umrissenen Bildes von der islamischen Wirtschaftsideologie der subjektive Ansatz erlaubt ist, nämlich wenn es darum geht, aus der Gesamtheit der Bilder von der islamischen Wirtschaftsideologie, die jeweils durch den in der Rechtswissenschaft [fiqh] legitimen selbständigen Rechtsfindung [idschtihad] entwickelt worden sind, dasjenige auszuwählen, das man als zutreffend akzeptieren will. Wir haben bereits erwähnt, dass zur Herausarbeitung der islamischen Wirtschaftsideologie die Texte des Heiligen Qur´an und der Überlieferungen in einem selbständigen Rechtsfindungs-Verfahren ausgewertet und geordnet, und die wichtigen Aussagen in einem gemeinsamen Rahmen zusammengefügt werden sollen, und wir wiesen darauf hin, dass die selbständige Rechtsfindung [idschtihad] jeweils unterschiedlich ausfallen kann, je nach den verschiedenen Methoden der Rechtsgelehrten [mudschtahid][1], die Texte zu verstehen, deren spezieller Art und Weise, die Widersprüchlichkeiten, die möglicherweise zwischen den einzelnen Texten sichtbar werden, zu bereinigen, und je nach den allgemeinen Prinzipien und Methoden der rechtswissenschaftlichen Reflektion, nach denen sie vorgehen. Und wir stellten ebenfalls fest, dass die selbständige Rechtsfindung [idschtihad] legitim ist und einen islamischen Charakter hat, solange er (der Rechtsgelehrte) seiner Aufgabe gerecht wird, und in dem vom Heiligen Qur´an und der Verfahrensweise [sunna] vorgegebenen Rahmen und unter Beachtung der allgemeinen Richtlinien, die nicht übertreten werden dürfen, ein Bild von der islamischen Wirtschaftsideologie entwirft und deren Merkmale definiert. Daraus folgt, dass wir bei der Herausfindung der islamischen Wirtschaftsideologie aus dem Vollen schöpfen können, und viele Bilder von ihr zur Verfügung haben, die alle legitim und islamisch sind.

Somit können wir für jeden Bereich die am stärksten fundierten Elementen, die wir in diesen Bildern finden, und diejenigen, die am besten geeignet sind, die Probleme des wirtschaftlichen Lebens zu lösen und die höchsten Ziele des Islam zu verwirklichen, auswählen. Dies ist ein Bereich der persönlichen Entscheidung, in dem der Untersuchende die Freiheit hat, seiner eigenen Meinung Ausdruck zu verleihen, und nicht nur in der Eigenschaft des “Entdeckers“ tätig ist, auch wenn die subjektive Entscheidung nur eine Auswahl und keine Eigenschöpfung betrifft, also die Freiheit, aus den verschiedenen selbständigen Rechtsfindungs-Ergebnissen auszuwählen, keine völlige Entscheidungsfreiheit.

