Erstes KapitelGuria
Noch einmal – bevor wir unsere letzte
Küstenfahrt antreten zu den kriegerischen Stämmen der
Dshigeth und Schapßuch – führe ich Euch zurück in
den Schatten der Wälder von Kolchis.
Einen passenden Vergleich zur Veranschaulichung dieser
majestätischen Pflanzenwelt wüßte ich nicht zu machen, denn
weder vor- noch nachher habe ich eine ähnliche Größe, Fülle
und Frische vegetabilischer Gestaltungen gesehen.
Riesige Eichen, Buchen und Erlen rauschen heimathliche
Erinnerungen in uns wach, wie grüne Moscheenkuppeln wölben
sich über uns die großblättrigen Kastanienbäume, und wie
Kirchthürme steigen die glänzenden Silberpappeln aus dem
Waldheiligthume hervor. Der Kirschlorbeer, die Myrthe und
förmliche Wände von Buchsbaum und Mispelgesträuch drängen sich
bis dicht ans Meer. Bis zu den Gipfeln der höchsten Bäume
klettert die wilde Rebe empor und läßt ihre Ranken lang
herabhängen, wie losgerissene Maschen des grünen Netzes
welches den ganzen Urwald umspannt. Lianen, Hopfen, Epheu –
kurz Schling- und Schmarotzerpflanzen aller Art, die
Diplomaten des Waldes, kriechen von Baum zu Baum, von Zweig zu
Zweig, den Boden seiner besten Kräfte beraubend, blos um Alles
zu verwirren und zu umstricken. Weder die starke Eiche noch
die mächtige Hagebuche, weder der ernste Lorbeer noch die
keusche Myrthe kann sich den Umarmungen dieser üppigen
Parasiten entwinden.
Es herrscht hier ein wirres Durcheinander, ein
gegenseitiges Drängen und Unterdrücken, ein nutzloses
Vergeuden der edelsten Kräfte, daß, wie Naturforscher
behaupten, viele Bäume schon vor der Zeit hinsterben, getödtet
durch ihre schmarotzende Umgebung.
Nur selten betritt eines Menschen Fuß das Innere dieser
unwegsamen Waldungen, wo man am Tage nichts hört als das
Zwitschern und Singen der Vögel, während zur Nachtzeit eine
zahllose Menge von Schakalen ihr unheimliches Gewimmer erhebt.
Die Natur ist hier zur Verschwenderin geworden, aber Keiner
zieht Nutzen davon und nur Wenige haben Freude daran. Nirgends
mehr als hier finden die sinnigen Verse Young's ihre
Bestätigung, wo er von der Natur sagt:
»In distant wilds, by human eye unseen,
She rears her flowers and spreads her velvet green;
Pure gurgling rills the lonely desert trace
And waste their music on the savage race.«
Lebendig gedachte ich oft inmitten dieser strotzenden
Pflanzenwelt des fernen Nordens, wo man in verkrüppelten
Exemplaren mühsam zieht, was hier, ungepflegt durch
Menschenhand, in so übermüthiger Fülle gedeiht.
Und doch preise ich glücklicher jene Länder, wo der Mensch
im Schweiße seines Angesichts der Natur mühsam abringt, was
ihm Nutzen und Freude bringt, als dieses kolchische Wunderland
mit seinen immergrünen Hainen, wo keiner des Segens genießt
den die Erde ihm bietet. Denn dieses Land ist, trotz seiner
Naturwunder, eine Wüste – und die Menschen die hier hausen,
sind, trotz ihrer Körperschöne, ein verkommenes Geschlecht.
***
Dort, wo die kolchische Vegetation sich in wildester Pracht
und Fülle entfaltet, zwischen dem Rion und Tscholok,
liegt Guria, ein mit allen Reizen der Natur
geschmücktes Ländchen, dessen Bewohner seit Alters als der
schönste Stamm kartwel'scher Race
- die Georgier.
- die Imerier.
- die Gurier.
- die Mingrelier.
- die Suanen (Suaneten).
