Fünfter Teil
Sonntag, 27. Mai
Im Regen, unter einem dunklen Himmel, brechen wir auf.
Unmerklich neigen sich die Pfade, und so steigen wir
schließlich in die weniger verlassenen, in die grüneren Ebenen
hinab. Korn- und Heufelder, aber immer noch keine Bäume,
zuweilen Streifen Landes von klebriger, weißlicher Erde, wo
nicht einmal das Gras mehr wachsen kann. Unsere ganze Umgebung
ist wirklich häßlich. Die Schönheit liegt über uns, zwischen
den schwarzen Wolken; wenn die Sonne durchbricht, zeigen die
schrecklichen Berge uns in einer schwindelnden Höhe ihre
langen Schneegewänder, und schließlich sehen wir durch einen
Spalt, höher, als wir ihn zu suchen wagten, die Spitze des
Berges Demavend, der Teheran überragt; er ist mehr als
sechstausend Meter hoch, und niemals legt er sein leuchtendes
weißes Leichentuch ab.
Trotz des eisigen Regens und der winterlichen Kälte
begegnen wir vielen Menschen: Karawanen, gespensterhaften
Frauen auf Eselinnen oder zu Wagen; Reitern in schönen
Tuchkleidern, die schon ganz das Äußere von Städtern zeigen.
Man fühlt, daß man sich der Hauptstadt nähert, und unser
Kutscher hält an, zieht einen Haufen roter Bänder aus seinem
Sack hervor und schmückt hiermit die Mähnen unserer vier
Pferde, denn es ist Sitte, daß man also geziert nach einer
glücklich überstandenen Reise zur Stadt hineinfährt.
Zu beiden Seiten des Weges stehen jetzt schmächtige, arme
Bäume: verkrüppelte Ulmen, stark von der Kälte mitgenommene
Granatbäume; beklagenswerte Maulbeerbäume, die auf jedem Ast
zwei oder drei Straßenjungen schaukeln, und diese tun sich
gütlich an den kleinen, weißen Früchten. Jetzt haben wir die
endlosen Friedhöfe erreicht; auf der schrecklichen, weichen,
grauen Erde, wo auch nicht der kleinste Grashalm wächst,
ziehen sich die Kuppeln der Grabgewölbe oder die einfachen,
fast immer verfallenen Gräber in langen Reihen dahin.
Ein Sonnenstrahl zeigt uns zwischen zwei Regengüssen,
rechts an unserem Wege eine Kuppel aus funkelndem Golde, die
an das Mausoleum der Fatime erinnert: es ist die Moschee des
Schahs Abd-ul-Azim, eine heilige Stätte und zugleich der
unverletzliche Zufluchtsort der persischen Verbrecher; vor
zehn Jahren fiel der Schah Nasr-ed-din hier unter dem Dolch
eines Abenteurers.
In diesem Lande, wo die Bäume nicht von selbst wachsen,
werden sie oft groß und prächtig, wenn die Menschen sie neben
ihre kleinen Bewässerungskanäle zwecks Beschattung ihrer
Wohnungen pflanzen. Das Dorf der Vorstadt, durch das wir in
diesem Augenblick hindurchfahren, liegt ganz in Grün getaucht,
und Teheran dort vor uns scheint noch heute den Namen »die
Stadt der Platanen« zu verdienen, den man ihr im dreizehnten
Jahrhundert gab. Aber wir, die wir bis jetzt daran gewöhnt
waren, die Städte in Licht gebadet, zwischen den
Luftspiegelungen in strahlender Pracht auftauchen zu sehen,
wir finden, daß dieser Haufen kalter, grauer Häuser, unter
einem trüben Regenhimmel gelegen, seltsam unfreundlich wirkt!
Immer zahlreicher werden die Vorübergehenden. Alles Leute,
die uns kreuzen und die die Stadt zu verlassen scheinen.
Wahrscheinlich die alljährlich wiederkehrende
Frühlingsauswanderung; der Sommer in Teheran ist so dürr und
ungesund, daß die Hälfte der Bevölkerung sich im Mai entfernt,
um erst im Herbst zurückzukehren. Gespanne aller Art ziehen
vorbei – und alle biegen sie aus vor den toten Pferden, deren
Bauch die Geier geöffnet haben, und die jetzt in kurzen
Zwischenräumen auf der Landstraße liegen, ohne daß jemand
daran dächte, sie zu entfernen.
Wie dunkel ist alles oberhalb der Hauptstadt Irans!
