Einpassung der Textquellen in einen besonderen Rahmen
Unter einer
Manipulation, die den Text in einen bestimmten Rahmen
einpasst, verstehen wir dessen Studium mit einem unislamischen
Denkansatz. Dieser Denkansatz kann auf den Einfluss der realen
Umwelt zurückgehen oder auch nicht. Der Interpret versucht
dann, den Text innerhalb dieses bestimmten Rahmens zu
verstehen, und wenn er bemerkt, dass er sich in seinen eigenen
geistigen Rahmen nicht einfügen lässt, nimmt er ihn nicht
wichtig und sucht sich andere Textquellen, die sich mit seiner
Denkweise im Einklang befinden, oder wenigstens nicht im
klaren Widerspruch dazu stehen.
Wir haben
bereits erwähnt, wie Überlieferungs-Texte, welche die
Verfügungsgewalt des Eigentümers über seinen Grund und Boden
einschränken, und unter Umständen dessen Enteignung erlauben,
nicht genügend ernst genommen, und stattdessen andere
bevorzugt herangezogen werden, die das nicht tun, nur weil die
ersteren Texte sich nicht mit einem geistigen Rahmen
vereinbaren lassen, der das Privateigentum als derart
sakrosankt ansieht, dass sich dem alle anderen Erwägungen
unterzuordnen hätten. So schrieb z.B. ein Rechtsgelehrter als
Anmerkung zu einem Text, der besagt, das der verantwortlicher
Befehlshaber [wali-ul-amr] das Land demjenigen, der es
nicht bebaut, wegnehmen und zugunsten der Gemeinschaft [umma]
nutzen lassen kann: „Mir scheint es am naheliegendsten,
nicht weiter auf diese Überlieferung einzugehen, denn sie
widerspricht den Prinzipien und der Evidenz des Verstandes.“
Mit der “Evidenz des Verstandes“ meint er eine
Denkweise, die das Eigentum als unverletzlich ansieht, obwohl
doch diese Heiligkeit des Eigentums, bzw. der Grad dieser
Heiligkeit, wenn überhaupt, dann aus dem islamischen Recht [scharia]
hervorgehen müsste. Wenn sie aber von vornherein vorausgesetzt
wird, und zwar in einem Grade, der das Verständnis des Textes
entscheidend beeinflusst, so bedeutet das, dass infolge eines
unangemessen geistigen Rahmens falsche Schlüsse gezogen
werden, oder welchen “Verstandesbeweis“ gäbe es dafür, das
Eigentum als derart unverletzlich ansehen zu müssen, dass die
besagte Textquelle des islamischen Rechts [scharia]
verworfen werden müsste?! Ist das private Eigentum denn etwas
anderes als eine Beziehung zwischen dem Individuum und den
Gütern, bzw. eine gesellschaftliche Definition von Pflichten
und Rechten, welche die Gesellschaft oder irgendein
Gesetzgeber zur Erfüllung eines bestimmten Zwecks beliebig
gesetzlich festsetzen kann, so dass es weder den Kriterien des
abstrakten noch denen des experimentellen Verstandes
unterliegt?! Und wir bemerken oft, dass einige Interpreten in
diesem Zusammenhang eine grundsätzliche Unzulässigkeit von
Enteignungen damit zu begründen versuchen, dass die gewaltsame
Wegnahme für den intelligenten Menschen abstoßend sei. Das ist
ein fruchtloses Argument, denn unter Usurpation [gasb]
verstehen wir die unberechtigte Wegnahme von Gütern; und ob
eine Wegnahme zurecht erfolgt oder nicht, setzt das islamische
Recht [scharia] fest, also müssen wir das aus dem
islamischen Recht [scharia] entnehmen, ohne ihr eine
vorgefasste Denkweise aufzuzwingen. Wenn sie feststellt, dass
die Wegnahme unberechtigt ist, dann handelt es sich um
Usurpation, und wenn sie einer Person das Recht gibt,
bestimmte Güter zu enteignen, dann handelt es sich nicht um
Usurpation, und es ist folglich auch nicht abstoßend.
