Viertes KapitelGiorgi, und das Christenthum in Rußland
Es war am Vorabend meiner Abreise von
Osurgethi. Giorgi packte meine Sachen ein, während ich Anstalt
traf, mir Thee zu bereiten, ein Geschäft, das ich immer selbst
verrichtete, seit es sich einmal ereignet hatte, daß mir
Giorgi auf unserer Wanderung durch's Paschalik Achalzich, aus
Versehen persisches Insektenpulver statt des Thee's in den
Topf geschüttet, und den schönen Thee dafür in's Bett gestreut
hatte, um das Ungeziefer des Hauses dadurch fern zu halten.
Verfehlte der Thee seine Wirkung auf das Ungeziefer, so
wirkte das ursprünglich für dieses bestimmte Pulver auf mich
desto stärker, und geplagt von Innen und Außen brachte ich
eine schreckliche Nacht zu.
Ich hatte natürlich gleich beim Trinken gemerkt, daß etwas
Absonderliches mit dem Thee vorgefallen sein mußte, aber
schrieb es Anfangs der starken Beimischung von Rum zu, bis ich
zufällig der Sache auf den Grund kam.
Doch kehren wir von dieser kleinen Abweichung zurück zu
unserer Geschichte!
Giorgi zeigte sich bei dem Einpacken so zerstreut und
schnitt so demuthsvoll-verlegene Mienen, wie ich Aehnliches
früher nie an ihm bemerkt. Alle Augenblick machte er sich um
meine Person zu schaffen und sah mich dann immer so verlegen
an, als ob er etwas Schweres auf dem Herzen habe und doch
nicht wage, damit herauszurücken.
Ich hatte die Kanne vom Roste genommen, um mir Thee
einzuschenken, wobei ich mich statt einer Tasse meines großen
Reisebechers bediente, und eben wollte ich den Trank an die
Lippen bringen, nachdem ich den überheißen Topf auf den Tisch
gestellt, als Giorgi auf den Kohlenbehälter zustürzte und mit
ängstlicher Hast die Kanne wieder auf den Rost setzte. »Aga!
Aga! was haben Sie gemacht!« – rief er in klagendem Tone –
»Wie viele arme Kinderseelen mag der Teufel (scheitan)
jetzt schon auf dem Roste verbrannt haben!«
War mir der Mensch schon den ganzen Tag hindurch
räthselhaft vorgekommen, so wußte ich doch in jenem
Augenblicke am allerwenigsten, was ich aus ihm machen sollte.
»Giorgi, bist Du nicht recht bei Sinnen?« fuhr ich ihn an,
»was hast Du mit der Theekanne zu thun? Warum bleibst Du nicht
beim Einpacken?«
Statt aller Antwort schüttelte er ernst den Kopf und hielt
die Kanne mit der Hand auf dem Roste fest.
Nach vielen Fragen kam ich endlich der Sache auf den Grund
und erfuhr (was nach Giorgi's Voraussetzung jedes Kind wissen
müßte), daß nach dem Aberglauben der Armenier niemals ein
Eisen über das Feuer gelegt werden dürfe, ohne daß etwas
darauf gestellt werde, weil sonst der Teufel das Recht habe,
die Seelen der Kinder darauf zu verbrennen!
»Woher weißt Du das denn?« fragte ich ihn weiter, begierig,
den Ursprung dieses seltsamen Aberglaubens zu erforschen.
