2. Meine Studentenjahre
Paris.
Alexander v. Humboldt hatte mich mit einem
Empfehlungsbriefe an den Besitzer eines kleinen Hotels
versehen, in welchem er während seiner alljährlichen,
mehrmonatlichen Aufenthalte in Paris zu wohnen pflegte. Es lag
in der alten Rue-Bonaparte, später in Rue-des-petits-Augustins
umgetauft, in dichter Nähe des langen Kais, auf dessen
Steingeländer fliegende Antiquare ihre papiernen Schätze des
Tages über auszulegen pflegten, um arme Studenten, neugierige
Litteraten und auf Seltenheiten verpichte Professoren zur
näheren Prüfung des Gebotenen anzulocken. Nicht weit davon
erhob sich das Gebäude des Instituts vor dem Pont-neuf mit
seiner Reiterstatue Louis XIV., das Heiligtum der
französischen Wissenschaft, mit seiner berühmten Bibliothek
und den Sälen für die Sitzungen der französischen Akademiker
dahinter.
Herr Bieler, der Besitzer des kleinen bescheidenen Hotels,
ein braver Schweizer, dem das Französische wie das Deutsche
vollkommen geläufig war, empfing mich bei meiner Ankunft in
der zuvorkommendsten Weise, las das an ihn gerichtete
Schreiben von »Monsieur le Baron« mit Entzücken und räumte mir
und meinem mitreisenden Freunde zwei kleine, aber saubere
Zimmer im Entresol ein. Ich habe meines Reisegefährten bisher
nicht Erwähnung gethan, aus dem sehr einfachen Grunde, weil er
auf der ganzen Fahrt von Berlin nach Paris kein
Sterbenswörtchen mit mir gewechselt hatte. John Fisher, Sohn
eines reichen Stiefelfabrikanten für die englische Armee, mit
seinem Wohnsitze in London, war ein wunderlicher Bruder Studio
nach englischem Zuschnitt, der sich in Berlin niedergelassen
hatte, um sich durchaus und mit heißem Bemühen der
Herbartschen Philosophie zu überlassen. Er war aber doch ein
lieber Kerl, den ich von Herzen gern hatte und der nur den
einen nationalen Fehler besaß, daß er zeitweise vom Spleen
befallen wurde und in solchem Zustande die unglaublichsten
Dinge leistete. Dazu gehörte sein dauerndes Stillschweigen,
das tagelang anhielt, bis er wieder redselig wurde und auf das
lebhafteste an der Unterhaltung sich beteiligte. Als ich ihm
einen Tag vor meiner Abreise meine Absicht mitteilte, auf
sechs Monate nach Paris zu gehen, um ägyptische Studien zu
treiben, sagte er einfach: »Ich werde mitgehen, hole mich
morgen abend 9 Uhr ab.« Er wohnte Unter den Linden in dem
allen alten Berlinern wohlbekannten Hause des Optikers
Petitpierre, da wo sich heute ein seines Restaurant an der
Ecke der Charlottenstraße befindet. Petitpierre machte den
Barometer- und Thermometerstand für ganz Berlin und niemand
ging vorüber, ohne die im breiten Schaufenster ausgestellten
Quecksilbersäulen zu prüfen, gerade wie niemand an der
gegenüberliegenden Lindenseite vorüberziehen konnte, ohne an
der Normaluhr die »akademische Zeit« für Berlin mit den
Angaben seiner eigenen Taschenuhr zu vergleichen.
Bei meiner Ankunft vor dem bezeichneten Hause, pünktlich um
neun Uhr abends des nächsten Tages, stieß meine Droschke auf
ein Hindernis, um unmittelbar vor dem Thore zu halten. Es war
ein Lastwagen, der mit großen Holzkisten und Koffern, wohl
zwölf bis fünfzehn ihrer Zahl nach, bepackt war, welche die
gesamte Bibliothek, die sonstige Reiseausrüstung und zwei
Kisten mit etwa hundert Paar englischer mit Nägeln
beschlagener Armeestiefel John Fishers enthielten. Mein
britischer Kollege besaß reiche Mittel, um ein nobles
Studentenleben zu führen und in eleganter Kleidung zu
erscheinen, aber in puncto Stiefel ließ er sich nicht davon
abbringen, den Ratschlägen seines weisen und sparsamen Vaters
zu folgen.
