Mein Leben und mein Wandern

Mein Leben und mein Wandern

von Heinrich Brugsch

Berlin, allgemeiner Verein für Deutsche Litteratur, 1894

 

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2. Meine Studentenjahre

Paris.

Alexander v. Humboldt hatte mich mit einem Empfehlungsbriefe an den Besitzer eines kleinen Hotels versehen, in welchem er während seiner alljährlichen, mehrmonatlichen Aufenthalte in Paris zu wohnen pflegte. Es lag in der alten Rue-Bonaparte, später in Rue-des-petits-Augustins umgetauft, in dichter Nähe des langen Kais, auf dessen Steingeländer fliegende Antiquare ihre papiernen Schätze des Tages über auszulegen pflegten, um arme Studenten, neugierige Litteraten und auf Seltenheiten verpichte Professoren zur näheren Prüfung des Gebotenen anzulocken. Nicht weit davon erhob sich das Gebäude des Instituts vor dem Pont-neuf mit seiner Reiterstatue Louis XIV., das Heiligtum der französischen Wissenschaft, mit seiner berühmten Bibliothek und den Sälen für die Sitzungen der französischen Akademiker dahinter.

Herr Bieler, der Besitzer des kleinen bescheidenen Hotels, ein braver Schweizer, dem das Französische wie das Deutsche vollkommen geläufig war, empfing mich bei meiner Ankunft in der zuvorkommendsten Weise, las das an ihn gerichtete Schreiben von »Monsieur le Baron« mit Entzücken und räumte mir und meinem mitreisenden Freunde zwei kleine, aber saubere Zimmer im Entresol ein. Ich habe meines Reisegefährten bisher nicht Erwähnung gethan, aus dem sehr einfachen Grunde, weil er auf der ganzen Fahrt von Berlin nach Paris kein Sterbenswörtchen mit mir gewechselt hatte. John Fisher, Sohn eines reichen Stiefelfabrikanten für die englische Armee, mit seinem Wohnsitze in London, war ein wunderlicher Bruder Studio nach englischem Zuschnitt, der sich in Berlin niedergelassen hatte, um sich durchaus und mit heißem Bemühen der Herbartschen Philosophie zu überlassen. Er war aber doch ein lieber Kerl, den ich von Herzen gern hatte und der nur den einen nationalen Fehler besaß, daß er zeitweise vom Spleen befallen wurde und in solchem Zustande die unglaublichsten Dinge leistete. Dazu gehörte sein dauerndes Stillschweigen, das tagelang anhielt, bis er wieder redselig wurde und auf das lebhafteste an der Unterhaltung sich beteiligte. Als ich ihm einen Tag vor meiner Abreise meine Absicht mitteilte, auf sechs Monate nach Paris zu gehen, um ägyptische Studien zu treiben, sagte er einfach: »Ich werde mitgehen, hole mich morgen abend 9 Uhr ab.« Er wohnte Unter den Linden in dem allen alten Berlinern wohlbekannten Hause des Optikers Petitpierre, da wo sich heute ein seines Restaurant an der Ecke der Charlottenstraße befindet. Petitpierre machte den Barometer- und Thermometerstand für ganz Berlin und niemand ging vorüber, ohne die im breiten Schaufenster ausgestellten Quecksilbersäulen zu prüfen, gerade wie niemand an der gegenüberliegenden Lindenseite vorüberziehen konnte, ohne an der Normaluhr die »akademische Zeit« für Berlin mit den Angaben seiner eigenen Taschenuhr zu vergleichen.

Bei meiner Ankunft vor dem bezeichneten Hause, pünktlich um neun Uhr abends des nächsten Tages, stieß meine Droschke auf ein Hindernis, um unmittelbar vor dem Thore zu halten. Es war ein Lastwagen, der mit großen Holzkisten und Koffern, wohl zwölf bis fünfzehn ihrer Zahl nach, bepackt war, welche die gesamte Bibliothek, die sonstige Reiseausrüstung und zwei Kisten mit etwa hundert Paar englischer mit Nägeln beschlagener Armeestiefel John Fishers enthielten. Mein britischer Kollege besaß reiche Mittel, um ein nobles Studentenleben zu führen und in eleganter Kleidung zu erscheinen, aber in puncto Stiefel ließ er sich nicht davon abbringen, den Ratschlägen seines weisen und sparsamen Vaters zu folgen.