»Verlassen Sie sich darauf! Verlassen Sie sich darauf!«
rief er, in sichtbarer Verlegenheit, wie er den Respekt vor
mir mit meiner Unwissenheit in Einklang bringen solle. »Warum
erzeugt der Hasenschwanz Schlaf, wenn er unter das Kissen
eines Kindes gelegt wird? Warum giebt das Wolfsauge Muth,
Jedem der es trägt? Wer kann den Schleier heben vom Buch der
Geheimnisse? Reibt eine Frau mit Wolfsfett ein und sie wird
unfruchtbar werden und ihr Mann wird nie wieder den Arm des
Verlangens nach ihr ausstrecken – reibt sie mit der Galle des
Wolfes ein und sie wird gesegnet werden mit Leibesfrucht und
ihr Mann wird ihr nie untreu werden. Wir wissen, daß dem so
ist, aber wir wissen nicht, warum?«
»Ich frage Dich auch nicht, warum dem so ist, ich frage
Dich nur, woher Du es weißt?«
»Das lernt sich wie essen und trinken! Was man von Vater
und Mutter gehört, vergißt sich nicht leicht wieder und wenn
man auch noch so weit umher kommt in der Welt, wie es mein
Schicksal gewesen. Die alten Frauen sind nicht mundfaul in
Armenien, und wenn ich Ihnen Alles erzählen wollte, was mir
aus der Kindheit im Gedächtniß geblieben, die Geduld würde
Ihnen bald ausgehen, es anzuhören. Ich sollte ja eigentlich
auch ein Wartabed (Gottesgelehrter) werden, aber es kam etwas
dazwischen und da ging ich auf Reisen, und bin auf Reisen
geblieben bis auf den heutigen Tag. Gute Herren habe ich immer
gefunden und Essen und Trinken, und auch wohl einen
Sparpfennig für meine alten Tage; aber wenn ich das gewußt
hätte, Aga! es wäre nicht so gekommen . . . . . nein Aga! ich
hätt's wahrhaftig nicht gethan, wenn ich gewußt hätte« –
»Wenn Du was gewußt hättest?« fragte ich neugierig.
»Daß – seien Sie nicht böse! – daß – Sie kein reicher Mann
sind!« . . . . .
Das Eis war gebrochen und in viel freierem Tone fuhr er mit
gewohnter Geschwätzigkeit fort:
»Ich will Ihnen Alles gern wiedergeben! es kommt mir nicht
darauf an. Ich weiß auch nicht, wie ich bei Ihnen dazu
gekommen bin, aber es war mir so in der Gewohnheit aus
früherer Zeit, wo es immer flott herging, wenn ich nach
Teheran, Tauris, Moskau, oder zur Messe nach Makariew (Nischny-Nowgorod)
kam. Meine Herren waren reiche Kaufleute, die viel draufgehen
ließen, und besonders der letzte, der alte Tomamschew von
Tauris, nahm es nie sehr genau, wenn er ein gutes Geschäft
gemacht hatte. Bei dem alten Herrn habe ich einmal in Einem
Winter dreihundert Silberrubel verdient« . . . ..
»Dreihundert Silberrubel in Einem Winter?« unterbrach ich
ihn, etwas ungläubig.
»Ja, Herr! in Einem Winter, und zwar in einer einzigen
Woche!« – fuhr er in sehr sicherem Tone fort. »Es war in der
Masslenitza in Moskau. Mein Herr hatte in dem großen
Traktir auf der
Maraseka mit andern Kaufleuten bis spät in die Nacht
hinein gezecht und mehr getrunken, als nöthig war.
»Skurjätin, ein alter Kaufmann, der die Zeche bezahlen
mußte, war so benebelt, daß er kaum auf den Beinen stehen
konnte und daß mein Herr sich veranlaßt fühlte, ihm einen
Platz in unserm Schlitten anzubieten, um ihn vor den großen
Unannehmlichkeiten zu wahren, denen Trunkene in russischen
Städten durch die Polizei ausgesetzt sind.
»Der Iswoschtschik (Kutscher), der während des langen
Wartens unten auch wohl ein Glas zuviel getrunken haben
mochte, setzte seine Pferde so in Tritt, daß wir gleich am
Anfange unserer Fahrt, beim Einbiegen in die Straße neben der
Börse umschlugen und allesammt in den Schnee stürzten, wie das
so oft bei den Moskowiter Schlittenfahrten vorkommt.
