Sechstes KapitelDie Verbannten
Unter den polnischen Edelleuten, welche
schuldig oder verdächtig, Theil genommen zu haben an der
Revolution von 1831, mit Verbannung nach Sibirien und
Konfiskation ihrer Güter bestraft wurden, war einer der
angesehensten und reichsten Graf R.
Seine Feinde machen es ihm noch heute zum Vorwurf, und
seine Freunde sagen es noch heute zu seiner Entschuldigung,
daß er im Genusse des Glücks welches sein trauter
Familienkreis ihm bot, sich anfangs gar nicht und später nur
soweit an der Revolution betheiligte, als er gewaltsam vom
Strome mit fortgerissen wurde. Doch konnte bei den
Verurtheilungen auf ein größeres oder geringeres Maß von
Schuld nicht Rücksicht genommen werden, da besondere
Untersuchungen zu den Ausnahmefällen gehörten, während im
Allgemeinen das Strafverfahren ein summarisches war.
Graf R. hatte eine, damals etwa funfzehnjährige Tochter,
die wegen ihrer seltenen Schönheit, Anmuth und Herzensgüte
hochgefeiert in der ganzen Nachbarschaft war. Sie war der
Stolz und die Zierde ihres Hauses, und, früh schon durch den
Tod der mütterlichen Pflege beraubt, hing sie mit grenzenloser
Liebe an ihrem Vater.
Dem Alten seinerseits ging der Gedanke, sich von seinem
liebsten Kinde trennen zu müssen, tiefer zu Herzen als selbst
der Schmerz über den Untergang des Vaterlandes und den Verlust
all seines Gutes und seiner Habe. Die Wechselfälle des äußeren
Glückes erträgt der Slave, weß Stammes er auch sei, mit fast
moslemitischem Gleichmuth – eine Erscheinung, die wohl
hauptsächlich in den unsicheren Zuständen in welchen alle
Slavenvölker leben, ihre Erklärung findet, – während die Bande
der Familie bei ihnen tiefer wurzeln als bei irgend einem
anderen Volke.
Die junge Gräfin vernahm das Verbannungsurtheil ihres
Vaters mit viel größerer Ruhe und Festigkeit als dieser
erwartet hatte, denn sie knüpfte daran gleich den
unwandelbaren Entschluß, ihren Vater zu begleiten, wohin auch
das Schicksal ihn führen möge. Doch war dieser Entschluß
leichter gefaßt als ausgeführt. Es bedurfte erst langer
Anstrengungen, warmer Verwendungen einflußreicher Männer, um
als eine besondere Gnade vom Kaiser die Erlaubniß zu erwirken,
daß die Tochter ihrem alten Vater in die Verbannung folge. Und
als die Erlaubniß endlich eintraf, war die Freude des zarten
Geschöpfes so groß, daß sie all ihr sonstiges Leid darüber
vergaß, gleich als ob es sich darum gehandelt hätte, eine
Lustreise zu machen, statt einer Wanderung in die sibirische
Wildniß, wohl über tausend Meilen weit.
Wer nie einen Zug Verbannter gesehen, wie sie auf dem Wege
nach ihrem weiten Ziele einherschwanken mit schlotternden
Knieen, Dutzendweise an eine eiserne Stange geschmiedet, das
Antlitz bleich von Schmerz und Entbehrung, oder verzerrt vom
Ausdruck der Verzweiflung, – der begreift nicht was es heißt,
in solcher Gesellschaft von einem Ende des riesigen
Zarenreichs bis zum andern zu pilgern, mit wunden Füßen und
wundem Herzen, hinter sich die verödete Heimath und vor sich
eine öde Zukunft.
Sechs bis zwölf Monate dauert – nach Maßgabe der Entfernung
des Verbannungsortes – gewöhnlich eine solche Pilgerfahrt, wo
das Laster neben der Unschuld wandert, das Verbrechen neben
der Tugend. Kosaken vom Don oder vom Ural, entartete
Nachkommen eines ritterlichen Volks, begleiten als Schergen
den traurigen Zug.
Wer vermag die einzelnen Züge der Leidensgeschichte zu
schildern, die eine solche Wanderung in sich schließt und die
von den Launen der Menschen, des Wetters und hundert
Zufälligkeiten abhängen!
