Vierter Teil
Dienstag, 22. Mai
Die Nebel gestern abend, der dumpfe, brennende Sturm müssen
ein böser Traum gewesen sein. Beim Erwachen heute morgen ist
alles ruhig, die Luft hat ihre tiefe Durchsichtigkeit
wiedererlangt, und der Tag bricht strahlend an. Um den Weiler
dehnt sich die rosenrote Sandwüste aus; und die Berge, die wir
bei unserer Ankunft nicht gesehen hatten, liegen hier ganz in
der Nähe und ragen mit ihren weißen Schneegipfeln in den
Himmel hinauf.
Unsere heutige Etappe verspricht leicht zu werden, denn die
Sandflächen liegen gleich einer ebenen Landstraße vor uns,
eine Landstraße, die, fünf bis sechs Meilen breit, sich in
unendlicher Länge, zwischen den beiden uns immer noch
folgenden Bergketten, erstreckt.
Und die Etappe wird auch kurz sein, höchstens ein Dutzend
Meilen; heute abend erreichen wir die große Stadt Kachan; sie
wurde einst von der Gemahlin des Kalifen Harun-al-Raschid, der
Sultanin Zobéide, gegegründet, von der Sultanin, die uns aus
»Tausendundeiner Nacht« bekannt ist.
Den ganzen Vormittag verfolgen wir die mit Knochen besäten
Pfade, lautlos rollen wir über den weichen Sand dahin, der
hier den gewohnten Lehm- und Steinboden ersetzt. Ein
beständiges Zittern, der Vorläufer der Luftspiegelungen,
bewegt die überhitzte Ferne; oben heben die Gipfel sich mit
wunderbarer Klarheit, mit einer herrlichen Farbenpracht von
dem Himmel ab, während auf der Erde, über dem Sand, der unter
unseren Wagenrädern einsinkt, alles Unbestimmtheit, alles
Flimmern ist. Und gegen Mittag beginnen die anmutigen
Luftspiegelungen um uns herum, von denen wir uns jetzt aber
nicht mehr täuschen lassen, beginnt das Versteckspiel der
kleinen blauen Seen, die hier, die dort auftauchen, die
verschwinden, an anderer Stelle erscheinen, um wieder
zurückzukehren . . .
Aber gegen Abend erhebt sich wie gestern ein Wind, und
sofort fliegt der Sand auf; die Kämme der uns umgebenden Dünen
scheinen zu rauchen. Staubwolken, Staubhosen bilden sich, die
Sonne leuchtet gelblich und erblaßt; von neuem herrscht unter
dem schreckeneinflößenden Himmel eine Sonnenfinsternis.
Man befindet sich auf einem ausgestorbenen Planeten, der
nur den Schatten einer Sonne kennt; der Gesichtskreis hat sich
mit einer erschreckenden Geschwindigkeit verkleinert; zwei
Schritte vor uns liegt alles in einem gelben Nebel gebadet,
kaum unterscheidet man die Mähnen der Pferde, die der Wind wie
Furienhaare zerzaust. Man erkennt die Pfade nicht wieder, man
ist geblendet, man erstickt . . .
– Ich sehe nichts, ich sehe Kachan nicht, – ruft uns der
Kutscher zu, der den Kopf verloren hat, und dessen Mund sich
bei diesen drei Worten ganz mit Sand füllt.
Wir glauben gern, daß er Kachan nicht findet, schon vor dem
Sturm sah das Auge ja nichts als die Wüste . . . Das Gespann
hält an. Wer sagt uns, wo wir sind, und was soll daraus
werden?
Dies muß eine Halluzination sein: wir glauben das Läuten
von Kirchenglocken zu vernehmen, von großen Glocken, zahllosen
Glocken, die sich uns immer mehr nähern . . . bis sie
unmittelbar vor uns ertönen . . . Und plötzlich taucht ein
Kamel auf, es streift uns fast, ein phantastisch aussehendes
Tier, dessen Umrisse im Nebel verschwimmen. An seinen Seiten
schaukeln Kupfergefäße, sie schlagen mit dem Lärm einer großen
Glocke aneinander. Ein zweites folgt, gebunden an den Schwanz
des ersten, und dann drei, und dann fünfzig, und dann hundert;
alle sind mit Schalen, mit Gefäßen, mit Krügen, mit
vielgeformten, kupferroten Sachen beladen, die einen
Höllenlärm verursachen, Kachan ist im wahrsten Sinne des
Wortes die Stadt der Kupferarbeiter, sie versorgt die Provinz
und die Nomaden mit den Wirtschaftsgeräten, die in ihren
Basaren gehämmert werden; täglich befrachtet sie ähnliche
Karawanen, und diese machen sich noch von weitem im ganzen
Umkreis der großen Einöde hörbar.
– Wo ist Kachan? fragt unser Kutscher eine menschliche
Erscheinung, die einen Augenblick auf dem Rücken eines Kamels
über einem Haufen von Trinkgefäßen sichtbar wird.
– Gerade vor euch, kaum eine Stunde von hier, antwortet der
Unbekannte mit erstickter Stimme, denn sein Gesicht verhüllt
ein Schleier zum Schutz gegen den vielen Sand, den man hier
schluckt. Er verschwindet vor unseren Augen in dem trockenen
Nebel.
Gerade vor uns . . . Drum laßt uns auf die Pferde
lospeitschen, damit sie wenn möglich vorwärtslaufen, laßt uns
versuchen die Stadt zu erreichen. Übrigens legt sich das
Unwetter, der Wind flaut ab, es ist weniger dunkel; auf der
Erde liegen Knochen, wir müssen uns auf richtiger Fährte
befinden.
Noch eine halbe Stunde fahren wir auf gut Glück darauf los.
Und dann erscheint plötzlich ein helles Licht, erscheint
plötzlich die Stadt der Sultanin Zobéide, viel höher als wir
sie suchten: die Kuppeln, die Minaretts, die Türme. Die Stadt
ist uns nahe und erscheint doch so fern, denn ihre Linien sind
ganz verschwommen. Noch eingehüllt in den Nebel, vor einem
schwarzen Himmel, beleuchtet von der untergehenden Sonne,
erhebt sie sich, und rot leuchtet sie auf, die alte Stadt aus
Lehm, rot wie jene Kupfergefäße, die vor kurzem so viel Lärm
um sich verbreiteten. Und auf der Spitze jedes Minaretts, auf
der Spitze jeder Kuppel sitzt sehr gravitätisch ein Storch,
ein Storch, den Nebel und Sand vergrößert haben, und der in
unseren Augen den Umfang eines Riesenvogels annimmt.