Wolkenwände, hinter denen man Bergwände ahnt, füllen den
Himmel mit ihren fast erschreckenden Massen an. – Und stets
sieht man durch denselben Spalt den Demavend, der uns in
verschwommenen Umrissen seine silberne Spitze auf einem
dunklen Hintergrund zeigt, man sieht, daß dies keine Wolke,
daß es etwas »Festes« ist, daß es zu der Gattung der Felsen
gehört, aber es scheint zu hoch hinaufzuragen, als daß es der
Erde angehören könnte, man möchte fast sagen, es neige sich
vorwärts . . . Wahrscheinlich ist es ein Teil eines fremden
Gestirns, das sich geräuschlos hinter dem Nebelvorhang nähert
– und die Welt wird untergehen . . .
Die Tore Teherans. Sie leuchten in dem klatschenden Regen.
Von vier kleinen ornamentalen Türmchen werden sie geschmückt,
und diese sind fein wie Peitschenstiele, und das Ganze bedeckt
ein Überzug von glasierten Ziegeln, gelbe, grüne, schwarze
Ziegel, die zu einer Zeichnung zusammengestellt sind, wie man
sie auf der Haut der Eidechsen oder Schlangen sieht.
In der Stadt erwartet uns die schon geahnte Enttäuschung.
Durch die Regengüsse sind die Gäßchen, die bis zur Herberge
führen, in schmutzige Flüsse verwandelt, sie laufen zwischen
Steinhaufen dahin, und diese kennen keine Fenster, sie sind
trübselig und farblos, und bei ihrem Anblick liefe man am
liebsten davon.
Das Wirtshaus aber ist das Schlimmste von allem; die
jämmerlichste Karawanserei war besser als dies dunkle, alte
Zimmer, das auf einen feuchten Garten, auf triefende Bäume
zeigt. Und ich begrüße die liebenswürdigen Herren der
Gesandtschaft als Befreier, denn sie bieten mir die
Gastfreundschaft des französischen Hauses an.
Die Gesandtschaft ist wie alle anderen schon aus Teheran
geflohen, zwei Meilen von den Mauern entfernt, am Fuße des
weißgekleideten Demavends hat sie sich für den Sommer auf dem
Lande niedergelassen, und dorthin werden auch wir heute abend
übersiedeln, wenn mein Gepäck, das noch mit meiner Nachhut auf
den irgendwo steckengebliebenen Pferden schwebt, angekommen
sein wird.
Inzwischen will ich mich ein wenig in dieser Stadt umsehen,
die ich gerne so bald wie möglich verließe.
Hier gibt es nichts wirklich Altes, nichts wirklich
Schönes. Vor hundertfünfzig Jahren war Teheran noch ein
unbekannter Flecken, aber da kam Agha Muhammed Khan, der
Eunuchenfürst, der den Thron an sich gerissen hatte, auf den
Einfall, die persische Hauptstadt hierher zu verlegen.
Zuerst nach den Basaren. Sie sind groß und sehr besucht.
Dieselben gotischen Gewölbe, wie wir sie schon überall sahen;
man verkauft hier ungeahnte Mengen von jenen Teppichen, die
nach einem neuen Verfahren gewebt und gefärbt werden, und die
im Vergleich zu den Teppichen Ispahans, Kachans und Chiraz'
gar zu gewöhnlich erscheinen.
Wir wollen den Sonnenschein zwischen zwei Regengüssen
benutzen, um auf die Dächer zu klettern, von wo aus man einen
allgemeinen Überblick hat. Immer wieder sieht man auf zahllose
kleine Terrassen und Kuppeln herab, aber es fehlt das Licht,
das ihnen in den alten, unveränderten Städten, aus denen wir
kommen, jenen unvergleichlichen Zauber verleiht, die Kuppeln
der Moscheen sind grün oder vergoldet, statt wie im Süden in
blauem Türkis zu erstrahlen, die beiden rosenroten Türme aber,
die dort hinten aufragen, bezeichnen den Palast des Schahs. –
In diesem Augenblick treten die Berge aus den Wolken hervor,
und diese Werke, von Menschenhand erbaut, erscheinen winzig
klein, wie sie dort am Fuße der erdrückenden Felsmassen
liegen. Seine Majestät der Schah ist soeben nach Europa
abgereist, und sein Palast mit den rosenroten Türmen liegt
verlassen da. Wir haben nicht die Erlaubnis, ihn heute zu
besehen. Aber wir wollen es trotzdem versuchen.
Die Wächter, gutmütige Burschen, lassen uns in die Gärten
eintreten, die in diesem Augenblick ganz ausgestorben und
deshalb besonders reizvoll sind. Diese Gärten bestehen
eigentlich nur aus Seen, aus ruhigen, schwermütigen Spiegeln,
umgeben von Fayencemauern, auf denen die Störche
einherstolzieren. Das Wasser ist in Persien eine große
Seltenheit, und deshalb auch eine große Verschwendung, und
gerade die Fürsten sparen innerhalb ihrer Mauern nicht damit.