Der roheste Verbrecher flößt Mitleid ein, wenn man ihn,
geknebelt wie ein wildes Thier, den Eisgefilden Sibiriens
zutreiben sieht . . . nun denke man sich in ähnlicher Lage ein
zartes, verwöhntes Wesen, dessen Erinnerungen alle in Eleganz
und anmuthiger Häuslichkeit wurzeln!
Die junge Gräfin ertrug die Irrsale der Reise mit einem
Muthe und einer Ausdauer, die den stärksten Mann beschämt
haben würde. Sie, die sonst jedem Luftzuge auswich, aus Furcht
sich eine Erkältung zuzuziehen, bot jetzt freudig dem
rauhesten Klima und allem Unwetter Trotz, wie denn überhaupt
den ächten Slavinnen eine merkwürdige Zähigkeit innewohnt. Die
russische Geschichte ist reich an Beispielen, daß Damen aus
den vornehmsten Fürstengeschlechtern, welche mit hingebender
Aufopferung ihren Gatten in die Verbannung folgten, den Weg
nach Sibirien hin- und zurückgemacht haben, ohne wesentlich
schädliche Folgen danach zu spüren. Ich erinnere hier nur an
die Namen Trubetzkoi und Dolgorucki . . .
Die junge Gräfin kam frisch und gesund an ihrem wüsten
Verbannungsorte an, während ihr Vater die Mühseligkeiten der
Reise mit weniger Glück ertragen hatte. Er wurde gleich nach
der Ankunft so bedenklich krank, daß sie für sein Aufkommen
fürchtete. Sie pflegte ihn mit der liebevollsten Sorgfalt,
aber die Kraft des alten Mannes war gebrochen, und wenn auch
die augenblickliche Todesgefahr glücklich beseitigt wurde, so
blieb doch wenig Hoffnung zu seiner gänzlichen
Wiederherstellung.
Seine Tochter wandte sich in ihrer trostlosen Lage an eine
alte vornehme Verwandte in Petersburg, welche in dem Rufe
stand, großen Einfluß bei Hofe zu haben. Es wurde in dem
Briefe besonders hervorgehoben, daß der alte Graf ganz
unschuldig verurtheilt worden sei, da er niemals eigenwillig
thätigen Antheil an der Revolution genommen, und daß er es
daher als eine große Gnade ansehen würde, den Fall nochmals
mit strenger Unparteilichkeit untersucht zu sehen.
Der Brief war mit aller Beredsamkeit und Wärme zärtlicher
Kindesliebe geschrieben und verfehlte seine Wirkung auf die
alte Dame in Petersburg nicht, wenn auch die Folgen etwas
lange auf sich warten ließen, wie das bei der großen
Entfernung des Verbannungsortes von Petersburg nicht anders
möglich war.
Der Kaiser hatte eben keinen persönlichen Groll gegen den
Grafen, und ließ sich daher ohne große Schwierigkeiten
bewegen, seine Einwilligung zu geben, daß die Gründe der
Verbannung nochmals einer strengen Prüfung unterworfen würden.
Von Zeit zu Zeit pflegen sogenannte
Inspektions-Kommissionen, gebildet aus jungen, angesehenen
Beamten, unter Vorsitz eines Senators oder Generals, aus der
Residenz in die entfernteren Provinzen des unermeßlichen
Reichs entsendet zu werden, zu dem Zwecke, genaue Kenntniß von
den Zuständen zu nehmen, alten Uebelständen abzuhelfen und
neue Verbesserungen einzuführen.
Das Schicksal wollte, daß kurze Zeit nach dem Eintreffen
des obenerwähnten Briefes eine solche Inspektions-Kommission
nach Sibirien entsendet wurde. Der Chef dieser Kommission,
Generalmajor Graf Oppermann, Adjutant und – wie man
behauptet – damals ein besonderer Günstling des Kaisers, was
einigermaßen durch den Umstand bestätigt wird, daß der Graf
als junger Dreißiger schon einen so hohen Posten bekleidete,
erhielt die Weisung, die auf die Verurtheilung des Verbannten
bezüglichen Papiere noch einmal gründlich zu prüfen, den
Inhalt an Ort und Stelle mit den mündlichen Aussagen des
Verbannten zu vergleichen, und seine Entscheidung danach zu
treffen.