Ich fand ihn reisefertig und wir stiegen in die dritte Klasse ein, um den langen, damals beinahe vierzigstündigen Weg bei bitterer Kälte auf der Bahn über Köln zurückzulegen. Wie gesagt, er war stumm wie ein Fisch auf unserer ganzen Fahrt geblieben, und erst am zweiten Tage unseres Pariser Aufenthaltes taute seine eingefrorene Zunge wieder auf.

Ich nehme die traurige Erzählung seines Todes vorweg denn er starb als Selbstmörder in demselben Zimmer, das er damals, im Jahre 1848, bewohnte, nach Verlauf von etwa zwanzig Jahren. Paris schien eine besondere Anziehungskraft auf ihn zu üben. Mit ihm befreundete Engländer verleiteten ihn zum Eintritt in den berüchtigten Jockeyklub; er verpraßte sein väterliches Vermögen, studierte später Medizin, ging als Schiffsarzt nach Australien und kehrte glücklich wieder zurück. um in Paris das Bielersche Hotel zum Absteigequartier zu wählen. Tagelang beschäftigte er sich in seinem Zimmer damit, ein Dutzend Rasiermesser auf einem Schleifstein zu schärfen, bis ihn die Wirtsleute mit durchschnittenem Halse in einer Sofaecke in seinem Blute liegend vorfanden.

Das lebendige Treiben in Paris verwirrte anfangs meine Sinne, und ich fand kaum die nötige Ruhe und Muße, in meinen Briefen an die Eltern die tausendfältig auf mich einstürmenden Eindrücke, wenn auch in kürzester Fassung, zu schildern. Die mächtige Hauptstadt schien mir eine Welt für sich zu sein. Das wogte und strömte wie ein brausendes Meer über die Plätze und durch die Straßen und die Kais entlang, von einem Ende des Riesenleibes bis zum andern. Auf den Boulevards, so glaubte ich damals, war man seines Lebens nicht sicher, und ich kam mir wie ein verlorenes Sandkörnchen in der beweglichen Menge vor, die ihren Weg dahinzog oder in den eleganten Cafés auf hübschen Stühlen oder auf kleinen Divans vor den runden marmornen Nipptischen lungerte und mit der Lorgnette die vorüberhüpfenden Landsmänninnen mit zierlich aufgehobenem Unterkleide und der niedlichen Chaussure an den kleinen Füßen auf längere oder kürzere Dauer im Auge behielt. Eine Flut von Zeitungen und Flugblättern wurde in den Säulen oder auf der Straße feilgeboten; man lebte im Jahre 48 und unter dem Präsidenten der Republik Louis Napoleon und die Politik beherrschte das öffentliche Straßenleben. Ich bewunderte die Denkmäler aus den Zeiten der vergangenen Geschichte Frankreichs. Die Kirchen und monumentalen Bauten, der Dom von Notre-Dame, das Louvre und Palais-royal, das Stadthaus, der Justizpalast und wie die steinernen Sehenswürdigkeiten alle heißen, reizten meine Neugierde und ließen mich die große Stadt von einem Ende bis zum andern durchschweifen. Selbst die engen Gassen in der Nähe des Palais-de-justice, die Eugène Sue in seinen damals von aller Welt gelesenen und viel bewunderten »Geheimnissen von Paris« mit so lebendiger Anschaulichkeit beschrieben hatte, schreckten mich nicht durch ihren Schmutz und ihre unheimliche Bevölkerung von einem Besuche ab. Ich schlich mich durch das schmale Häusergewirr hindurch, in welchem die Gosse mit ihrem mephitisch duftenden feuchten Inhalt ihren Weg in der Mitte des Straßenpflasters dahinzog. Ich glaubte einer »Marienblume« begegnen zu müssen oder den drolligen Schuster Pipelet in der Pförtnerbude mit dem »Was-ist-das«-Fensterchen von Angesicht zu Angesicht sehen zu können, aber ich wurde bald enttäuscht, denn das bitterste Elend und die unheimlichsten Gestalten wanderten mir entgegen und aus jeder Ecke rief es mir ein Bleibe fern! in stummer Sprache zu. Die Gassen sind heute verschwunden, denn dieser Schlupfwinkel des alten Paris mit seinem Gesindel ist längst beseitigt und nur der Roman hat seine Erinnerung erhalten. Auch der weltbekannten, später von dem Boden der Stadt verschwundenen Chaumière, in der Nähe des Luxemburg-Gartens, stattete ich einen Besuch ab. Ich sah lustige Studenten mit tollen Grisetten unbeschreibliche Tänze ausführen und hatte an dem einen Besuch für alle Zeiten genug. Aber ich sah, was mir nach Erzählungen und gedruckten Schilderungen unglaublich erschienen war, und konnte bei der Rückkehr davon erzählen.