Ich fand ihn reisefertig und wir stiegen in die dritte
Klasse ein, um den langen, damals beinahe vierzigstündigen Weg
bei bitterer Kälte auf der Bahn über Köln zurückzulegen. Wie
gesagt, er war stumm wie ein Fisch auf unserer ganzen Fahrt
geblieben, und erst am zweiten Tage unseres Pariser
Aufenthaltes taute seine eingefrorene Zunge wieder auf.
Ich nehme die traurige Erzählung seines Todes vorweg denn
er starb als Selbstmörder in demselben Zimmer, das er damals,
im Jahre 1848, bewohnte, nach Verlauf von etwa zwanzig Jahren.
Paris schien eine besondere Anziehungskraft auf ihn zu üben.
Mit ihm befreundete Engländer verleiteten ihn zum Eintritt in
den berüchtigten Jockeyklub; er verpraßte sein väterliches
Vermögen, studierte später Medizin, ging als Schiffsarzt nach
Australien und kehrte glücklich wieder zurück. um in Paris das
Bielersche Hotel zum Absteigequartier zu wählen. Tagelang
beschäftigte er sich in seinem Zimmer damit, ein Dutzend
Rasiermesser auf einem Schleifstein zu schärfen, bis ihn die
Wirtsleute mit durchschnittenem Halse in einer Sofaecke in
seinem Blute liegend vorfanden.
Das lebendige Treiben in Paris verwirrte anfangs meine
Sinne, und ich fand kaum die nötige Ruhe und Muße, in meinen
Briefen an die Eltern die tausendfältig auf mich einstürmenden
Eindrücke, wenn auch in kürzester Fassung, zu schildern. Die
mächtige Hauptstadt schien mir eine Welt für sich zu sein. Das
wogte und strömte wie ein brausendes Meer über die Plätze und
durch die Straßen und die Kais entlang, von einem Ende des
Riesenleibes bis zum andern. Auf den Boulevards, so glaubte
ich damals, war man seines Lebens nicht sicher, und ich kam
mir wie ein verlorenes Sandkörnchen in der beweglichen Menge
vor, die ihren Weg dahinzog oder in den eleganten Cafés auf
hübschen Stühlen oder auf kleinen Divans vor den runden
marmornen Nipptischen lungerte und mit der Lorgnette die
vorüberhüpfenden Landsmänninnen mit zierlich aufgehobenem
Unterkleide und der niedlichen Chaussure an den kleinen Füßen
auf längere oder kürzere Dauer im Auge behielt. Eine Flut von
Zeitungen und Flugblättern wurde in den Säulen oder auf der
Straße feilgeboten; man lebte im Jahre 48 und unter dem
Präsidenten der Republik Louis Napoleon und die Politik
beherrschte das öffentliche Straßenleben. Ich bewunderte die
Denkmäler aus den Zeiten der vergangenen Geschichte
Frankreichs. Die Kirchen und monumentalen Bauten, der Dom von
Notre-Dame, das Louvre und Palais-royal, das Stadthaus, der
Justizpalast und wie die steinernen Sehenswürdigkeiten alle
heißen, reizten meine Neugierde und ließen mich die große
Stadt von einem Ende bis zum andern durchschweifen. Selbst die
engen Gassen in der Nähe des Palais-de-justice, die Eugène Sue
in seinen damals von aller Welt gelesenen und viel bewunderten
»Geheimnissen von Paris« mit so lebendiger Anschaulichkeit
beschrieben hatte, schreckten mich nicht durch ihren Schmutz
und ihre unheimliche Bevölkerung von einem Besuche ab. Ich
schlich mich durch das schmale Häusergewirr hindurch, in
welchem die Gosse mit ihrem mephitisch duftenden feuchten
Inhalt ihren Weg in der Mitte des Straßenpflasters dahinzog.
Ich glaubte einer »Marienblume« begegnen zu müssen oder den
drolligen Schuster Pipelet in der Pförtnerbude mit dem »Was-ist-das«-Fensterchen
von Angesicht zu Angesicht sehen zu können, aber ich wurde
bald enttäuscht, denn das bitterste Elend und die
unheimlichsten Gestalten wanderten mir entgegen und aus jeder
Ecke rief es mir ein Bleibe fern! in stummer Sprache zu. Die
Gassen sind heute verschwunden, denn dieser Schlupfwinkel des
alten Paris mit seinem Gesindel ist längst beseitigt und nur
der Roman hat seine Erinnerung erhalten. Auch der
weltbekannten, später von dem Boden der Stadt verschwundenen
Chaumière, in der Nähe des Luxemburg-Gartens, stattete ich
einen Besuch ab. Ich sah lustige Studenten mit tollen
Grisetten unbeschreibliche Tänze ausführen und hatte an dem
einen Besuch für alle Zeiten genug. Aber ich sah, was mir nach
Erzählungen und gedruckten Schilderungen unglaublich
erschienen war, und konnte bei der Rückkehr davon erzählen.