***
Ein für die Ungeduld des Leidens langer Zeitraum hatte
zwischen dem Absenden des Briefes der jungen Gräfin nach
Petersburg und dessen Beantwortung gelegen. Aber der günstige
Inhalt der Antwort ließ sie schnell alle Drangsal der
Vergangenheit vergessen und hoffnungsvollen Blickes in die
Zukunft schauen. Es genügte ihr, die Gewißheit zu haben, daß
mit Vorwissen des Kaisers eine neue Untersuchung eingeleitet
werden solle; sie war so fest überzeugt von der Unschuld ihres
Vaters, daß sie in dem Ausgange der Untersuchung auch das Ende
der Verbannung erblickte.
Die hoffnungsfreudige Stimmung der Tochter verfehlte ihre
gute Wirkung auf den Vater nicht. Der Alte, welcher sich
längst darauf gefaßt gemacht hatte, in Sibirien sein Grab zu
finden, sah neue Bilder einer bessern Zukunft vor sich
auftauchen und ertrug die Leiden der Gegenwart mit Ruhe und
Ergebung, obgleich die Schicksalsschläge die ihn getroffen, zu
erschütternd auf ihn gewirkt, als daß er sich hätte gänzlich
davon erholen können . . .
Das Reisen einer russischen Inspektions-Kommission geht,
trotz der vielen und schnellfüßigen Pferde welche den Herren
überall zu Gebote stehen, ziemlich langsam von Statten. Die
Gesellschaft bildet eine vollständige Karavane, welche Bett,
Küche und Keller, kurz Alles mit sich führt, was zur Nothdurft
und Bequemlichkeit des Lebens gehört. Schon das tägliche Aus-
und Einpacken auf den Stationen verursacht einen erheblichen
Zeitverlust; noch mehr Zeit geht aber durch die vielen
herkömmlichen Formalitäten verloren. In jeder Provinzialstadt
wird Halt gemacht, werden Besuche gewechselt mit den Civil-
und Militairbehörden, werden die Merkwürdigkeiten besehen,
Diners mitgemacht und was dergleichen zeitraubende
Formalitäten und Vergnügungen mehr sind, welche in der
Geschichte solcher Reisen auf Regierungskosten gewöhnlich die
hervorragendsten Momente bilden.
Verging den Herren der Inspektions-Kommission die Zeit
schnell, so dauerte sie den armen Verbannten desto länger.
Ich habe einmal von einem Manne, der zehn Jahre im Kerker
zugebracht, erzählen hören, daß die drei Tage welche zwischen
der Ankündigung seiner Freilassung und der Freilassung selbst
lagen, ihm länger vorgekommen, als die zehn Jahre, welche er
in der Gefangenschaft verlebte.
In ähnlicher Weise wuchsen den armen Verbannten die Minuten
zu Tage, die Tage zu Jahren an, bis endlich die langersehnte
Stunde schlug, die den Grafen Oppermann in die Hütte
des kranken Polen führte.
Der Graf hatte schon vorher alle Einzelnheiten der Anklage
genau geprüft und bedurfte daher nicht langer Zeit, um durch
persönlichen Verkehr mit dem Angeklagten seine schon
vorgefaßte günstige Meinung von der Sache bestätigt zu sehen.
Das Herz der jungen Gräfin wurde leicht wie es seit lange
nicht gewesen, als ihr die Aussicht, ihren Vater wieder in
Freiheit zu sehen, so nahe gerückt war, – das Herz des Grafen
Oppermann aber wurde schwer, wie es nie gewesen, als
der Tag nahe war wo er sich von der schönen Polin trennen
sollte. Gleich beim ersten Anblick hatte das holdselige
Geschöpf einen unauslöschbaren Eindruck auf ihn gemacht. Seine
Zuneigung für die schöne Polin stieg bis zur heftigsten
Leidenschaft, als er sie in ihrem häuslichen Treiben und
Walten sah. Der weibliche Heldenmuth mit welchem sie ihr
hartes Geschick ertragen, die liebevolle Aufopferung für ihren
Vater, ihre Anmuth und Körperschöne, alles das hatte den
Grafen mit einem Zaubernetz umzogen, dem er nicht mehr
entgehen konnte, und je näher die Stunde der Trennung
heranrückte, desto klarer empfand er, daß es ihm leichter sein
würde, für immer mit der schönen Polin in der Verbannung zu
leben, als sich auf ein Kurzes von ihr zu trennen.