Meine unbegrenzte Neugierde war in der ersten Woche meines Pariser Aufenthalts vollkommen befriedigt; ich hatte angefangen, mich in die neuen Verhältnisse einzuleben, mich an den Klang der Pariser Sprache zu gewöhnen und das schnell gesprochene Wort leidlich zu verstehen, die billigen Restaurants kennen zu lernen und, alles in allem, mich für meinen Eintritt in die Welt der großen Geister vorzubereiten. Hatte ich durch eine selbst oberflächliche Vergleichung die Überzeugung gewonnen, daß mein liebes Berlin gegen Paris eigentlich doch nur ein Dorf sei, wenn ich das Leben auf der Straße und die bewegliche Menge in Rücksicht zog, so fand mein Urteil in noch viel höherem Maße in dem Pariser Salon seine erneuerte Bestätigung. Die Unterschiede zwischen hier und dort schienen mir riesengroß. Die Académiciens, in deren Arbeiten und Geistesthaten Frankreich seinen gerechten Stolz setzte, denn die ganze Nation verehrte in ihnen die Lehrer der übrigen gesamten Menschheit, überschütteten mich mit liebenswürdigen Einladungen und öffneten mir mit dem Ausdruck ihrer freundschaftlichsten Gefühle die Schätze ihres Wissens und ihrer reichen Sammlungen. Der alte, damals noch lebende Urgreis Jomard, das letzte noch im Lichte der Sonne wandelnde Mitglied der wissenschaftlichen Kommission, die am Ende des vergangenen Jahrhunderts die militärische Expedition des großen Napoleon nach Ägypten begleitet hatte, der berühmte Hellenist und Direktor der Bibliothéque-nationale in der Rue-Richelieu, le père Hase, wie die Franzosen meinen deutschen, zum Gallier gewordenen Landsmann bezeichneten, sein jüngerer Kollege Mr. Eggers, der sich mit der Herausgabe des Letronneschen Nachlasses beschäftigte, der Ägyptolog Vicomte E. de Rougé und sein Kollege Ch. Lenormant, der neueste Demotiker de Saulcy, zu der Zeit Oberst in der Armee und Direktor des Artillerie-Museums, der scharfsinnige Numismatiker Longpérier, der Herausgeber der Schahname des Firdusi: Jules Mohl, die beiden Ampère, der berühmte Astronom Biot und viele andere Mitglieder des Institut, sie alle empfingen mich, den schüchternen jungen Studenten aus Berlin, wie einen werten Freund und älteren Bekannten, und tief beschämt empfand ich die Schwierigkeit einer Lage, für die ich nicht geboren war und die in aller Würdigkeit zu behaupten mir die Kraft und der Mut und nicht am letzten die erforderliche Menschenkenntnis zu fehlen schienen.

An den Sitzungen der Akademie nahm ich regelmäßig Anteil und ich lauschte mit dem höchsten Vergnügen den Vorträgen und Diskussionen über gelehrte Gegenstände. Die Könige der Wissenschaft saßen an einem langen, grünen Tische in der Mitte eines mächtigen Saales, im Hinterhofe des Institut, und jedermann war der Zutritt gestattet, um die geistigen Größen Frankreichs in ihrer leibhaftigen Gestalt zu bewundern. War die Sitzung zu Ende, so zog man sich in die Sprechzimmer zurück und gruppenweise saß man vor den geheizten Kaminen, um Privatgespräche zu führen, Tagesfragen zu erörtern oder neue Entdeckungen auf wissenschaftlichem Gebiete mit französischer Lebhaftigkeit zu beleuchten. Bei allen Unterhaltungen b lieben die höflichsten Formen gewahrt und selbst die Ironie hüllte sich in die feinsten Wendungen. Einen derberen Ton schlug der militärisch geschulte Oberst und Akademiker de Saulcy an, aber die Unsterblichen lächelten über seine spaßhaften Ausfälle und begleiteten seine stärksten Ausdrücke – ich erinnere mich seines Je vous en défie, bei einer öffentlichen Sitzung – mit Ausbrüchen allgemeiner Heiterkeit. Ich fühlte mich erwärmt und gehoben und hegte vorläufig nur den einen Wunsch, durch neue Entdeckungen die gute Meinung der französischen Lehrmeister für mich zu erhalten und mich der zahlreichen Empfehlungen meines unvergeßlichen Gönners würdig zu beweisen.