»Dem alten Skurjätin fiel bei der Gelegenheit seine dicke
Brieftasche aus dem Kaftan; ich hob sie auf und überreichte
sie ihm. Anstatt mir jedoch dafür zu danken, überschüttete er
mich mit Schimpfworten und warf mir die Brieftasche an den
Kopf. Ich wollte sie nun selbst einstecken, aber mein Herr,
der trotz aller Trunkenheit für dergleichen immer ein scharfes
Auge hatte, befahl mir, ihm die Brieftasche zu geben, er wolle
sie aufbewahren bis morgen. Darauf steckte er sie in seinen
Pelz. Kaum waren die beiden Alten unter großen Anstrengungen
wieder in den Schlitten gestiegen, als sie einer nach dem
andern einschliefen. Der Weg, den wir zu fahren hatten, war
weit. Ich konnte dem Drange der Neugier nicht widerstehen,
einen Versuch zu machen, die Brieftasche noch einmal in meine
Hand zu bekommen, um zu sehen, was darin war. Der Versuch
gelang. Und da ich einmal einen Blick hineingeworfen und eine
Menge Banknoten darin entdeckte, so nahm ich drei davon
heraus, verbarg sie in meinem Kaftan und steckte darauf die
Brieftasche wieder in den Pelz meines Herrn.
»Ich fühlte wohl, daß ich Unrecht gethan, aber es freute
mich, dem alten reichen Skurjätin, der mich immer so derb
anfuhr, einen Possen zu spielen, und dann wäre ja auch ohne
mich seine Brieftasche ganz verloren gegangen; ich hatte sie
ihm gerettet, und glaubte eine Belohnung dafür zu verdienen,
die ich mir gleich selbst nahm, um ihrer gewiß zu sein.
»Vor Skurjätin's Hause machten wir Halt. Ich weckte den
Alten und sorgte dafür, daß er in sichere Obhut kam. Als wir
eine Viertelstunde später in unserer Wohnung anlangten, war
mein Herr durch den Schlaf, die Kälte und die lange Fahrt
wieder ganz frisch geworden. Ich selbst machte ihn aufmerksam,
die beigesteckte Brieftasche nicht zu vergessen. Er nahm sie
aus dem Pelze und legte sie sammt seiner eigenen Brieftasche
in ein vor seinem Bette stehendes Kästchen, worin er sein Geld
zu verschließen pflegte.
»Kaum waren wir am folgenden Tage aufgestanden, als
Skurjätin ganz außer sich zu meinem Herrn ins Zimmer stürzte
(wo ich eben mit den Vorbereitungen zum Frühstück beschäftigt
war), und sich erkundigte, ob wir seine Brieftasche nicht
gefunden hätten, die er bei der nächtlichen Fahrt verloren
haben müsse. Es seien eine Menge werthvoller Papiere, Wechsel
und Banknoten darin enthalten.
– »Ich habe sie selbst zu mir genommen und der Vorsicht
wegen verschlossen« – sagte mein Herr, indem er die
Brieftasche aus dem Kästchen nahm und sie Skurjätin
überreichte.
»Unter tausend freudigen Danksagungen nahm dieser den
geretteten Schatz entgegen, überzählte schnell den Inhalt, und
sein Gesicht umdüsterte sich ein wenig, als er mit dem
Durchblicken der Papiere fertig war. Ich hörte, wie er vor
sich hinmurmelte: – »Sollte ich das Geld wo anders hingelegt
haben?« – Darauf empfahl er sich, ohne weiter etwas zu sagen.
»Ich war den ganzen Tag über mit Gängen und Besorgungen in
der Stadt beschäftigt und als ich Abends nach Hause kam, fand
ich meinen Herrn in sehr übler Stimmung. Ich erfuhr bald die
Ursache seiner Gemüthsbewegung: Skurjätin war wieder bei ihm
gewesen, um über die fehlenden Banknoten Rücksprache zu
nehmen. Tomamschew, der seiner Meinung nach die Brieftasche
bis zum letzten Augenblick ungeöffnet in Verwahrung gehabt
hatte, fühlte sich durch die Aeußerungen Skurjätin's beleidigt
und wies nach einem heftigen Wortwechsel seinem
Geschäftsfreunde die Thüre.