Dieses Buch schöpft in vorangehenden ebenso wie in späteren Kapiteln diesen Bereich der subjektiven Entscheidungsfreiheit aus, worauf wir im Vorwort hingewiesen haben.[2] Dabei sind nicht alle in diesem Buch vorgestellten islamischen Bestimmungen, die akzeptiert und als Belege herangezogen werden, das Ergebnis der persönlichen selbständigen Rechtsfindung [idschtihad] des Verfassers, sondern können in einigen Punkten seiner eigenen selbständigen Rechtsfindung [idschtihad] widersprechen, da sie Ausdruck eines anderen durch selbständiger Rechtsfindung [idschtihad] entwickelten Standpunktes sind, der aber auch als islamisch und legitim qualifiziert werden muss. Ich möchte in diesem Zusammenhang bekräftigen, dass die Ausschöpfung dieses persönlichen Freiraumes, d.h. dass dem Untersuchenden das Recht zuerkannt wird, aus dem allgemeinen Rahmen der in des islamischen Rechts [scharia] zugelassenen Varianten der selbständigen Rechtsfindung [idschtihad] auszuwählen, manchmal eine in arbeitstechnischer Hinsicht notwendige Voraussetzung für den “Entwicklungsprozess“ ist, um den sich dieses Buch bemüht, also nicht nur eine zulässige Sache, oder eine Art Luxus, um sich die Mühe zu sparen, die Bestimmungen des islamischen Rechts [scharia] durch eigene selbständige Rechtsfindung [idschtihad] herauszufinden. Es ist nämlich unmöglich, die islamische Theorie und die islamischen ideologischen Prinzipien für die Wirtschaft umfassend, vollständig und zusammenhängend, mit ihrem Überbau, ihren gesetzgeberischen Einzelheiten und ihren rechtlichen Details herauszufinden, wenn nicht auf den Freiraum der persönlichen Auswahl zurückgegriffen werden kann. Ich sage das aus eigener Erfahrung, die ich während der Vorarbeiten zu diesem Buch gemacht habe, und vielleicht ist es nötig, noch näher darauf einzugehen, um eine der Schwierigkeiten, mit denen eine Abhandlung über die islamische Wirtschaft meistens konfrontiert ist, zu verdeutlichen und die Methode aufzuzeigen, mit der dieses Buch sie überwindet, indem es den oben erwähnten persönlichen Freiraum ausschöpft, wozu es sich das Recht nimmt.

Die Muslime sind sich heutzutage einig, dass ein kleiner Teil der Bestimmungen des islamischen Rechts [scharia] seine klare Eindeutigkeit und unumstößliche Verbindlichkeit bis heute bewahrt hat, trotz dieser langen Jahrhunderte, die uns von dem Zeitalter, in dem das islamische Recht [scharia] formuliert wurde, trennen. Diese Gruppe von verbindlichen Bestimmungen des islamischen Rechts [scharia] umfasst möglicherweise nur fünf Prozent aller Bestimmungen, die wir in den Büchern der Rechtswissenschaft [fiqh] finden. Der Grund dafür liegt auf der Hand, denn die Bestimmungen des islamischen Rechts [scharia] werden dem Heiligen Qur´an und der Verfahrensweise [sunna] entnommen, d.h. den gesetzesrelevanten Textquelle, und wir sind natürlich darauf angewiesen, uns hinsichtlich der Authentizität jedes Textes auf das zu verlassen, was einer der Überlieferer und Sammler von Überlieferungen wiedergibt – mit Ausnahme der Texte des Heiligen Qur´ans und eines kleinen Teils von Textquellen der Verfahrensweise [sunna], die sicheres Allgemeingut geworden sind – und wie sehr wir uns auch bemühen mögen, den Überlieferer und seine Zuverlässigkeit sorgfältig zu untersuchen, werden wir keine absolute Gewissheit über die Authentizität vieler Textquellen erhalten, da wir den Grad der Zuverlässigkeit der Überlieferer nur historisch und nicht direkt ermessen können, und da auch ein zuverlässiger Überlieferer sich irren kann und uns vielleicht einen verfälschten Text vorlegt, besonders wenn uns der Text erst erreicht, nachdem ihn eine Anzahl von Überlieferer jeweils einer zum anderen weitergereicht hat, bis er schließlich bei uns ankam. Und selbst wenn wir manchmal ganz sicher sein könnten, dass ein Zitat inhaltlich einwandfrei ist und tatsächlich auf den Propheten (a.) oder einen der Imame (a.) zurückgeht, wären wir noch nicht in der Lage, vollständig zu erfassen, unter welchen Voraussetzungen und in welcher Atmosphäre es ausgesprochen wurde, und wir würden die Rahmenbedingungen, die es vielleicht verständlicher machen würden, nicht genau kennen. Und auch bei der vergleichenden Gegenüberstellung der Quelle mit anderen gesetzesrelevanten Texten, um sie miteinander in Einklang zu bringen, können uns methodische Fehler unterlaufen, indem wir etwa eine bestimmte Textquelle einer anderen vorziehen, obwohl die letztere tatsächlich der Wahrheit näher kommt, oder es gibt zu der aus dem Text hervorgehenden Bestimmung eine Ausnahme, die wir nicht kennen, bzw. die uns bei der Auswertung der Texte nicht auffiel, so dass wir den ersteren Text als maßgeblich ansehen, und die Ausnahmebestimmung, die ihn erläutert und spezifiziert, vernachlässigen.