Die Gelegenheit dazu sollte mir nicht fehlen, nachdem ich die reichen ägyptischen Sammlungen des Louvre und der Nationalbibliothek, in der sich vor allem ein wahrer Schatz hieratischer und demotischer Papyri befand, mit Aufwand meiner ganzen mir zur Verfügung stehenden Zeit auf das fleißigste durchmustert und so viel als möglich Abschriften davon genommen hatte. Durch die unerwartete Auffindung der griechischen Übersetzung einer im Berliner Museum bewahrten langen demotischen Urkunde und durch den Nachweis der demotischen Übertragung des ausgedehnten 125. Kapitels des hieroglyphischen sogenannten Totenbuches in einem Pariser Papyrus hatte ich das Glück, zwei doppelsprachige Inschriften von weittragender Bedeutung entdeckt und meiner stiefmütterlich behandelten Wissenschaft eine ungeahnte Bereicherung zugeführt zu haben. Vicomte E. de Rougé, der sich damals als Honorar-Direktor mit der Abfassung eines ebenso geistvollen als gelehrten Kataloges der altägyptischen Sammlungen des Louvre beschäftigte, umarmte mich, ganz entzückt von meinen Funden, und die Herren Akademiker drückten mir die Hände über meine erfolgreichen Arbeiten bald nach meiner Ankunft in Paris. »Voyez ce gredin de Brugsch, il nous plante nous tous!« äußerte sich de Saulcy in seiner jovialen Weise während einer öffentlichen Sitzung im Institut.

Nach den vielen Demütigungen und Enttäuschungen, denen ich in Berlin von Seiten mancher unter denienigen ausgesetzt war, welche sich rühmten, Hüter und Pfleger der Wissenschaft zu sein, wirkte meine Aufnahme in Paris wie eine Herzstärkung und meine Schaffenslust wuchs in dem Maße, als ich jede Gelegenheit eifrigst benutzte, um mich des Wohlwollens meines edelmütigen Königs und seines Freundes Alexander von Humboldt durch meine Arbeiten in Paris würdig zu beweisen. Ich war von früh bis abends thätig, lebte sparsam, ilm meinen Aufenthalt in der Weltstadt, so weit es anging, zu verlängern, und kehrte schließlich nach Berlin zurück, um meine gehobenen Schätze in stiller Zurückgezogenheit wissenschaftlich zu verwerten und meine Universitätsstudien mit allem Eifer fortzusetzen. Ich suchte regelmäßig nicht vor 2 lihr nachts das Bett auf, wenn auch meine körperlichen Kräfte darunter bedenklich litten und ich zur Zahl der blassen, mageren Jünglinge gehörte. Mein Wissensdurst war eben unbegrenzt und die Vorstellung, daß ich fast überall als Pfadfinder den Fuß zum erstenmale auf unbekannten Boden setzte, verlieh mir jene Begeisterung, die nnr der zu begreifen vermag, der sich je in ähnlicher Lage befunden hat. Mein Umgang beschränkte sich auf wenige Freunde, unter denen ich von den noch lebenden Zeitgenossen den Bildhauer L. Sußmann, die beiden Begas, den Bildhauer und den Maler, und Dr. Steinthal in erster Linie rechne. Mit Paul Heyse verkehrte ich fast täglich, da wir beide in den Vorlesungen seines ausgezeichneten Vaters als gute Nachbaren im Kolleg neben einander zu sitzen pflegten. Seine fast mädchenhafte Schönheit machte damals einen tiefen Eindruck auf mich, und doch sollte mir in meinem Leben niemals die Gelegenheit geboten werden, ihn von Angesicht zu Angesicht wiederzusehen. Freilich weilte ich lange Jahre in Ägypten, während der Glückliche die Ruhmesleiter auf seiner Dichterlaufbahn emporstieg.

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