Meine unbegrenzte Neugierde war in der ersten Woche meines
Pariser Aufenthalts vollkommen befriedigt; ich hatte
angefangen, mich in die neuen Verhältnisse einzuleben, mich an
den Klang der Pariser Sprache zu gewöhnen und das schnell
gesprochene Wort leidlich zu verstehen, die billigen
Restaurants kennen zu lernen und, alles in allem, mich für
meinen Eintritt in die Welt der großen Geister vorzubereiten.
Hatte ich durch eine selbst oberflächliche Vergleichung die
Überzeugung gewonnen, daß mein liebes Berlin gegen Paris
eigentlich doch nur ein Dorf sei, wenn ich das Leben auf der
Straße und die bewegliche Menge in Rücksicht zog, so fand mein
Urteil in noch viel höherem Maße in dem Pariser Salon seine
erneuerte Bestätigung. Die Unterschiede zwischen hier und dort
schienen mir riesengroß. Die Académiciens, in deren Arbeiten
und Geistesthaten Frankreich seinen gerechten Stolz setzte,
denn die ganze Nation verehrte in ihnen die Lehrer der übrigen
gesamten Menschheit, überschütteten mich mit liebenswürdigen
Einladungen und öffneten mir mit dem Ausdruck ihrer
freundschaftlichsten Gefühle die Schätze ihres Wissens und
ihrer reichen Sammlungen. Der alte, damals noch lebende
Urgreis Jomard, das letzte noch im Lichte der Sonne wandelnde
Mitglied der wissenschaftlichen Kommission, die am Ende des
vergangenen Jahrhunderts die militärische Expedition des
großen Napoleon nach Ägypten begleitet hatte, der berühmte
Hellenist und Direktor der Bibliothéque-nationale in der
Rue-Richelieu, le père Hase, wie die Franzosen meinen
deutschen, zum Gallier gewordenen Landsmann bezeichneten, sein
jüngerer Kollege Mr. Eggers, der sich mit der Herausgabe des
Letronneschen Nachlasses beschäftigte, der Ägyptolog Vicomte
E. de Rougé und sein Kollege Ch. Lenormant, der neueste
Demotiker de Saulcy, zu der Zeit Oberst in der Armee und
Direktor des Artillerie-Museums, der scharfsinnige
Numismatiker Longpérier, der Herausgeber der Schahname des
Firdusi: Jules Mohl, die beiden Ampère, der berühmte Astronom
Biot und viele andere Mitglieder des Institut, sie alle
empfingen mich, den schüchternen jungen Studenten aus Berlin,
wie einen werten Freund und älteren Bekannten, und tief
beschämt empfand ich die Schwierigkeit einer Lage, für die ich
nicht geboren war und die in aller Würdigkeit zu behaupten mir
die Kraft und der Mut und nicht am letzten die erforderliche
Menschenkenntnis zu fehlen schienen.
An den Sitzungen der Akademie nahm ich regelmäßig Anteil
und ich lauschte mit dem höchsten Vergnügen den Vorträgen und
Diskussionen über gelehrte Gegenstände. Die Könige der
Wissenschaft saßen an einem langen, grünen Tische in der Mitte
eines mächtigen Saales, im Hinterhofe des Institut, und
jedermann war der Zutritt gestattet, um die geistigen Größen
Frankreichs in ihrer leibhaftigen Gestalt zu bewundern. War
die Sitzung zu Ende, so zog man sich in die Sprechzimmer
zurück und gruppenweise saß man vor den geheizten Kaminen, um
Privatgespräche zu führen, Tagesfragen zu erörtern oder neue
Entdeckungen auf wissenschaftlichem Gebiete mit französischer
Lebhaftigkeit zu beleuchten. Bei allen Unterhaltungen b lieben
die höflichsten Formen gewahrt und selbst die Ironie hüllte
sich in die feinsten Wendungen. Einen derberen Ton schlug der
militärisch geschulte Oberst und Akademiker de Saulcy an, aber
die Unsterblichen lächelten über seine spaßhaften Ausfälle und
begleiteten seine stärksten Ausdrücke – ich erinnere mich
seines Je vous en défie, bei einer öffentlichen Sitzung – mit
Ausbrüchen allgemeiner Heiterkeit. Ich fühlte mich erwärmt und
gehoben und hegte vorläufig nur den einen Wunsch, durch neue
Entdeckungen die gute Meinung der französischen Lehrmeister
für mich zu erhalten und mich der zahlreichen Empfehlungen
meines unvergeßlichen Gönners würdig zu beweisen.