Die selbständige Rechtsfindung [idschtihad] ist also ein kompliziertes Verfahren, das mit vielerlei Unsicherheiten behaftet ist. Und wie einleuchtend dessen Ergebnis nach Ansicht des Rechtsgelehrten [mudschtahid] selbst auch sein mag, er kann niemals völlig sicher über dessen tatsächliche Korrektheit sein, da es möglicherweise durch falsche Schlussfolgerungen entwickelt worden ist, sei es, weil die Textquelle in Wirklichkeit doch nicht einwandfrei ist, obwohl sie ihm so erscheint, oder weil er sie falsch versteht, oder sie nach einer falschen Methode mit anderen Texten in Einklang bringt, oder weil er nicht den vollen Überblick über sonstige für das Thema relevante Textquellen hat, da er diese entweder übersieht, oder sie im Laufe der Jahrhunderte verschollen sind. Das bedeutet natürlich nicht, dass das selbständige Rechtsfindungs-Verfahren [idschtihad] abgeschafft werden sollte oder nicht zulässig wäre, denn der Islam erlaubt es – trotz aller Unsicherheiten, die mit diesem Verfahren verbunden sind – und setzt fest, in welchem Umfang sich der Rechtsgelehrte [mudschtahid] auf Vermutungen stützen darf, und zwar mit Prinzipien, die im allgemeinen in der Wissenschaft von den “Quellen der religiösen Rechtsfindung“ [usul al-fiqh] erläutert werden. Der Rechtsgelehrte [mudschtahid] macht sich also keines Vergehens schuldig, wenn er im Rahmen der erlaubten Grenzen auf seine persönlichen Vermutungen vertraut, mag er sich dabei irren oder einem richtigen Schluss gelangen.

In diesem Sinne wird es verständlich und wahrscheinlich, dass wir bei jedem Rechtsgelehrten [mudschtahid] eine Anzahl von Fehlern und Widersprüchen zur wirklichen islamischen Gesetzgebung finden, auch wenn diese entschuldbar sind, und es wird ebenfalls verständlich, dass die wirkliche islamische Gesetzgebung zu allen von ihr behandelten Fragen da und dort verteilt ist, als Folge der unterschiedlichen Ansichten der Rechtsgelehrten [mudschtahid], denn ein Rechtsgelehrter [mudschtahid] irrt sich vielleicht in einer Angelegenheit und behandelt eine andere richtig, während es sich bei einem anderen gerade umgekehrt verhalten kann. Angesichts dieser Tatsachen über die selbständige Rechtsfindung [idschtihad] und den Rechtsgelehrten [mudschtahid], die wir erläutert haben, ist derjenige, der die islamische Wirtschaftsideologie herausfinden will, darauf angewiesen, bei seiner Untersuchung von Bestimmungen auszugehen, die jeweils durch einer von Vermutungen beeinflussten bestimmten selbständigen Rechtsfindung [idschtihad] formuliert wurden, um mit Hilfe dieser Bestimmungen zu dem Tieferen und Umfassenderen zu gelangen, nämlich zu den Theorien des Islam über die Wissenschaft und zu seiner wirtschaftlichen Ideologie.