Die Gärten des Schahs bestehen fast ausschließlich aus
Wasserbassins, die von alten Bäumen und Blumen eingerahmt
sind, und in denen sich die Lilienbeete, die hundertjährigen
Rüstern, die Pappeln, die riesengroßen Lorbeerbäume, die
hohen, eifersüchtigen, die glasierten Mauern widerspiegeln.
Alles in dieser königlichen Wohnung, deren Herrscher in fernen
Landen reist, ist eingezäunt, verschlossen, leer und
schweigend, einzelne Türen sind versiegelt, die Vorhänge sind
herabgelassen, sie verdecken alle Fenster, alle Öffnungen des
Hauses, die auf die eingefriedigten Seen hinausgehen, –
Vorhänge aus gesticktem Leinen, feste große Vorhänge, wie die
Segel einer Fregatte. An den Wänden zeugen die modernen
Glasurbekleidungen, auf denen man Figuren oder Rosenzweige
dargestellt sieht, von einem kläglichen Rückgang in der
persischen Kunst, aber trotzdem ist der allgemeine Eindruck
noch reizvoll, und entzückend ist ihr Spiegelbild auf der
Wasserfläche zwischen den umgekehrten Bäumen und dem Grün. –
Es regnet nicht mehr; am Himmel zerteilen sich die Wolken und
fliehen dahin; in diesem sehr entlegenen Winkel, wo die
vertrauensvollen Wächter uns allein umherstreifen lassen,
genießen wir den hellen Nachmittag.
Der gewaltige Vorhang, der hier durch viele Stricke
gehalten wird, verbirgt den Thronsaal; dieser ist so alt wie
der Palast selbst und ist, nach altem Gebrauch, in seiner
ganzen Breite geöffnet, um es dem Volk zu ermöglichen, von
weitem ihr Götzenbild sitzen zu sehen, der marmorne Sockel –
ohne Treppe, damit die Menge nicht dort hinaufsteigt – hebt
den Thron ungefähr zwei Meter über die Gärten empor, und davor
spiegelt sich ein großes, viereckiges Wasserbassin, um das
sich an hohen Feiertagen alle Würdenträger aufstellen, und
wenn der Herrscher erscheint, funkeln dort die prächtigen
Burnusse und die Edelsteinagraffen in schweigender Pracht
durch das Dunkel des Saales hindurch.
Wir möchten diesen Saal gern sehen. Mit einem Wächter, der
ungefähr weiß, was für Leute er vor sich hat, stiften wir ein
unschuldiges Komplott, wir klammern uns an die Vorsprünge des
Marmors, wir schwingen uns hinauf und gleiten unter dem
herabgelassenen Vorhang hindurch, – und wir betreten den
Platz.
Hier ist es natürlich ganz dunkel, weil das einzige Licht
durch diese große Öffnung fallen soll, die heute durch einen
dichten Vorhang abgeschlossen ist. Als erstes unterscheiden
wir den Thron, nah, ganz am Rande steht er da; er zeigt eine
Altertümlichkeit, die wir nicht erwartet hatten, weiß hebt er
sich von der allgemeinen rot und goldenen Ausschmückung ab. Es
ist dies einer der geschichtlichen Throne der Mogol-Kaiser,
eine Art Estrade aus Alabaster mit goldenen Linien, die von
den aus einem Block gehauenen, kleinen, seltsamen Göttinnen
und Ungeheuern gehalten wird; der gewöhnliche Springbrunnen,
unumgänglich notwendig für die Einrichtung eines persischen
Herrschers, nimmt den Vordergrund dieser Estrade ein, wo sich
der Schah, bei besonders festlichen Gelegenheiten, auf einem
mit Perlen besetzten Teppich sitzend, dem Volke zeigt; sein
Kopf ist mit Edelsteinen überladen, und er stellt sich, als
rauche er die Kalyan, – eine Kalyan ohne Feuer, auf die man
gewaltige Rubinen legt, um die glühende Kohle nachzuahmen.
Wie in den alten Palästen Ispahans, so hebt sich auch hier
ein Spitzbogen, der den Herrscher mit einem Heiligenschein
umgeben soll, von dem durchsichtig weißen Thron ab. Er ist,
ganz in der Art wie die Decken, mit einem Netz von Arabesken
und einem Regen von kristallenem Stalaktit verziert. Und dies
alles erinnert an die Zeiten der Sophis-Könige; stets ist es
dieselbe bezaubernde Grotte, in die die persischen Prinzen
ihre Räume zu verwandeln bemüht waren. Zu beiden Seiten des
Saales sieht man die Schahs früherer Jahrhunderte auf Fresken
verewigt. Männer mit strammsitzenden Goldbrokatgewändern,
unnatürlich jung und schön, mit geschweiften Augenbrauen, mit
schwarzgeränderten Augen, mit langen Bärten, die von ihren
rosenroten Wangen in einer schwarzen, seidigen Welle bis zu
den Edelsteinen ihrer Gürtel herabfließen.
