Dreiundzwanzigstes KapitelGagra und der Fels des
Prometheus
Wir benützten einen frischen Südostwind, um
dem blühenden und doch so gefährlichen Pitzunda – einem
herrlichen Blumenbeete mit verborgenen Giftschlangen
vergleichbar – Lebewohl zu sagen, und liefen nach
vierstündiger, glücklicher Fahrt in die große, schöne Bucht
von Gagra ein. Unsere Reise war um so angenehmer, da uns ein
zweiter Barkaß, bestimmt, einige in besondern Aufträgen
abgesandte Offiziere nach der Festung Ardiller zu führen,
begleitete. Unter diesen Offizieren befand sich auch Kapitän
Pépin, der Gemahl der oben erwähnten Dame. Um uns
leichter unterhalten zu können, vertheilten wir unsere
Mannschaft dergestalt, daß wir mit den Offizieren in einem
Barkaß zu sitzen kamen. Die gewöhnlich mit asow'schen Kosaken
bemannten Barkasse sind nicht allein bestimmt, die
Kommunikation zwischen den russischen Festungen zu
unterhalten, sondern müssen auch Jagd auf die sich häufig
zeigenden, türkischen und griechischen Schiffe machen, welche
den Sklaven- und sonstigen Handel zwischen Cirkasien und der
Türkei unterhalten.
Auf den Karten des russischen Generalstabs ist Pitzunda als
der Grenzpunkt zwischen Abchasien und dem Lande der
Dschigethen angegeben, obgleich eigentlich Gagra die
von der Natur bezeichnete Gränze der beiden Länder bildet, da
hier das bis dahin ziemlich flache Gestade plötzlich von
mächtigen Bergmauern, gebildet durch Ausläufer der großen
Kette, unterbrochen wird.
Die Sage setzt des Dulders Prometheus Leidensstätte an
Gagras meerbeherrschendes Felsengestade. Uebrigens streiten
sich, die Ostküste des Pontus entlang, vier Felsen um die
Ehre, an ihrer Brust die Qualen des Lichtbringers gesäugt zu
haben. Kaiser Nikolaus, praktisch wie er ist, hat sich
die klassischen Studien, welche jetzt so eifrig in seinem
Lande getrieben werden, zu Nutze gemacht, und auf den Baum der
Dichtung das Reis der Wirklichkeit gepropft: die Felsengestade
dieser Küste dienen heute noch als Verbannungsstätte aller
Lichtbringer und Menschenbeglücker des Zarenreichs.
Gagra ist durch seine Lage und großartige Umgebung einer
der schönsten Orte der Küste. Schade nur, daß alles oben zum
Nachtheil von Pitzunda Gesagte hier in doppeltem Maße seine
Anwendung findet. In den Thälern wächst der Weinstock, die
riesige Silberpappel, der Mispelstrauch, die Brombeerstaude,
gedeihen Feigen und Buchsbäume; aber durch das dichte Gebüsch
her drohen verderbenbringende Feuerschlünde – malerische
Felsen, hohe, von der üppigsten Vegetation überwucherte Berge
drängen sich bis dicht an's Meer, aber Keiner darf es wagen,
auf den Bergen Hütten zu bauen, denn die Bäume, die sie tragen
und die Höhlen, die sie bergen, dienen lauernden Feinden zum
Verstecke, und was die Kugeln der Dschigethen verschonen,
rafft der Sommer mit seiner die Thäler verpestenden Glut, mit
seinen Fiebern und bösartigen Krankheiten dahin.
Mit der von Seiten der Tscherkessen drohenden Gefahr sieht
es freilich heutzutage so schlimm nicht mehr aus wie früher,
wo die Offiziere, trotz der sie schützen sollenden Festung, in
ihren eigenen Wohnungen nicht sicher waren, und sich's oft
gefallen lassen mußten, bei Tische die vor ihnen stehenden
Speisen von Tscherkessenkugeln gespickt zu sehen. Wie
zweifelhaft übrigens auch jetzt noch die Sicherheit selbst in
der nächsten Umgebung der Festung sein muß, geht aus dem
Umstand hervor, daß der sonst so freundliche und zuvorkommende
Kommandant mir Anfangs durchaus nicht erlauben wollte, einen
steilen, die große Schlucht von Gagra nordwestlich
begrenzenden Berg zu erklimmen, welcher, wie die Sage geht,
große, einst von der berühmten Heiligen Hypata Gagrenikaja
bewohnte Gemächer und Reliquien kostbarer Art in sich
schließt.