Wir müssen uns aber fragen: Muss notwendigerweise die selbständige Rechtsfindung [idschtihad] jedes einzelnen Rechtsgelehrten [mudschtahid] – mit seinen Gehalt an islamischen Bestimmungen – uns das Bild einer vollständigen Wirtschaftsideologie vermitteln, bzw. eine in sich einheitliche Grundlage, die mit dem darauf aufbauenden Gebäude dieser Bestimmungen und mit deren Charakter harmoniert? Diese Frage müssen wir verneinen, denn die selbständige Rechtsfindung [idschtihad], auf dessen Grundlage jede Bestimmungen entwickelt werden, kann fehlerhaft sein, und mithin fremde gesetzgeberische Elemente in die islamische Realität einbringen, die der Rechtsgelehrte [mudschtahid] irrtümlicherweise aus den Texten herausgelesen hat, oder es können islamische gesetzgeberische Elemente fehlen, die ihm bei der Untersuchung der Texte entgangen sind. So kann die Summe der Bestimmungen, die er durch seine selbständige Rechtsfindung [idschtihad] herausfand, aus diesem oder jenem Grund in sich widersprüchlich sein. Dann wird es unmöglich, ein vollständiges theoretisches Konzept zu entdecken, das den roten Faden aller Einzelbestimmungen zusammenfasst, oder sie einer umfassenden ideologischen Analyse zu unterziehen, die sie alle in einen gemeinsamen Rahmen einfügt. Deshalb müssen wir zwischen der tatsächlichen islamischen Gesetzgebung, so wie sie vom Propheten Muhammad (s.) übermittelt wurde, und dem Bild, wie es ein bestimmter Rechtsgelehrter [mudschtahid] durch seine Arbeit der selbständigen Rechtsfindung [idschtihad] an den Textquellen zeichnet, unterscheiden. Denn wir glauben, dass die wirkliche islamische Gesetzgebung für den wirtschaftlichen Bereich weder improvisiert, noch das Produkt voneinander isolierter und unabhängiger Anschauungen ist, sondern dass die islamische Gesetzgebung für diesen Bereich auf einer einheitlichen Grundlage aufbaut, und durch eine gemeinsame Substanz von Begriffsinhalten geprägt ist, die auf die Theorien des Islam und seine allgemeine Haltung zu Fragen des wirtschaftlichen Lebens zurückgeht.

Es ist dieser Glaube, der uns veranlasst, die Bestimmungen des islamischen Rechts [scharia] als einen Überbau anzusehen, von dem ausgehend man zum Tieferen und Umfassenderen vorstoßen muss, um das Fundament zu erkennen, auf dem dieser Überbau steht und zu dem er passt, und dessen allgemeines Konzept sich in allen seinen Details und Verzweigungen manifestiert, ohne Widersprüchlichkeiten und Disharmonie. Und ohne den Glauben, dass die Bestimmungen des islamischen Rechts [scharia] auf einer einheitlichen Grundlage beruhen, gäbe es keine Rechtfertigung dafür, hinter den detaillierten Bestimmungen des islamischen Rechts [scharia] nach einer bestimmten Ideologie zu forschen. All das trifft für die wirkliche islamische Gesetzgebung zu.

Dagegen brauchen die Bestimmungen, die aus dieser oder jener selbständigen Rechtsfindung [idschtihad] irgendeines Rechtsgelehrten [mudschtahid] hervorgehen, nicht unbedingt Ausdruck einer vollständigen Wirtschaftsideologie oder einer umfassenden theoretischen Grundlage zu sein, da möglicherweise fremde Elemente eingeflossen sind oder integrale Bestandteile fehlen, weil dem Rechtsgelehrten [mudschtahid] Fehler unterlaufen sind. Und möglicherweise stellt schon ein einziger Fehler bei der Herausarbeitung all dieser Bestimmungen die Ergebnisse des “Entwicklungsprozesses“ auf den Kopf und macht es unmöglich, anhand jener Bestimmungen die islamische Wirtschaftsideologie herauszufinden. So kann auch derjenige, der es auf sich nimmt die islamische Wirtschaftsideologie zu untersuchen, in einen Zwiespalt geraten, nämlich durch den Widerspruch seiner Aufgabe als “Entdecker“ der Ideologie einerseits, und seiner Eigenschaft als Rechtsgelehrter [mudschtahid], der die Bestimmungen entwickelt, anderseits.