Er that, was er nicht lassen konnte: er hielt um ihre Hand
an, und – sie ward seine Frau. So wollte das Schicksal, daß
ihr das verrufene Land, welches sie unter so trüben Aussichten
betreten und wo sie so bittere Stunden verlebt, zum Paradiese
werden sollte. Das Maß ihres Glückes war voll; sie wußte ihren
Vater, an dem sie mit ganzer Seele hing, in Freiheit, und sie
hatte das schöne Bewußtsein, den wieder glücklich gemacht zu
haben, der sie glücklich gemacht.
Sie blieb mit ihrem Vater in T. bis ihr Gatte seine
sibirische Rundreise vollendet hatte, um dann in Beider
Begleitung die lange Reise nach Petersburg anzutreten.
***
In der russischen Kaiserstadt sind schöne Frauen selten.
Eine so liebliche und anmuthige Erscheinung wie die junge
Gräfin Oppermann, hatte man seit lange in den
Petersburger Salons nicht gesehen. Es war daher nur natürlich,
daß sie in hohem Grade die Aufmerksamkeit der eleganten Welt
auf sich zog und bis zu den Stufen des Thrones hinauf Anbeter
und Bewunderer fand. Es war eben so natürlich, daß sie, trotz
ihrer anspruchslosen Bescheidenheit, den Neid und die Mißgunst
anderer Damen rege machte, welche minder schön, aber
gefallsüchtiger waren als sie.
Ja, man flüsterte sich hier und da schon kluge Vermuthungen
zu über die eigentlichen Gründe, die den Grafen O. bewogen
haben mochten, die Untersuchung zu einem so günstigen Resultat
zu führen.
»Wo die Tochter so schön ist, da kann man den Vater schon
unschuldig finden!« An solchen und ähnlichen Bemerkungen
fehlte es nicht; doch wagte man nicht offen damit
hervorzutreten, so lange der Kaiser die schöne Polin ganz
besonderer Aufmerksamkeit würdigte.
Wir wollen hier nicht die Gründe untersuchen, welche
Veranlassung gaben, daß die Gunst des Kaisers für die schöne
Polin nicht von langer Dauer war.
Die Gräfin gehört zu jenen edleren weiblichen Naturen, die
ihrer Würde und ihrem Familienglücke alle übrigen Rücksichten
zu opfern wissen und deren Ehrgeiz nicht über den engen
häuslichen Kreis hinausreicht. Aber je weniger sie sich um die
Menschen bekümmerte, desto mehr bekümmerten sich die Menschen
um sie, und kaum merkte man, daß ihr Stern im Erbleichen war,
als man auch schon begann das mit lauter Stimme zu sagen, was
man bis dahin nur zu flüstern gewagt hatte. Niemand kannte
eigentlich die wahre Ursache der plötzlichen Sinneswandlung
des Kaisers, aber Jedermann fand, daß der Kaiser recht hatte,
seine Verehrung für die schöne Polin plötzlich in Ungnade zu
verwandeln. Nur sehr Wenige kannten die näheren Umstände der
Freilassung des Grafen R. und seiner Tochter aus der
Verbannung, aber Jedermann that überzeugt, daß Graf
Oppermann die Freiheit des alten Polen nur erwirkt habe,
um seine schöne Tochter heimführen zu können, und daß es daher
nur recht und billig sei, die Sache noch einmal einer
genaueren Prüfung zu unterwerfen.
Wie sich unter solchen Umständen voraussehen ließ, fiel die
Untersuchung dieses Mal zum Nachtheil des Angeklagten
aus . . .
Wir überlassen den alten, kranken Mann seinem unglücklichen
Schicksale, dem er bald als Opfer fiel – um die Geschichte des
Grafen Oppermann zu verfolgen, über den jetzt der
Kaiser die ganze Schale seines Zornes ausgoß. Er wurde
degradirt und nach dem Kaukasus in die Verbannung geschickt.
Die Gräfin, eine eben so treue Gattin wie Tochter, konnte sich
nicht entschließen, unter den ihr gemachten glänzenden
Bedingungen in Petersburg zu bleiben. Sie zog es vor, ihrem
Gemahl in's Exil zu folgen, um eine neue Schule von Leiden und
bitteren Erfahrungen durchzumachen.
***
Mehrere Jahre nach diesen Vorgängen finden wir den Grafen
Oppermann wieder als Oberst des in
Gori stehenden Infanterie-Regiments. Verschiedene
Reisende, welche in den letzten dreißiger Jahren Georgien
besuchten (u. a. Karl Koch) thun seiner Erwähnung und
rühmen die gastliche Aufnahme, welche sie in seinem, damals
schon durch einige Kinder vermehrten Familienkreise gefunden.