»So standen die Sachen, als ich nach Hause kam. Mir war
sehr angst bei der Geschichte; ich fand jedoch einigen Trost
darin, daß kein Verdacht auf mich gefallen war und daß bei
einem Bruche zwischen den Beiden der Schaden immer auf Seite
Skurjätin's blieb, der von meinem Herrn viel Geld verdiente
und deshalb Alles daran setzen mußte, um wieder anzuknüpfen.
»Ich begegnete ihm am folgenden Tage auf dem Bazar in der
Kitaïsky Gorod. An der ganz besonderen Freundlichkeit,
womit er mich begrüßte, merkte ich bald, daß er etwas im
Schilde mit mir führte. Er reichte mir die Hand, bat mich, ihn
in's Traktir zu begleiten, um einen kleinen Imbiß zu nehmen
und war des Lobes voll über meine vortrefflichen
Eigenschaften.
»Nachdem wir ein gutes Glas Wein zusammen getrunken hatten
und ihm die Zunge geläufig geworden war, rückte er mit der
Sprache heraus. Erst sagte er, wie leid es ihm thue, daß ein
so unglückliches Mißverständniß zwischen ihm und meinem Herrn
entstanden sei; das unerklärliche Verschwinden der drei
Banknoten (jede 100 Rubel an Werth) habe ihn zwar sehr
geschmerzt und augenblicklich in schlechte Laune versetzt,
aber am Ende sei doch der Gegenstand nicht so erheblich, um
einen Bruch zwischen alten Geschäftsfreunden zu rechtfertigen;
er (Skurjätin) wollte gern das Doppelte verlieren, wenn er
seine alte Verbindung mit Tomamschew wieder herstellen könnte.
Und nun machte er mir geradezu den Antrag, ich sollte mich
stellen, als hätte ich das Geld heimlich beseitigt; für diesen
Freundschaftsdienst bot er mir eine erkleckliche Summe, und
für den Fall, daß ich den Dienst darüber verlieren sollte,
wollte er mir eine andere, noch einträglichere Stelle
verschaffen.
»Erst stellte ich mich entrüstet über den Antrag, ging aber
bald darauf ein, als ich sah, daß es ihm Ernst damit war. Den
scheinbar leichteren Ausweg, zu sagen, er habe das Geld
nachträglich gefunden, wollte er um jeden Preis vermeiden,
denn er kannte die große Genauigkeit meines Herrn, der eine
solche Unordnung schon an und für sich als Grund zum Bruche
angesehen haben würde . . .
»Ich warf mich dem alten Tomamschew zu Füßen, und machte
ihm ein so rührendes Geständniß meiner Sünde, daß der gute
Herr mir Alles verzieh. Bald war auch die Freundschaft mit
Skurjätin wieder hergestellt und nach Abzug der Unkosten für
die Absolution beim Priester blieben mir gerade dreihundert
Silberrubel übrig als Gewinn bei dem Geschäfte.«
»Du bist mir ein schöner Spitzbube!« – rief ich, als Giorgi
seine Geschichte geendet. – »Aber hattest Du denn gar keine
Gewissensbisse mehr, nachdem der Priester Dir die Absolution
ertheilt?«
»Nein,« – entgegnete er sehr gelassen – »wozu hätte ich
sonst das schwere Geld ausgegeben?«
Ich machte ihm noch einige andere in's Gewissen redende
Bemerkungen, aber er antwortete sehr kurz darauf. Der einzige
Zweck seiner Erzählung war gewesen, mir zu beweisen, daß er
Gelegenheit genug gehabt habe, sich ein Stück Geld zu
verdienen, und daß es ihm kein zu großes Opfer sei, mir das
zurückzuerstatten, was er, in dem Wahne, ich sei ein reicher
Mann, mir zuviel auf die Rechnung geschrieben.
Natürlich ließ ich mich nicht darauf ein, so sehr er auch
bat und flehete; aber von jenem Tage an reiste ich beispiellos
wohlfeil und hatte eben so oft Gelegenheit, mich über die
Billigkeit der Lebensmittel u. s. w. zu wundern, wie früher
über das Gegentheil.