Nehmen wir beispielsweise an, dass sich aus der Summe der Bestimmungen, die er durch seine eigene selbständige Rechtsfindung [idschtihad] formuliert, keinerlei wirtschaftliche Ideologie erschließen lässt, so sieht sich der Untersuchende in diesem Fall in seiner Eigenschaft als Rechtsgelehrter [mudschtahid], der diese Bestimmungen aus den Quellen gefolgert hat, durch seine selbständige Rechtsfindung [idschtihad] veranlasst, trotzdem eben diese Bestimmungen auszuwählen, um von ihnen ausgehend die Wirtschaftsideologie herauszufinden. Aber in seiner Eigenschaft als Erforscher der Ideologie muss er eine kohärente Anzahl von Bestimmten auswählen, deren Tendenz und theoretischer Gehalt miteinander harmonieren, um auf dieser Basis die Ideologie herausarbeiten zu können. Und wenn er diese kohärente Gruppe nicht in den Bestimmungen, die er durch seiner eigenen selbständigen Rechtsfindung [idschtihad] abgeleitet hat, findet, dann ist er darauf angewiesen, sich für einen anderen Ausgangspunkt zu entscheiden, der sich für die Herausarbeitung der Ideologie eignet.

Wir wollen das Problem mit dem folgenden Beispiel noch mehr verdeutlichen: Angenommen ein Rechtsgelehrter [mudschtahid] gelangt zu der Einsicht, dass die Textquellen die Aneignung von Reichtümern der Natur von der eigenen Arbeit abhängig machen, und jede andere Methode als die Arbeit zu deren Aneignung untersagen, und er findet in den Textquellen eine einzige Ausnahme, die in einigen Bereichen die Aneignung von Naturschätzen durch andere Methoden als die der eigenhändigen Arbeit billigt. Diesem Rechtsgelehrten [mudschtahid] werden die Ergebnisse und Schlussfolgerungen aus den Texten – so wie er sie durch seiner selbständigen Rechtsfindung [idschtihad] gewinnt – als irritierend und nicht zusammenhängend erscheinen. Die Ursache dieser Irritation und des fehlenden Zusammenhangs ist der Text mit der Ausnahme, denn ohne diesen könnte er auf der Grundlage aller anderen Textquellen herausfinden, dass sich das Eigentum im Islam auf eigene Arbeit begründet. Was macht dieser Rechtsgelehrte [mudschtahid] nun, und was hilft ihm, den Widerspruch zwischen seinen jeweils verschiedenen Standpunkten des Rechtsgelehrten [mudschtahid] und des “Entdeckers“ der Ideologie zu überwinden? Wenn ein Rechtsgelehrter [mudschtahid] mit diesem Widerspruch konfrontiert ist, dann gibt es gewöhnlich eine von zwei Erklärungen für die Unordnung und den fehlenden Zusammenhang der Bestimmungen, die er aus seiner selbständigen Rechtsfindung [idschtihad] hergeleitet hat:

Erstens könnte einer der Überlieferungs-Texte, die er interpretiert hat, nicht authentisch gewesen sein, etwa der Text mit der Ausnahme in unserem Beispiel, obwohl er die Bedingungen erfüllt, die der Islam für einen rechtlich verbindlichen Text festsetzt. Und die mangelnde Authentizität mancher Überlieferungs-Texte führt ein fremdes gesetzgeberisches Element in die Sammlung der Quellen ein, die für die selbständige Rechtsfindung [idschtihad] der Bestimmung des islamischen Rechts [scharia] herangezogen werden, was zu Widersprüchlichkeiten jener Bestimmungen auf theoretischer Ebene führt, die die Herausarbeitung der Ideologie erschweren.

