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Unsere Wirtschaft / Iqtisaduna

Muhammad Baqir al-Sadr

Einpassung der Textquellen in einen besonderen Rahmen

Unter einer Manipulation, die den Text in einen bestimmten Rahmen einpasst, verstehen wir dessen Studium mit einem unislamischen Denkansatz. Dieser Denkansatz kann auf den Einfluss der realen Umwelt zurückgehen oder auch nicht. Der Interpret versucht dann, den Text innerhalb dieses bestimmten Rahmens zu verstehen, und wenn er bemerkt, dass er sich in seinen eigenen geistigen Rahmen nicht einfügen lässt, nimmt er ihn nicht wichtig und sucht sich andere Textquellen, die sich mit seiner Denkweise im Einklang befinden, oder wenigstens nicht im klaren Widerspruch dazu stehen.

Wir haben bereits erwähnt, wie Überlieferungs-Texte, welche die Verfügungsgewalt des Eigentümers über seinen Grund und Boden einschränken, und unter Umständen dessen Enteignung erlauben, nicht genügend ernst genommen, und stattdessen andere bevorzugt herangezogen werden, die das nicht tun, nur weil die ersteren Texte sich nicht mit einem geistigen Rahmen vereinbaren lassen, der das Privateigentum als derart sakrosankt ansieht, dass sich dem alle anderen Erwägungen unterzuordnen hätten. So schrieb z.B. ein Rechtsgelehrter als Anmerkung zu einem Text, der besagt, das der verantwortlicher Befehlshaber [wali-ul-amr] das Land demjenigen, der es nicht bebaut, wegnehmen und zugunsten der Gemeinschaft [umma] nutzen lassen kann: „Mir scheint es am naheliegendsten, nicht weiter auf diese Überlieferung einzugehen, denn sie widerspricht den Prinzipien und der Evidenz des Verstandes.“ Mit der “Evidenz des Verstandes“ meint er eine Denkweise, die das Eigentum als unverletzlich ansieht, obwohl doch diese Heiligkeit des Eigentums, bzw. der Grad dieser Heiligkeit, wenn überhaupt, dann aus dem islamischen Recht [scharia] hervorgehen müsste. Wenn sie aber von vornherein vorausgesetzt wird, und zwar in einem Grade, der das Verständnis des Textes entscheidend beeinflusst, so bedeutet das, dass infolge eines unangemessen geistigen Rahmens falsche Schlüsse gezogen werden, oder welchen “Verstandesbeweis“ gäbe es dafür, das Eigentum als derart unverletzlich ansehen zu müssen, dass die besagte Textquelle des islamischen Rechts [scharia] verworfen werden müsste?! Ist das private Eigentum denn etwas anderes als eine Beziehung zwischen dem Individuum und den Gütern, bzw. eine gesellschaftliche Definition von Pflichten und Rechten, welche die Gesellschaft oder irgendein Gesetzgeber zur Erfüllung eines bestimmten Zwecks beliebig gesetzlich festsetzen kann, so dass es weder den Kriterien des abstrakten noch denen des experimentellen Verstandes unterliegt?! Und wir bemerken oft, dass einige Interpreten in diesem Zusammenhang eine grundsätzliche Unzulässigkeit von Enteignungen damit zu begründen versuchen, dass die gewaltsame Wegnahme für den intelligenten Menschen abstoßend sei. Das ist ein fruchtloses Argument, denn unter Usurpation [gasb] verstehen wir die unberechtigte Wegnahme von Gütern; und ob eine Wegnahme zurecht erfolgt oder nicht, setzt das islamische Recht [scharia] fest, also müssen wir das aus dem islamischen Recht [scharia] entnehmen, ohne ihr eine vorgefasste Denkweise aufzuzwingen. Wenn sie feststellt, dass die Wegnahme unberechtigt ist, dann handelt es sich um Usurpation, und wenn sie einer Person das Recht gibt, bestimmte Güter zu enteignen, dann handelt es sich nicht um Usurpation, und es ist folglich auch nicht abstoßend.