Ein anderer
Rechtsgelehrter schrieb, um für eine Gesetzgebung zu
argumentieren, die das Privateigentum an Land sanktioniert: „Schon
die natürlichen Bedürfnisse sprechen dafür, und machen es
dringend erforderlich, denn der Mensch ist nicht wie das Vieh,
sondern seiner Natur nach zivilisiert, und braucht unbedingt
einen Wohnplatz als Zuflucht und einen Ort, der ihm gehört,
und wenn das nicht durch Gesetz garantiert wird, dann entsteht
ein großes Chaos und eine unzumutbare Beeinträchtigung des
Zusammenlebens.“ Natürlich gestehen wir alle ein, dass es
im Islam Privateigentum, auch an Land, gibt, aber wir halten
es nicht für zulässig, wenn Bestimmungen des islamischen
Rechts [scharia] dadurch begründet werden, dass sich
ein bestimmtes Verständnis von Eigentum historisch fest
etabliert hat. So nämlich geht der letztere Autor vor, dessen
geistiger Horizont, bzw. dessen Vorstellungen von der
Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft, nicht über die
vom Privateigentum geprägte Geschichte hinausgeht, so dass er
das imaginäre Bild des Privateigentums hinter jeder speziellen
Erscheinung der Menschheitsgeschichte als Rechtfertigung und
Erklärung entdeckt, bis er nicht mehr zwischen der Realität
und dem Phantom unterscheiden kann und zu glauben beginnt,
dass der Mensch, da er einen eigenen Wohnplatz zu seiner
Zuflucht benötige – so wie er es ausdrückt – diesen auch als
Privateigentum besitzen müsse, damit er dort seine persönlich
Zuflucht findet. Und wenn dieser Autor in der Lage wäre,
zwischen dem Wohnen jedes Menschen in seiner speziellen
Wohnung und seinem jeweiligen Privateigentum an dieser Wohnung
zu differenzieren, würde er sich durch das historisch
verbreitet Zusammenfallen dieser beiden Sachverhalte nicht
täuschen lassen, und klar erkennen, dass eine unerträgliche
Zumutung nur darin besteht, einen Menschen am Wohnen in einer
persönlichen Wohnung zu hindern, und nicht schon, wenn man ihm
diese nicht als Privateigentum zuerkennt. So finden die
Studenten in einer Universitätsstadt, oder die Menschen in
einer sozialistischen Gesellschaft allesamt in ihren
speziellen Wohnungen Zuflucht, ohne dass ihnen diese als
Privateigentum gehören würden. So sehen wir, dass unser Autor
– unabsichtlich – den historischen Augenschein vom
Privateigentum und die Vorstellung von dessen Notwendigkeit
für die Menschen, die der Augenschein bei ihm aufkommen lässt,
als Rahmen für seine Reflektion über die religiös-gesetzliche
Relevanz der jeweiligen Textquellen nimmt.
Zu den
geistigen Rahmen, die das Verständnis der Textquellen
beeinflussen, gehört der philologische Rahmen. Wenn z.B. für
eine wesentliche Aussage im Text ein geschichtlich belastetes
Wort, dessen Bedeutung sich im Laufe der Zeit erweitert oder
modifiziert hat, verwendet wird versteht es natürlich der
Interpret spontan in der Bedeutung, die es in der realen
Gegenwart hat, und nicht in der der fernen Vergangenheit.
Diese erstere Bedeutung hat das Wort aber vielleicht erst seit
jüngerer Zeit, als Wortschöpfung einer neuen Ideologie oder
einer neu entstandenen Zivilisation. Deshalb muss dringend
davor gewarnt werden, den Text, dessen Bedeutung man erfassen
will, in einen neuzeitlichen philologischen Rahmen zu stellen,
der nicht dem zur Zeit der Entstehung des Textes gültigen
entspricht. Ebenso kann auch die Assoziierung von Worten mit
bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen dazu beitragen, den
Interpreten hinsichtlich des richtigen Verständnisses der
Textquelle irrezuführen. Denn auch wenn das Wort seine
ursprüngliche Bedeutung über die ganze Zeit bewahrt hat,
können doch inzwischen besondere Denkmodelle oder bestimmte
Verhaltensweisen entstanden sein, die mit dem Wort assoziiert
werden, so dass manchmal dessen psychologische Bedeutung –
d.h. die Assoziierung mit bestimmten gesellschaftlichen
Bedingungen – die ursprüngliche philologische Bedeutung
überdeckt, oder zumindest wird die philologische mit der
psychologischen, assoziierten Bedeutung des Wortes vermischt,
wobei sich die letztere tatsächlich mehr aus den
gesellschaftlichen Bedingungen, wie sie der Interpret erlebt,
als aus dem Wort selbst ergibt.
Nehmen wir das
Wort “Sozialismus“ [ischtirakiya], das auch neuzeitlich
gesellschaftliche Ideologien, die der Mensch der Gegenwart vor
Augen hat, mit einem Komplex von Wertemaßstäben, Denk- und
Verhaltensweisen assoziiert wird, so dass dieser Komplex
heutzutage in mancher Hinsicht einen wichtigen Teil der
gesellschaftlichen Bedeutung des Wortes ausmacht, auch wenn es
in rein philologischer Hinsicht keine dieser assoziierten
Bedeutungen hat. Das gleiche gilt für das Wort “Klient,
Untertanen“, das durch die Geschichte des Feudalismus schwer
belastet wurde und seitdem mit dem Verhalten des feudalen
Grundbesitzers gegenüber seinen Untergebenen, die sein Land
bebauen, assoziiert wird. Wenn wir also auf Texte stoßen, die
das Wort “Sozialismus“ bzw. “Klient, Untertanen“ enthalten,
wie z.B. die Überlieferung: „Die Menschen teilen sich
den Besitz von Wasser, Feuer und Weideland“, oder das
Zitat: „Die Bürger haben gegenüber dem Befehlshaber [wali]
Pflichten“, dann laufen wir Gefahr, bestimmte
gesellschaftliche Bedingungen zuzuschreiben, die weit vom
Geist des Textes entfernt ist, anstatt der angemessenen
philologischen Bedeutung, die diese Wörter beinhalten.