Zweitens könnte der diagnostizierte Widerspruch zwischen den einzelnen Bestimmungen lediglich oberflächlich und ohne reale Bedeutung sein. Dann würde der Interpret den Widerspruch nur empfinden, weil er nicht imstande ist, das verborgene einheitliche Prinzip hinter diesen Elementen zu entdecken und sie mit einer gemeinsamen theoretischen Grundlage zu erklären. Hier unterscheidet sich der Standpunkt des Interpreten in seiner Eigenschaft als Rechtsgelehrter [mudschtahid], der die Bestimmungen des islamischen Rechts [scharia] entwickelt, von seiner Haltung als Forscher, der die islamische Wirtschaftsideologie herausfinden will. Als Rechtsgelehrter [mudschtahid] (der die Bestimmungen entwickelt), kann er sich bei seiner eigenen Forschungsarbeit nicht von den Bestimmungen distanzieren, die aus seiner selbständigen Rechtsfindung [idschtihad] hervorgehen, auch wenn sie ihm auf theoretischer Ebene unvereinbar miteinander erscheinen, da sie ihm möglicherweise auch nur deshalb als widersprüchlich erscheinen, weil er ihren verborgenen Sinn und ihre ideologische Grundlage nicht begreift. Aber sein Festhalten an diesen Bestimmungen bedeutet nicht, dass sie unbedingt richtig wären, sondern es handelt sich um Thesen, da sie auf der Basis der Vermutungen unterworfenen selbständigen Rechtsfindung [idschtihad] begründet werden, was allerdings rechtfertigt, sie ernst zu nehmen, obwohl sie auch falsch sein können. Aber wenn dieser Rechtsgelehrte über das Verständnis [fiqh] der Bestimmungen des islamischen Rechts [scharia] hinaus auch die diesen zugrunde liegende Theorie verstehen will, und sich um die Herausarbeitung der Wirtschaftsideologie des Islam bemüht, dann schreibt ihm die Natur seines Unternehmens die Art der Bestimmungen, von denen er ausgehen muss, vor, und macht es notwendig, dass er als Ausgangspunkt eine Anzahl von zusammenhängenden und miteinander harmonierenden Bestimmungen wählt. Wenn er eine derartige Zusammenstellung in Gestalt der Bestimmungen, die aus seiner eigenen selbständigen Rechtsfindung [idschtihad] hervorgegangen sind, finden kann, und bei seinem “Entdeckungsprozess“ zum Verständnis der allgemeinen Prinzipien der islamischen Wirtschaft ansetzen kann, ohne dass sein Vorhaben von Widersprüchen und Unvereinbarkeit der einzelnen Elemente der Gruppe untereinander beeinträchtigt wird, dann ist das ein Glücksfall, bei dem sich die Rolle des Interpreten als Rechtsgelehrter, der die Bestimmungen aus den islamischen Quellen entwickelt, mit seiner Rolle als Erforscher der Theorien vereinbaren lässt. Wenn er aber nicht in dieser glücklichen Lage ist, und ihm sein eigene selbständige Rechtsfindung [idschtihad] nicht als geeigneter Ansatzpunkt dienen kann, dann wird das weder seine Entschlossenheit sein Vorhaben auszuführen beeinträchtigen, noch seinen Glauben daran, dass die wirkliche islamische Gesetzgebung zusammenhängend und umfassend theoretisch erklärt werden kann, erschüttern. Und der einzige Weg, den der Interpret in diesem Fall unbedingt einschlagen muss, besteht darin, auf solche Bestimmungen zurückzugreifen, die durch die selbständige Rechtsfindung [idschtihad] anderer Rechtsgelehrter [mudschtahid] entwickelt worden sind, denn durch jede selbständige Rechtsfindung [idschtihad] entsteht eine Anzahl von Bestimmungen, die sich in hohem Maße von Zusammenstellungen, die aus anderen selbständige Rechtsfindungs-Verfahren hervorgegangen sind, unterscheiden können.