***
Ich habe diese Geschichte mit einiger Ausführlichkeit
wiedergegeben, da sie einen Blick thun läßt in die Gefühls-
und Gedankenwelt einer ganzen Menschenklasse, deren Kenntniß
mindestens eben so wichtig ist, als die Kenntniß seltener
Steine, Vögel und Pflanzen.
Man kann Giorgi als Repräsentanten derjenigen Armenier
seiner Bildungsstufe betrachten, welche mit den Russen in
längeren und näheren Beziehungen gestanden haben.
Es ist unglaublich, wie entsittlichend und verderblich der
russische Einfluß auf alle dem Scepter des weißen Zaren
unterworfenen Völkerschaften einwirkt. Die landesthümlichen
Sitten und Gebräuche, welche seit Jahrhunderten die Stelle der
Gesetze vertraten, verschwinden vor den fremden
Eindringlingen, ohne daß etwas Besseres dafür geboten würde.
Die Unterschiede im Guten werden verwischt und das Schlechte
wird verallgemeinert, wie das Unkraut überall leicht
fortwuchert, während die Blumen und Fruchtbäume sorgfältiger
Pflege bedürfen.
Diese Pflege können die Russen nicht ausüben, weil sie
ihnen selbst nie zu Theil geworden ist. Sie können die
ureinwüchsigen Uebel und Laster der Völker nur vermehren, ohne
ihnen ein sittliches Gegengewicht zu geben.
Das einzige, was sie mitbringen in die eroberten Länder,
sind neue Zwangsmittel des alten Zwangsstaates, neue Formen
des Betruges, der Lüge und des Mißbrauchs der Kirche zu
polizeilichen Zwecken.
Veranschaulichen wir kurz das Gesagte an den beiden uns
hier zunächst liegenden Ländern: Georgien und Armenien, denen
der Kaiser bisher für alle ihnen abgedrungene Opfer nichts
Anderes hat bieten können, als einen französischen Frack und
die russische Sprache.
Was ist diesen Leuten damit gedient, daß sie, um nach dem
herrschenden Vorurtheil einen Anstrich von Bildung zu
erlangen, in Kleider und Handschuhe von französischem
Zuschnitt hineingezwängt werden auf Kosten ihres malerischen
National-Kostüms?
Was ist ihnen ferner damit gedient, sich ihrer eigenen
Sprache und Sitte zu entäußern, um russische Sprache und Sitte
dafür anzunehmen?
Sowohl die georgische wie die armenische Literatur kann
sich der russischen vollkommen gleichstellen. Was die Russen
hier Neues zu bieten haben, gehört nicht ihnen selbst an,
sondern ist verstümmelt und verfälscht den Deutschen,
Engländern und Franzosen entlehnt.
Soll russische Gelehrsamkeit etwa die Vermittlerin zwischen
diesen Ländern und dem klassischen Alterthum spielen? Ein
einziger Blick in den Katalog der alten Bibliothek von
Etschmiadsyn genügt, um zu zeigen, daß das unnöthig ist.
Wie die Armenier eine vortreffliche Bibelübersetzung
hatten, ein halbes Jahrtausend bevor die Russen etwas vom
Christenthum wußten, so hatten sie auch Uebersetzungen und
Nachbildungen der alten Klassiker, lange bevor das Zarenthum
aus den Trümmern der Republik Nowgorod emporwuchs, ein Grab
der Kultur der alten, und eine Geißel der neuen Welt.
Oder meint Ihr etwa, Rußland habe den Ackerbau, den Handel,
die Gewerbe, die Industrie Georgiens und Armeniens gefördert?
Nur wenige der Landeskinder finden in Werkstätten ihr Brot,
aber viele finden auf dem Schlachtfelde ihren Tod.
Der Ackerbau erinnert noch an die Urzustände menschlicher
Thätigkeit und wurde nur hin und wieder von solchen
Statthaltern gefördert, welche, wie Fürst Woronzow, eine
Privatliebhaberei daraus machten.