Einer von uns hebt abwechselnd eine Ecke des großen
Vorhangs in die Höhe, um einen Lichtstrahl in diesen
Halbschatten hereinsickern zu lassen; und alsbald leuchten die
kristallenen Stalaktite an der dunklen Decke gleich Diamanten
auf. Wir haben uns eigentlich einer Übertretung schuldig
gemacht, befinden uns auf Schleichwegen, aber das macht diesen
heimlichen Spaziergang noch reizvoller. Und eine Katze, eine
wahrhaftige Katze – wenn die Perser dies lesen, mögen sie mir
diese unschuldige Zusammenstellung der Wörter verzeihen –,
eine schöne Angorakatze, gut genährt, zutraulich, an
Liebkosungen gewöhnt, ist in diesem Augenblick der alleinige
Herrscher der kaiserlichen Pracht, eine Katze sitzt auf dem
Thron und sieht uns mit größter majestätischer Herablassung
kommen und gehen.
Als wir den Saal verlassen, machen wir noch einmal einen
Gang um die Wasserbassins, dasselbe Schweigen, dieselbe ewige
Ruhe wie vorhin herrscht hier auch jetzt. Leise gleiten die
Schwäne über die blanken Flächen dahin, sie ziehen Linien und
Kreise, die das Spiegelbild der hohen, rosenroten
Fayencewände, der großen Zypressen, der großen Lorbeerbäume,
der Blumen, der schwermütigen Sträucher zerschneiden. Sonst
rührt sich nichts in dem Palast, nicht einmal die Zweige, denn
es ist windstill; man hört nur die Tropfen von den nassen
Blättern zu Boden fallen.
Als der Tag sich zu Ende neigt, verlassen wir Teheran in
der entgegengesetzten Richtung durch das Tor, durch das wir
heute morgen unseren Einzug hielten; aber der Anblick ist auch
jetzt derselbe, dieselbe grün, gelb und schwarze
Glasurbekleidung, dieselben zebraartigen Streifen einer
Schlangenhaut.
Und bald rollt unser Wagen durch eine kleine Wüste, über
Steine, über einen grauen Boden dahin; ein schrecklicher
Leichengeruch weht uns entgegen: Gebeine liegen dicht gesät
auf der Erde, Leichname, in den verschiedensten
Verwesungsstadien begriffen, bedecken den Boden, dies ist der
Friedhof der Tiere, der Pferde, der Kamele und der Maultiere.
Tagsüber wird dieser Platz von den Geiern heimgesucht, nachts
treffen sich hier die Schakale.
Wir fahren auf den Demavend zu, der jetzt ganz frei
daliegt; wie kaum ein zweiter Berg der Welt ruft er einen
gewaltigen Eindruck hervor, weil ihm nichts auf seinem Wege
nach dem Himmel zu folgt; mehr als um die Hälfte ragt dieser
Schneekegel einsam über die ganze andere Kette hinaus. Zu
seinen Füßen sieht man den grünen Flecken einer Oase, auch sie
liegt schon hundert oder hundertfünfzig Meter höher als die
Stadt, und dorthin sind die europäischen Gesandtschaften
während der heißen Jahreszeit geflüchtet.
Wir verlassen jetzt die kleine Wüste mit ihren Geiern und
stoßen zuerst auf einige größere Gehölze, die die fleißige
Menschenhand geschaffen hat, sie sind von Mauern umgeben: hier
liegen die Sommerwohnungen der vornehmen Herren und die
Lusthäuser ihrer Haremsdamen. Der aufsteigende Weg ist bald
ganz schattig, er wird von Granatbäumen eingerahmt, von
fruchttragenden Maulbeerbäumen, die die Straßenjungen in den
langen Gewändern plündern, und endlich erreichen wir die schon
von weitem erspähte Oase. In diesem Lande, wo alle Gärten,
alles Buschwerk künstlich ist, freut man sich, einen richtigen
kleinen Wald, ganz wie bei uns daheim, zu sehen, in dem die
Bäume von selbst gewachsen zu sein scheinen, einen Wald, der
Strauchwerk, Moose und Farnkräuter hat. – Die französische
Legation liegt in diesem Eden, am Fuße des Schneeberges,
zwischen Sumpfpflanzen, schlanken Pappeln, langen Gräsern, und
um das Haus herum fließen kühle Bäche; man hört den Kuckuck
rufen, die Eule schreien; dies ist die ganze
Frühlingsbotschaft, der ganze zitternde Reiz eines Frühlings,
der sich später als der unsere einstellt, der von kurzer Dauer
ist, auf den eine sengende Jahreszeit folgt. Und sobald die
Nacht hereinbricht, erschaudert man wie im Winter unter dem
Blütendach dieses Waldes.