Alle diese Völker sind Zweige Eines Stammes und bildeten
einst, nebst vielen andern, einen großen Staatskörper, dessen
Haupt Georgien war. Ebenso sind die Sprachen, die sie
reden, Töchter einer Mutter, der georgischen Sprache,
deren Herrschaft sich während der kurzen Blüthezeit Georgiens
vom Schwarzen bis zum Kaspischen Meere, vom Terek bis
zum Araxes erstreckte. Die Unterschiede, welche sich im
Laufe der Jahrhunderte unter den Völkern kartwel'scher Race in
Sprache, Physiognomie und Sitte erzeugt haben, sind das
natürliche Resultat ihrer geographischen Lage, so wie des
Einflusses, welchen sie bei ihrer steten Berührung mit den
kriegerischen Nachbarvölkern ausgesetzt waren. S. darüber:
Bodenstedt, die Völker des Kaukasus. (Frankfurt a. M.)p. 43. gelten.
Die Geschichte dieses Ländchens knüpft sich nur an die
Namen der fremden Eroberer, denen es, soweit unsere Kunde
zurückreicht, immer unterworfen gewesen. Daher konnte die
Bevölkerung, trotz der glücklichsten Naturanlagen, nie zu
einer selbstständigen Kraftentwickelung kommen. Denn wo die
politische Selbstständigkeit und die Sicherheit des Eigenthums
fehlt, ist Kultur und Wohlstand unmöglich.
Die jetzt unter Türken und Russen getheilte Ländermasse,
welcher Gurien ursprünglich angehört, war im grauen Alterthume
bekannt unter dem Namen Aethiopia, wurde später nach der dort
herrschenden Priesterkaste Kolchis und zuletzt nach dem
lasischen Volksstamme Lazia oder Lazica genannt.
Fallmerayer, Geschichte des Kaiserthums
von Trapezunt. (München 1827.) p. 3.
Lange Zeit wahrten die Herrscher des Landes, welche, zu
ohnmächtig Guria vor fremden Einfällen zu schützen, nur dazu
dienten das Volk mit aussaugen zu helfen, eine gewisse
Schein-Souverainität, bis im Jahre 1810 der letzte
Guriel, Mamia, nothgedrungen sich den Russen
unterwarf. Seine ehrgeizige Gemahlin Sophie machte
später einige fruchtlose Versuche, mit Hülfe der Türken wieder
in den unabhängigen Besitz ihres Ländchens zu gelangen. Diese
Bestrebungen dienten jedoch nur dazu die russische Herrschaft
zu befestigen. Durch den für die Türken so unglücklichen
Ausgang des Krieges zwischen Rußland und der Pforte wurde
Guria dauernd dem Zaren unterworfen.
Das ganze Land zählt, auf einem Flächen-Inhalte von
1800 □Werst nur 18,000 männliche Einwohner; die Gesammtzahl
seiner Bevölkerung (d. h. Frauen und Kinder eingerechnet,
welche bei den russischen Zählungen bekanntlich nicht
mitbegriffen werden), würde also die Einwohnerzahl einer Stadt
wie Braunschweig nicht übersteigen.
Die im Lande zerstreuten Ruinen aus der Perser- und
Römerzeit bieten den Archäologen mannichfaltigen Stoff zu
interessanten Forschungen, welche jedoch, bei längerm
Aufenthalte immer mit Lebensgefahr verbunden sind, da in
keinem Theile des Kaukasus tödliche Fieber und
Leberkrankheiten in solcher Furchtbarkeit hausen wie hier.
Der treffliche Dubois de Montpéreux hat das
Verdienst, den ausführlichsten Bericht über die Alterthümer
von Guria gegeben zu haben. Dieser, von allen Ausländern den
Russen am meisten freundlich gesinnte Reisende, kann sich doch
nicht enthalten, der Regierung bittere Vorwürfe darüber zu
machen, daß sie hier alljährlich so viele Menschen den
klimatischen Zerstörungen zum Opfer bringt. »Nie, sagt
Dubois, indem er von der Besatzung von Poti spricht
– hatte eine Garnison ein so höllenmäßiges Klima zu bekämpfen.