Von den Gewerben blühen nur diejenigen, welche die
Werkzeuge des Krieges, Waffen und Rüstungen liefern.
Und wie kann dem anders sein in Ländern, wo seit mehr als
einem halben Jahrhunderte alle menschliche Thätigkeit im
Großen nur auf Kampf, Mord und Zerstörung gerichtet war, und
die Verdienste der Menschen nur berechnet werden nach der Zahl
ihrer Mitmenschen, die sie getödtet.
Die Künste des Friedens lieben den Lärm des Krieges nicht
und fliehen verscheucht zurück vor Kanonendonner,
Schlachtdrommeten und Roßhufgestampf.
Was bleibt, nach dem Gesagten, den Eroberern noch übrig,
zum Heil dieser Länder zu thun?
Wer aufmerksamen Blickes und Ohres das weite Zarenreich,
das drei Welttheile umstrickende, durchwandert, und dann die
Summe seiner Betrachtungen zieht, dem schaudert bei dem
Gedanken an die Geschicke, welche dieser Länderkoloß noch zu
erfüllen hat.
Wer an der bevorstehenden Erfüllung dieser Geschicke
zweifelt, kennt die Geschichte und kennt Rußland nicht.
So unterschieden von Ursprung und Interessen die
buntzusammengewürfelten Horden auch sein mögen, welche dieses
Riesenreich bilden, es giebt Ein gewaltiges Band, das sie Alle
zusammenhält: die byzantinische Kirche! Wer nicht
hineingehört, wird hineingezwängt und ehe das kommende
Jahrhundert beginnt, werden alle Bewohner Rußlands Eines
Glaubens sein.
Schon jetzt umschließt jenes große Netz, dessen Maschen die
Newa und die Wolga, der Don und der Dnjepr, der Kyros und der
Araxes bilden, eine vorwiegend christliche Bevölkerung, in
deren Mitte die zerstreuten islamitischen Stämme, die
Nachkommen der goldenen Horde, sich wie Tropfen im Ozean
verlieren.
Welch eine wundersame Fügung des Schicksals, daß Rußland,
dessen Regierungsprinzip den diametralen Gegensatz
christlicher Satzung bildet, gerade das Christenthum zum Eck-
und Schlußstein seiner Macht gestalten muß! Und eine nicht
minder wundersame Fügung des Schicksals ist es, daß der Zar
überall, wohin er seine weitausgreifenden Arme streckt,
christliche Anhaltspunkte findet, an welche er die
Schicksalsfäden der von ihm künstlich zerstreuten Bekenner des
Islam knüpfen kann: Armenien zu den Füßen des Ararat, und
Georgien zu den Füßen des Kaukasus!
Welcher Art aber ist dieses Christenthum, das so viele
Millionen Menschen zu einem großen Ganzen zusammenschmilzt und
ihnen als Triebfeder dient zu Kraftäußerungen, welche über
kurz oder lang der alten Welt eine neue Gestaltung geben
werden?
Folgt mir einen Moment in das russische Mutterland, um
einen flüchtigen Blick auf die dort herrschenden religiösen
Zustände zu werfen!
Seht jenen armen Soldaten, der müde und hungrig vom langen
Marsche, erst sein Gebet verrichtet, bevor er Speise zu sich
nimmt und die Ruhe sucht.
Er zieht ein kleines Heiligenbild aus der Tasche, spuckt
darauf und wischt es ab mit dem Aermel seines Rockes; dann
setzt er es nieder auf die Erde, kniet hin davor und
bekreuzigt sich, und küßt es in frommer Andacht.
Oder tretet Sonntags mit mir in eine der düstern,
bildergeschmückten russischen Kirchen. Wenn nicht schon die
Kleidung der Anwesenden die Standesunterschiede bezeichnete,
Ihr würdet diese Unterschiede erkennen an der Art und Weise
wie ein Jeder sein Kreuz schlägt.