Die Gelegenheit dazu sollte mir nicht fehlen, nachdem ich
die reichen ägyptischen Sammlungen des Louvre und der
Nationalbibliothek, in der sich vor allem ein wahrer Schatz
hieratischer und demotischer Papyri befand, mit Aufwand meiner
ganzen mir zur Verfügung stehenden Zeit auf das fleißigste
durchmustert und so viel als möglich Abschriften davon
genommen hatte. Durch die unerwartete Auffindung der
griechischen Übersetzung einer im Berliner Museum bewahrten
langen demotischen Urkunde und durch den Nachweis der
demotischen Übertragung des ausgedehnten 125. Kapitels des
hieroglyphischen sogenannten Totenbuches in einem Pariser
Papyrus hatte ich das Glück, zwei doppelsprachige Inschriften
von weittragender Bedeutung entdeckt und meiner
stiefmütterlich behandelten Wissenschaft eine ungeahnte
Bereicherung zugeführt zu haben. Vicomte E. de Rougé, der sich
damals als Honorar-Direktor mit der Abfassung eines ebenso
geistvollen als gelehrten Kataloges der altägyptischen
Sammlungen des Louvre beschäftigte, umarmte mich, ganz
entzückt von meinen Funden, und die Herren Akademiker drückten
mir die Hände über meine erfolgreichen Arbeiten bald nach
meiner Ankunft in Paris. »Voyez ce gredin de Brugsch, il nous
plante nous tous!« äußerte sich de Saulcy in seiner jovialen
Weise während einer öffentlichen Sitzung im Institut.
Nach den vielen Demütigungen und Enttäuschungen, denen ich
in Berlin von Seiten mancher unter denienigen ausgesetzt war,
welche sich rühmten, Hüter und Pfleger der Wissenschaft zu
sein, wirkte meine Aufnahme in Paris wie eine Herzstärkung und
meine Schaffenslust wuchs in dem Maße, als ich jede
Gelegenheit eifrigst benutzte, um mich des Wohlwollens meines
edelmütigen Königs und seines Freundes Alexander von Humboldt
durch meine Arbeiten in Paris würdig zu beweisen. Ich war von
früh bis abends thätig, lebte sparsam, ilm meinen Aufenthalt
in der Weltstadt, so weit es anging, zu verlängern, und kehrte
schließlich nach Berlin zurück, um meine gehobenen Schätze in
stiller Zurückgezogenheit wissenschaftlich zu verwerten und
meine Universitätsstudien mit allem Eifer fortzusetzen. Ich
suchte regelmäßig nicht vor 2 lihr nachts das Bett auf, wenn
auch meine körperlichen Kräfte darunter bedenklich litten und
ich zur Zahl der blassen, mageren Jünglinge gehörte. Mein
Wissensdurst war eben unbegrenzt und die Vorstellung, daß ich
fast überall als Pfadfinder den Fuß zum erstenmale auf
unbekannten Boden setzte, verlieh mir jene Begeisterung, die
nnr der zu begreifen vermag, der sich je in ähnlicher Lage
befunden hat. Mein Umgang beschränkte sich auf wenige Freunde,
unter denen ich von den noch lebenden Zeitgenossen den
Bildhauer L. Sußmann, die beiden Begas, den Bildhauer und den
Maler, und Dr. Steinthal in erster Linie rechne. Mit Paul
Heyse verkehrte ich fast täglich, da wir beide in den
Vorlesungen seines ausgezeichneten Vaters als gute Nachbaren
im Kolleg neben einander zu sitzen pflegten. Seine fast
mädchenhafte Schönheit machte damals einen tiefen Eindruck auf
mich, und doch sollte mir in meinem Leben niemals die
Gelegenheit geboten werden, ihn von Angesicht zu Angesicht
wiederzusehen. Freilich weilte ich lange Jahre in Ägypten,
während der Glückliche die Ruhmesleiter auf seiner
Dichterlaufbahn emporstieg.