Die Soldaten, in das feuchte Delta zwischen dem Rion und dem
stagnirenden See Paleastom eingeschlossen, in der Nähe
des verpesteten Kanals Nadorta, und der noch mehr
verpesteten Wälder, die sich zwischen dem Meere und dem See
ausbreiten, auf allen Seiten von den stehenden Morästen der
Nabada und Pitschora-Moltawska, umringt, durch eine
fiebererzeugende, verdorbene Luft, von welcher Seite der Wind
immer wehete, angesteckt, fielen wie die Blätter, welche der
Winterwind mit sich fortweht. Typhische Fieber rissen mit
erschreckender Schnelligkeit große Lücken in die Reihen dieser
unglücklichen Menschen. Trotzdem hat man den Muth gehabt, eine
Kompagnie verheiratheter Soldaten als Kolonie gerade längs des
aus dem See Paleastom kommenden Kanals anzusiedeln – längs
jenes Kanals, dessen Wasser so faul und stinkend ist, daß
Alles, was sich in ihm befindet, Fische wie Krebse, darin
sterben und die Ufer bedecken. Ich werde nie den Eindruck
vergessen, den jene Militairkolonie auf mich hervorbrachte,
als ich um die Mitte Oktober durch dieselbe kam. Ich und mein
Diener wendeten die Augen hinweg, um jene Grabgestalten, jene
blassen, bleichen Weiber und Kinder nicht zu sehen, so sehr
preßte uns dieser Anblick das Herz zusammen« . . .
Mein Aufenthalt in Guria war von sehr kurzer Dauer, aber
nach Allem was ich von den Zerstörungen des Klima's gesehen
und gehört habe, kann ich Dubois' Bericht nur
bestätigen, der eben so gut auf die übrigen Ortschaften des
Landes paßte. In Osurgethi, dem Hauptorte und Sitz der
Verwaltung von Guria, wo der Naturforscher Ssowitsch
sich die Keime zu seinem frühen Tode holte, lag ich selbst am
Gallenfieber danieder . . .
Wenn der Kaiser von Rußland eine gleiche Anzahl von
Menschen, wie alljährlich durch den nutzlosen Krieg in den
Schluchten des Kaukasus ihren Tod finden, dazu verwenden
wollte, diese Sümpfe und Moräste zu entwässern, diese Wälder
zu lichten und die überall hier verborgenen Naturschätze
auszubeuten, so könnten in wenigen Jahren diese Küstenländer
in ein Paradies ungewandelt und die Bewohner dem
Moskowiterlande enger und dauernder verbündet werden, als das
Schwert und die rohe Gewalt es je zu erzwingen vermögen.
Den größten Theil meines Aufenthalts in Osurgethi
verbrachte ich im Verkehr mit einem seit 13 Jahren in der
Verbannung lebenden Polen, den das Schicksal, in der Gestalt
eines russischen Obersten, damals auf kurze Zeit in
Dienstangelegenheiten nach Guria geführt hatte.
Unsere Unterhaltung drehete sich hauptsächlich um die
russischen Zustände, und L. wußte mir aus seiner reichen
Erfahrung eine Menge Züge zu erzählen, die mir manche neue
Aufschlüsse über das riesige Land gaben, das ich selbst vor
Jahren von einem Ende bis zum andern durchstreift hatte.
Ich machte bei meinem neuen polnischen Bekannten wiederholt
eine Bemerkung, die sich mir schon häufig in früherem Verkehr
mit seinen Landsleuten aufgedrungen hatte: daß die Polen,
selbst solche, die in Rußland nichts als Unglück und Elend
gefunden hatten, immer mit einer gewissen Sympathie und
Anerkennung von der Masse des russischen Volkes
sprachen, während die Ausdrücke ihres Hasses und ihrer Rache
nur dem Kaiser und seinen Rathgebern galten.
Und als meine feste Ueberzeugung muß ich es aussprechen –
eine Ueberzeugung die sich auf langjährige Beobachtungen
gründet – daß, wenn es einmal zum Kampfe zwischen Rußland und
Deutschland kommen sollte, die Polen, selbst bei voller
Freiheit der Wahl, unbedingt mit Rußland und gegen
Deutschland kämpfen würden . . . .