Da der Kommandant sah, daß ich von meinem Vorhaben nicht
gern abstehen wollte, so ließ er alle möglichen
Sicherheitsmaßregeln treffen, und hatte die Güte, mich selbst
mit noch mehrern andern Offizieren bis zu dem am Fuße des
Berges stehenden, die Schlucht vertheidigenden Blockhause,
welches etwa zwölf Kanonen in sich schließt, zu begleiten.
Schon von unten kann man die oben ziemlich regelmäßig in
den Fels gehauenen Eingänge zu den heiligen Gemächern sehen.
Der Tag war bereits zu weit vorgerückt, als ich meine mühsame
Wanderung antrat, so daß ich kaum die Hälfte der steilen
Bergwand erklommen hatte, als mich die plötzlich einbrechende
Nacht zwang, wieder umzukehren. Der Rückzug ging schneller von
statten, als ich wünschte; ein mir unter den Füßen
wegrollender Stein brachte mich in's Fallen, und ich kam, eine
lebendige Lawine, unten an, so zerrissen an Kleidern und
Körper, daß mir alle Lust verging, am folgenden Tage meine
Wanderung von Neuem zu beginnen.
Der Kommandant und die Offiziere von Gagra hatten, trotz
der schwierigen Verhältnisse, unter welchen sie leben, alle
ihnen zu Gebote stehenden Mittel zur Verschönerung ihres
Aufenthalts auf eine Weise benützt, die ihrem Geschmacke alle
Ehre macht. Nicht allein fand ich die Wohnungen dieser Herren
sehr sauber und nett eingerichtet, und mit allen kleinen
Bequemlichkeiten des Lebens versehen – sogar zierliche
Stickereien fehlten nicht – sondern es erregte besonders ein
im Gebiete der Festung liegender Garten meine Freude und
Bewunderung. Das Nützliche ist hier auf die anmuthigste Weise
mit dem Schönen gepaart; schwellende Rasenplätze, von
laubdichten Fruchtbäumen überschattet, duftende Blumenbeete
und große, von Küchengewächsen strotzende Felder wechseln mit
einander ab. In der Mitte des Gartens steht ein allerliebst
gebauter Pavillon, dessen hölzernes Fachwerk dicht von dunklen
Reben und Epheuranken umschlungen ist, in deren Schatten die
Offiziere ihre Siesta zu halten pflegen, so lange die im
Sommer hier unausstehliche Hitze ihnen erlaubt, ihre Wohnungen
zur Mittagszeit zu verlassen.
Es wurde damals thätig an der Verstärkung der Festungswerke
und Verbesserung der Wohnungen gearbeitet; das hier
befindliche Hospital ist, die Umstände in Betracht gezogen,
trefflich eingerichtet.
Es muß wohl, seit Dubois de Montpéreur diese
Gegenden bereiste, hier eine bedeutende Umwandlung
stattgefunden haben, da seine damals gewiß richtige
Beschreibung von Gagra diesem Orte heutzutage wenig mehr
entspricht.
Die ehemals dichten Waldungen sind bedeutend gelichtet, der
Boden bestmöglichst angebaut, die engen, dumpfen Hütten, deren
böse Luft früher Krankheiten aller Art erzeugte, sind
niedergerissen und über ihren Trümmern luftige, geräumige
Wohnungen emporgewachsen, weshalb sich auch die Sterblichkeit
der Soldaten in den letzten Jahren bedeutend vermindert hat.
Es leuchtet ein, daß trotz meines gerechten Lobes der heutigen
Zustände in Gagra, der Aufenthalt an diesem Orte keineswegs
beneidenswerth ist. »Wenn mir keine andere Wahl bliebe, so
würde ich es vorziehen, nach Sibirien zu wandern, als
lebenslänglich in eine Festung an der Ostküste des Pontus
verbannt zu werden,« sagte ein alter Offizier zu mir. »In
Sibirien wissen die Verbannten wenigstens, wie sie daran sind,
und können ohne große Mühe ihr Stück Brod verdienen, ohne
einen andern als den natürlichen Tod fürchten zu müssen; hier
am Gestade des Pontus lacht den Verbannten Sonne und Ruhm an,
aber die heiße Sonne haucht hier Tod und Verderben, und der
Ruhm, wenn er am Leben läßt, macht gewöhnlich um einen Arm
oder ein Bein kürzer.«