Unterwegs
Sonnabend, 21. April.
Beim strahlenden Sonnenaufgang hört man das jauchzende
Konzert der Schwalben, Spatzen und Lerchen. Ganz klar ist der
Himmel, ganz klar liegt die weite Ferne da, in dem Dorf und in
den Feldern herrscht eine paradiesische Ruhe. Man befindet
sich hier fünfzehn- bis achtzehnhundert Meter über dem
Meeresspiegel, in einer so reinen Luft, daß man sich wie
durchflutet fühlt von neuem Leben und neuer Jugend. Und es ist
wie ein Zauber aufzuwachen und ins Freie zu gehen.
Über dem Lehmschuppen, wo unsere Maultiere mit unserm Vieh
zusammengepfercht stehen, haben wir in dem einzigen hohen
Zimmer geschlafen – natürlich auch zwischen Lehmwänden – und
heute morgen bieten uns die Dächer der Karawanserei, die wie
eine Wiese mit Gras bewachsen sind, einen herrlichen
Spazierplatz.
Auf den benachbarten Dächern, wo gleichfalls Gras wächst,
haben Männer sich niedergeworfen, um zu dieser Stunde ihr
erstes Tagesgebet zu sprechen, mit ihren langen, in der Taille
einschneidenden Gewändern, ihren wallenden Ärmeln und ihren
tiaraförmigen Hüten, gleichen sie in ihren bescheidenen
Kleidern den Silhouetten der Weisen aus dem Morgenlande.
Hinter den kleinen Häusern, mit den dicken Mauern und
spitzbogigen Türen, sieht man weit in die ruhige,
abgeschlossene Ebene hinein, man sieht die grüne Fläche des
Getreides, in die einige blühende Mohnfelder ihre weißen
Linien ziehen – und immer sieht man die Bergkette Irans, die
in dem Maße, wie wir steigen, sich zu vergrößern, in den
Himmel zu wachsen, stets neue Steinschichten vor uns
aufzutürmen scheint.
Karawanen, die die ganze Nacht gereist sind, nähern sich,
sie kommen von Chiraz herab oder steigen wie wir von
Bender-Bouchir auf. Das Geläute der Maultierglöckchen, das von
verschiedenen Seiten ertönt, fällt in das Morgenständchen der
Vögel ein. Die Hirten treiben die Herden schwarzer Ziegen dem
Berge zu. Auf den Dorfstraßen galoppieren geschmeidige,
bärtige Reiter, sie sind mit langen, altmodischen
Steinschloßgewehren bewaffnet. Das Leben spielt sich hier ab
wie in vergangenen Zeiten. Dies kleine, verlorene Land, das in
erster Linie von der glühenden Wüste, dann von zwei bis drei
Terrassen mit ihren Abgründen und schließlich von den wilden
Bergen beschirmt ist, dies kleine Land hat sich eine
glückliche Unveränderlichkeit bewahrt.
Ach! die Ruhe, die dort herrscht! Und der Gegensatz zu
Indien, das wir soeben verlassen haben, zu dem armen,
entweihten, geplünderten Indien mit seinem manufakturellen
Betrieb, wo schon die schreckliche Ansteckung der Fabriken und
der Eisenwerke wütet, wo schon die Bevölkerung der Städte
kriecht und leidet unter dem Peitschenhieb dieser aufgeregten
Herren des Westens, mit ihren Korkhelmen und »kakifarbenen
Anzügen«! Unter dem schönen goldenen Licht verlassen wir um
die fünfte Stunde nachmittags das verzauberte Dorf, um auf die
im Hintergrund gelegenen Berge zuzureiten. Wir durchschneiden
die friedliche, ländliche Hochfläche, die von allen Seiten
eingeschlossen erscheint.
In dem Augenblick, wo wir uns in die Schluchten begeben, um
noch eine Stufe höher zu gelangen, geht die Sonne für uns
unter, aber die uns umgebenden Gipfel leuchten weiter in
seltsamem Rosa. Und dort, um den Eingang zu bewachen, ragt ein
altes Kastell mit Mauern und Zinnen auf, und auf allen Türmen
stehen Wächter in langen persischen Gewändern: es erinnert an
irgendein Bild aus der Zeit der Kreuzzüge.
Weniger schroff, als in den letzten Nächten, ist diesmal
der Hohlweg. Zwischen den mit Bäumen, Gras und Blumen
bewachsenen Felswänden steigt unser Pfad weder zu steil noch
gar zu gefährlich an.