Betrachtet zunächst jenen vornehmen Herrn, der vor dem
wunderthätigen Kasan'schen Muttergottesbilde stehen bleibt,
sich leise verbeugt und andeutungsweise bekreuzigt. In's
Deutsche übersetzt, würde die Mienensprache dieses Herrn etwa
folgendermaßen lauten: »Ich weiß, daß dies Alles nur ein
frommer Unsinn ist, aber man darf den Leuten kein Aergerniß
geben, sonst geht alles Ansehen verloren. Würde das Volk sich
länger für uns plagen, wenn es den Anweisungen nicht mehr
traute, die wir ihm auf die Freuden des Himmels ausstellen
lassen?«
Nun sehet jenen kaftanbekleideten, feisten Kaufmann, der
verschmitzten Blickes und sichern Schrittes auf den Priester
losgeht, um seine Seele von den Schachersünden der vergangenen
Woche befreien zu lassen.
Er kennt den Priester und weiß, daß ein gutes Stück Geld
bei diesem eine gute Stätte findet; darum geht er so sicher,
in dem Bewußtsein, die ganze Sündenrechnung in Bausch und
Bogen abmachen zu können. Und wie die Absolution vorüber ist,
stellt er sich vor das wunderthätigste Heiligenbild hin und
schlägt so gewaltige Kreuze, daß vor dieser Arbeit auch die
letzten Skrupel seiner Seele verschwinden müssen.
Betrachtet jetzt jenen armen Bauern, der demüthig zur
Pforte hereinschleicht und sich scheu umsieht in den
Weihrauch-durchwölkten Hallen. Es ist des Glanzes, der Pracht
zuviel für den armen Schelm.
»Gott! – denkt er – was ist der Kaiser doch für ein
gnädiger Herr, daß er so schöne Kirchen bauen läßt für uns
arme Teufel! Gott segne den Kaiser!«
Und dann schleicht er schüchtern auf irgend ein
Heiligenbild los, wo der goldene Grund und die braunen Farben
am grellsten kontrastiren und wirft sich nieder davor und
schlägt mit der Stirn die Erde, daß die langen Haare ihm weit
über's Gesicht fallen, und er mühet sich so ab im
Körperverbeugen und riesigen Kreuzschlagen, bis er nicht mehr
kann vor Erschöpfung. Denn je ärmer der Mensch in Rußland,
desto größer das Kreuz das er schlägt und trägt.
***
Wir verlassen Osurgethi bei Sonnenaufgang und werfen einen
letzten Rückblick auf das blühende Land und dessen
Gebirgsketten, die es durchziehen und umragen.
Der Morgen ist ruhig und frisch. Ueber dem dunklen Grün um
uns her schweben weiße, weithin verschwimmende Streifen, die
immer lichter und durchsichtiger werden, je weiter der Tag
heraufsteigt. Im Norden die schneebedeckten Kuppen des
wildzerklüfteten Kaukasus! Schon ergießt es sich über die
Höhen des Elborus wie ein Feuermeer, und immer weiter steigt's
herab und springt in blendendem Farbenspiel von Berg zu Berg,
von Fels zu Fels. Wir wenden das staunende Auge nach Süden,
den adsharischen Bergen zu, welche Guria von Anatolien
scheiden und uns im frischesten Morgenglanze
entgegenschimmern. Von dort lassen wir die Blicke nach Westen
schweifen, wo sich das Schwarze Meer in unabsehbarer Weite vor
uns aufthut, blitzend und leuchtend wie die Sonne selbst.
Dahin führt unser Weg.
Aus dem reizenden, mit Mais und Hirse und
rebenumschlungenen Bäumen bedeckten Thale, wo Osurgethi liegt,
wenden wir uns, dem Laufe der Natanebi folgend, nach
St. Nikolaus, einem elenden, hart an der türkischen Grenze auf
einer Sanddüne gelegenen Küstenfort, durch nichts
bemerkenswerth als durch seine schlechte Luft und Lage. Von
hier kehren wir über Poti und Redoute-Kalé an die Küste des
Tscherkessenlandes zurück.