Ein anderer Rechtsgelehrter schrieb, um für eine Gesetzgebung zu argumentieren, die das Privateigentum an Land sanktioniert: „Schon die natürlichen Bedürfnisse sprechen dafür, und machen es dringend erforderlich, denn der Mensch ist nicht wie das Vieh, sondern seiner Natur nach zivilisiert, und braucht unbedingt einen Wohnplatz als Zuflucht und einen Ort, der ihm gehört, und wenn das nicht durch Gesetz garantiert wird, dann entsteht ein großes Chaos und eine unzumutbare Beeinträchtigung des Zusammenlebens.“ Natürlich gestehen wir alle ein, dass es im Islam Privateigentum, auch an Land, gibt, aber wir halten es nicht für zulässig, wenn Bestimmungen des islamischen Rechts [scharia] dadurch begründet werden, dass sich ein bestimmtes Verständnis von Eigentum historisch fest etabliert hat. So nämlich geht der letztere Autor vor, dessen geistiger Horizont, bzw. dessen Vorstellungen von der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft, nicht über die vom Privateigentum geprägte Geschichte hinausgeht, so dass er das imaginäre Bild des Privateigentums hinter jeder speziellen Erscheinung der Menschheitsgeschichte als Rechtfertigung und Erklärung entdeckt, bis er nicht mehr zwischen der Realität und dem Phantom unterscheiden kann und zu glauben beginnt, dass der Mensch, da er einen eigenen Wohnplatz zu seiner Zuflucht benötige – so wie er es ausdrückt – diesen auch als Privateigentum besitzen müsse, damit er dort seine persönlich Zuflucht findet. Und wenn dieser Autor in der Lage wäre, zwischen dem Wohnen jedes Menschen in seiner speziellen Wohnung und seinem jeweiligen Privateigentum an dieser Wohnung zu differenzieren, würde er sich durch das historisch verbreitet Zusammenfallen dieser beiden Sachverhalte nicht täuschen lassen, und klar erkennen, dass eine unerträgliche Zumutung nur darin besteht, einen Menschen am Wohnen in einer persönlichen Wohnung zu hindern, und nicht schon, wenn man ihm diese nicht als Privateigentum zuerkennt. So finden die Studenten in einer Universitätsstadt, oder die Menschen in einer sozialistischen Gesellschaft allesamt in ihren speziellen Wohnungen Zuflucht, ohne dass ihnen diese als Privateigentum gehören würden. So sehen wir, dass unser Autor – unabsichtlich – den historischen Augenschein vom Privateigentum und die Vorstellung von dessen Notwendigkeit für die Menschen, die der Augenschein bei ihm aufkommen lässt, als Rahmen für seine Reflektion über die religiös-gesetzliche Relevanz der jeweiligen Textquellen nimmt.

Zu den geistigen Rahmen, die das Verständnis der Textquellen beeinflussen, gehört der philologische Rahmen. Wenn z.B. für eine wesentliche Aussage im Text ein geschichtlich belastetes Wort, dessen Bedeutung sich im Laufe der Zeit erweitert oder modifiziert hat, verwendet wird versteht es natürlich der Interpret spontan in der Bedeutung, die es in der realen Gegenwart hat, und nicht in der der fernen Vergangenheit. Diese erstere Bedeutung hat das Wort aber vielleicht erst seit jüngerer Zeit, als Wortschöpfung einer neuen Ideologie oder einer neu entstandenen Zivilisation. Deshalb muss dringend davor gewarnt werden, den Text, dessen Bedeutung man erfassen will, in einen neuzeitlichen philologischen Rahmen zu stellen, der nicht dem zur Zeit der Entstehung des Textes gültigen entspricht. Ebenso kann auch die Assoziierung von Worten mit bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen dazu beitragen, den Interpreten hinsichtlich des richtigen Verständnisses der Textquelle irrezuführen. Denn auch wenn das Wort seine ursprüngliche Bedeutung über die ganze Zeit bewahrt hat, können doch inzwischen besondere Denkmodelle oder bestimmte Verhaltensweisen entstanden sein, die mit dem Wort assoziiert werden, so dass manchmal dessen psychologische Bedeutung – d.h. die Assoziierung mit bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen – die ursprüngliche philologische Bedeutung überdeckt, oder zumindest wird die philologische mit der psychologischen, assoziierten Bedeutung des Wortes vermischt, wobei sich die letztere tatsächlich mehr aus den gesellschaftlichen Bedingungen, wie sie der Interpret erlebt, als aus dem Wort selbst ergibt.

Nehmen wir das Wort “Sozialismus“ [ischtirakiya], das auch neuzeitlich gesellschaftliche Ideologien, die der Mensch der Gegenwart vor Augen hat, mit einem Komplex von Wertemaßstäben, Denk- und Verhaltensweisen assoziiert wird, so dass dieser Komplex heutzutage in mancher Hinsicht einen wichtigen Teil der gesellschaftlichen Bedeutung des Wortes ausmacht, auch wenn es in rein philologischer Hinsicht keine dieser assoziierten Bedeutungen hat. Das gleiche gilt für das Wort “Klient, Untertanen“, das durch die Geschichte des Feudalismus schwer belastet wurde und seitdem mit dem Verhalten des feudalen Grundbesitzers gegenüber seinen Untergebenen, die sein Land bebauen, assoziiert wird. Wenn wir also auf Texte stoßen, die das Wort “Sozialismus“ bzw. “Klient, Untertanen“ enthalten, wie z.B. die Überlieferung: „Die Menschen teilen sich den Besitz von Wasser, Feuer und Weideland“, oder das Zitat: „Die Bürger haben gegenüber dem Befehlshaber [wali] Pflichten“, dann laufen wir Gefahr, bestimmte gesellschaftliche Bedingungen zuzuschreiben, die weit vom Geist des Textes entfernt ist, anstatt der angemessenen philologischen Bedeutung, die diese Wörter beinhalten.

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