Und so erreichen wir bald ohne große Schwierigkeiten eine
ungeheure Hochfläche, deren Luft gesättigt ist von dem Duft
des Heues. Bis jetzt waren wir dieser wirklichen Frische, die
man hier einatmet, noch nicht begegnet, aber wir kennen sie
daheim an schönen Maienabenden. Man sollte glauben, daß man
sich auf diesem Weg, der seit unserem Aufbruch ununterbrochen
ansteigt, in Riesenschritten dem Norden näherte. Wir reiten
ganze vier Stunden durch diese Ebene, bevor wir die Etappe
erreichen, und nach dem Chaos von Steinen, mit denen man sich
die letzten Abende hat herumschlagen müssen, ist es jetzt eine
Überraschung, bequeme Wege zu betreten, zwischen rosa
blühendem Klee und Windhafer dahinzuwandeln. Als aber die
Nacht vollständig hereingebrochen ist, erwacht doch allmählich
das Gefühl in uns, daß wir uns in einer großen Einsamkeit
befinden. In Europa gibt es keine Strecken, wo meilenweit
soviel leerer Raum und soviel Schweigen herrscht, – und
plötzlich fällt es uns ein, daß dieser Platz übel berüchtigt
ist.
Neun Uhr abends. Unwillkürlich fühlt man nach dem Revolver:
fünf mit Gewehren bewaffnete Leute, die im Gras am Grabenrand
lagerten, erheben sich und umzingeln uns. Nach ihrer Aussage
sind es ehrliche Wächter, die von Kazeroun, dem nächsten
Dorfe, ausgeschickt sind, um die Reisenden zu beschützen. Seit
längerer Zeit, so erzählen sie uns, werden die Karawanen
geplündert, und sechs Maultiertreiber wurden in der vorigen
Nacht an dieser Stelle überfallen. Deshalb werden sie uns
jetzt auf höheren Befehl zwei bis drei Meilen weit begleiten.
Dies erscheint ein wenig verdächtig, auch leuchten die
Sterne nicht genug, um ihre Gesichter erkennen zu können. Da
sie aber doch mehr wie gutmütige Kerle aussehen, so nehmen wir
ihr Anerbieten, uns zu begleiten, an; sie zu Fuß, wir langsam
reitend zu Pferde; man raucht zu zweien dieselbe Zigarette,
was hierzulande eine Höflichkeitsform bedeutet, und man
schwatzt.
Anderthalb Stunden später tauchen fünf ähnlich bewaffnete
Männer, die im Hinterhalt lagen, zwischen dem hohen Gras auf
und gehen auf uns zu. Es sind also wirklich Wächter, und wir
sollten jetzt unsere Begleitung wechseln. Die ersten fordern
jeder 2 CransDer Cran ist ein Geldstück ungefähr von dem Wert
eines Frank. Es ist das einzige gebräuchliche Geldstück in
Persien, und da man mehrere Tausend davon mit sich führen muß,
ist das eine der Widerwärtigkeiten und der Gefahren der Reise.
als Bezahlung, vertrauen uns der Fürsorge der anderen an und
ziehen sich dann unter tiefen Verbeugungen zurück.
Von Zeit zu Zeit durchschneidet ein lustig fließendes
Bächlein den unbestimmten Pfad, dem wir in dem hohen Gras zu
folgen versuchen, dann hält man an, befreit die Pferde oder
Maultiere von der Trense und läßt sie trinken.
Ungezählte Sterne stehen am Himmel, und überall fliegen die
Leuchtkäferchen, von denen die Luft erfüllt ist, umher; so
ähnlich sehen sie einem Funkenregen, daß man fast erstaunt
ist, nicht das leise Knattern des Feuers zu hören.
Wir reiten in einer langen Reihe durch den weißen Mohn,
dessen große Blumen uns streifen; es ist fast Mitternacht, da
sehen wir ganz in der Ferne einige Lichter, später
riesengroße, eingezäunte Gärten auftauchen, endlich haben wir
Kazeroun erreicht. Und wir begrüßen die ersten Pappeln, deren
hohe Stämme sich weithin erkennbar von dem nächtlichen Himmel
abheben, sie künden uns die wirklich gemäßigten Zonen an, in
denen wir jetzt atmen dürfen.
Von nun an führen die Karawansereien den Namen Garten; und
in diesen paradiesischen Gegenden des immer schönen Wetters
sind es in der Tat Gärten, die man den Reisenden bietet, um
sich dort auszuruhen.
Eine große, spitzbogige Pforte gewährt uns Einlaß zu einem
eingemauerten Gehölz, das für die Nacht unser Ruheplatz sein
wird; es ist fast ein Wald, mit geraden Alleen aus blühenden
Orangebäumen, sofort berauscht uns der starke Duft. Im
Vordergrund sitzen die Karawanenreisenden in Gruppen zerstreut
auf den Teppichen und kochen über einem Reisigfeuer ihren Tee,
und weit im Hintergrunde verlieren sich die Alleen im Dunkel.
Der Wirt hält es indessen nicht für richtig, daß die
Europäer wie die Eingeborenen im Freien unter den
Orangenbäumen schlafen, er hat deshalb unsere Feldbetten in
ein kleines Zimmer über dem großen Spitzbogen des Einganges
bringen lassen, und dort übermannt uns sofort der Schlaf.