Es wäre nicht logisch, wenn wir erwarten würden, hinter jeder derartigen Zusammenstellung eine Wirtschaftsideologie entdecken zu können, sondern wir glauben an die Existenz einer einheitlichen Wirtschaftsideologie, auf der die in jenen verschiedenen Zusammenstellungen vorliegenden Bestimmungen des islamischen Rechts [scharia] begründet sind; und wenn sich die einzelnen Elemente einer Sammlung solcher Bestimmungen, die aus der eigenen selbständigen Rechtsfindung [idschtihad] dessen, der die Ideologie untersucht, hervorgegangen sind, nicht miteinander vereinbaren lassen, dann ist er bei seiner Untersuchung dazu angehalten, die störenden Elemente, die zu Widersprüchlichkeiten auf der theoretischen Ebene führen, fallen zu lassen, und sie gegen die Ergebnisse und Bestimmungen, die aus der selbständigen Rechtsfindung [idschtihad] anderer Personen entwickelt wurden und sich besser in das Gesamtbild einfügen und das Untersuchungsverfahren erleichtern, auszutauschen, so dass er eine Anzahl von Ergebnissen der selbständigen Rechtsfindungs-Verfahren vieler verschiedener Personen zusammenstellt, die miteinander harmonieren, um dort mit der weiteren Untersuchung anzusetzen, und schließlich die gemeinsame theoretische Substanz dieser zusammengesetzten Menge von Bestimmungen des islamischen Rechts [scharia] herauszufinden. Das Mindeste, was man über eine derartige Zusammenstellung aussagen kann, ist, dass sie ein Bild vermittelt, das möglicherweise sogar die Wirklichkeit der islamischen Gesetzgebung ganz getreu wiedergibt, wobei die Wahrscheinlichkeit, dass das Bild zutrifft, nicht geringer ist, als bei irgendeinem anderen der vielen Bilder, die in der Rechtswissenschaft [fiqh] durch die selbständige Rechtsfindung [idschtihad] gewonnen werden. Folglich ist es durch das religiöse Gesetz gerechtfertigt, denn es ist aus einem im Islam legitimen selbständigen Rechtsfindungs-Verfahren hervorgegangen, die alle auf dem Boden des Heiligen Qur´an und der Verfahrensweise [sunna] stehen. Und aus diesem Grund kann es sein, dass die islamische Gesellschaft von den vielen gesetzeskräftigen selbständigen Rechtsfindungs-Bildern, aus denen sie eines auswählen muss, sich in der Praxis für dieses entscheidet.

Mehr kann eine Untersuchung der islamischen Wirtschaftsideologie nicht leisten, sofern die eigene selbständige Rechtsfindung [idschtihad] des Untersuchenden noch keinen geeigneten Ausgangspunkt schaffen kann; vielmehr ist das schon fast alles, was wir in diesem Zusammenhang benötigen. Und was wollen wir mehr, als dass wir eine islamische Wirtschaftsideologie herausarbeiten, die möglicherweise sogar ein getreues und sorgfältiges Bild der “wahren“ islamischen Lehre zeichnet, das denen irgendwelcher anderer selbständige Rechtsfindungs-Ver­fah­ren nicht nachsteht, und dessen islamischer Ursprung dadurch reichlich belegt wird, dass es sich auf die Rechtsmeinungen kompetenter Rechtsgelehrter [mudschtahid] berufen kann, und das vom Islam autorisiert ist, im Leben der islamischen Gesellschaft praktisch befolgt zu werden?!

[1] Ein Rechtsgelehrter ist ein Gelehrter [faqih], der zur selbständigen Rechtsfindung [idschtihad] und damit zur Anwendung des islamischen Rechts [scharia] auf aktuelle Situationen befähigt ist.

[2] Der Autor meint damit sein Vorwort zur 1. Auflage, das hier nicht übersetzt wurde.

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