Er wäre der glücklichste Mensch gewesen, wenn er in dieser
Stelle hätte bleiben können, wo eine anmuthige Häuslichkeit
und ein paradiesisches Land Ersatz boten für die Entbehrungen
des Exils. Aber das Schicksal hatte es anders beschlossen. Auf
einer Rundreise welche der Kaiser durch seine kaukasischen
Provinzen unternahm, kam ihm auch sein ehemaliger Adjutant
wieder zu Gesicht, und er fand es für gut, ihn von Gori nach
Gelendshik zu versetzen, einem der ungesundesten Nester, deren
die Erde sich rühmen kann.
Hier ist der Graf inzwischen wieder zum Generalmajor
avancirt, die bösen Wirkungen des Klimas haben seine
Gesundheit aber bereits so zerrüttet, daß er es nicht lange
mehr aushalten wird. Sein Aufenthalt hier ist ein
fortwährendes Ankämpfen gegen die schlimmen Fieber und
Leberkrankheiten der Küste gewesen, die sein Haus häufig
vollständig in ein Lazareth umgewandelt haben. Hätte er dieses
Jahr nicht vor Eintritt der heißen Jahreszeit seine ganze
Familie nach Kertsch geschickt, die arme Frau mit den kranken
Kindern würde in Gelendshik den Sommer schwerlich durchgemacht
haben, wo die Menschen hinsterben wie die Fliegen . . .
***
Ich habe diese Geschichte möglichst kurz und einfach
nacherzählt, ohne alle poetische Zuthat, und mit Hinweglassung
mancher Einzelheiten, die nicht wohl in die Oeffentlichkeit
gehören.
Durch solche, der Wirklichkeit entnommene Bilder lassen
sich die Zustände eines Landes am besten veranschaulichen. Das
hier Gesagte umfaßt die Hauptpunkte dessen, was mir an
verschiedenen Orten und von verschiedenen Personen über die
Schicksale des Grafen Oppermann erzählt wurde. In den
wesentlichsten Punkten stimmten alle diese Erzählungen
überein, während sich in unwesentlichen Dingen mancherlei
Abweichungen zeigten. So wäre, nach einer Version, Graf
Oppermann nicht als Chef einer Inspektions-Kommission,
sondern in rein militairischen Angelegenheiten nach Sibirien
geschickt, und nach einer anderen Version wäre die Gräfin zum
zweiten Male ihrem Vater in die Verbannung nach Sibirien
gefolgt und erst nach dem Tode des Vaters zu ihrem Gatten
zurückgekehrt.
Ich lernte die Gräfin später im Hause des Statthalters von
Kertsch kennen, und fand Alles, was man mir Günstiges von ihr
gesagt hatte, im hohen Grade zutreffend.
Man sah es dem Gesichte an, daß sie viel gelitten, aber
zugleich, daß das Unglück nur veredelnd auf sie gewirkt. Ihr
schönes, seelenvolles Auge und der frische, empfängliche
Geist, der sich bei jeder Gelegenheit offenbarte, bewirkten,
daß sie immer noch den Eindruck einer jugendlichen Erscheinung
machte. Ich fand es natürlich, daß sie es sorgfältig vermied,
von ihrer Vergangenheit zu sprechen, aber es fiel mir damals
auf, daß sie bei verschiedenen Gelegenheiten vom Kaiser mit
einer Ehrfurcht sprach, welche, in Zusammenhang gebracht mit
der oben erzählten Geschichte, meinem Gefühl etwas
widerstrebte.
Ich habe seitdem jedoch öfter die Erfahrung gemacht, daß
selbst Männer, deren Lebensglück durch ähnliche Schicksale
gebrochen war, zuletzt dahin kamen an ihrem eigenen Urtheile
irre zu werden.
Der Machtumfang des russischen Selbstherrschers, obgleich
auf unsittlicher und unnatürlicher Grundlage ruhend, hat etwas
so Gewaltiges, Uebermenschliches, daß der hartnäckigste
Widerstand des Einzelnen sich über kurz oder lang daran
bricht, und der Trotz sich in stumme Ergebung, bei schwächern
Naturen in Ehrfurcht verwandelt.