Mein Leben und mein Wandern

Mein Leben und mein Wandern

von Heinrich Brugsch

Berlin, allgemeiner Verein für Deutsche Litteratur, 1894

 

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2. Meine Studentenjahre

Mein Zug über die Alpen.

Meine dritte Fahrt in das demotische Ausland – nannte doch Humboldt selber die Straße, in der ich zuerst wohnte, die demotische Artilleriestraße, – nahm ihre Richtung nach dem Süden, nach der bella Italia. Mit baren 150 Thalern in der Tasche trat ich meinen Zug über die Alpen an, um die Hauptstadt des damaligen Königreiches Piemont und Savoyen zu erreichen und in den berühmten ägyptischen Sammlungen des Museums von Turin neue demotische Ernten einzuheimsen.

Die Reise war lang und beschwerlich. An Stelle des teuren Schnellzuges wählte ich den gewöhnlichen billigen Zug, der von Berlin aus in der Richtung über Frankfurt a. M. am östlichen Ufer des Rheins zunächst nach Basel führt. Aus Sparsamkeitsrücksichten hatte ich den Entschluß gefaßt, auf der ganzen Reise bis Turin überhaupt dem Hotelleben fern zu bleiben, mit anderen Worten Tag und Nacht, eine volle Woche hindurch, nicht aus dem Zeuge zu kommen. Es war eine harte Aufgabe, die ich mit allem Aufwand meiner nicht übermäßig großen Kräfte durchzuführen versuchte. Schon in Basel, das ich am Abend erreichte, kam mir die Sache nicht ganz geheuer vor, aber dem Mutigen gehört die Welt. Ich stieg in den kastenförmigen Wagenbauch einer alten Postkutsche, gemeinschaftlich mit einigen stämmigen Söhnen der freien Schweiz, die ein fürchterliches Deutsch redeten und aus kurzen, gl immenden Pfeifen einen pestilenzialisch duftenden Tabak in den beengten Raum hineindampften. Der Schwager stieß lustig in sein Horn, das Viergespann zog an und mit schwerem Gepolter rasselte das Gefährt durch die engen, holperigen Gassen der Stadt.

Ich weiß es heute nicht mehr, wer mir den seltsamen Rat erteilt hatte, meinen Weg übcr Basel zu nehmen, um den St. Gotthard zu erreichen und niederwärts steigend von Arona aus die ziemlich ebene Straße nach Turin einzuschlagen. Viel leicht hatte der liebenswürdige Ratgeber es im Sinne gehabt, mir die Gelegenheit zur Bewunderung der außerordentlichen Naturschönheiten der alpinen Schweiz zu bieten. Hätte ich eine Ahnung von den damaligen Reiseschwierigkeiten auf diesem Wege gehabt, ich wäre freudig eine andere, vielleicht nähere Straße gezogen und hätte auf den Anblick selbst der großartigsten Naturgemälde mit Vergnügen Verzicht geleistet. Damals gab es noch keine Eisenbahnen in der Schweiz und die Verbindung von Stadt zu Stadt stellte eine ungeschlachte vorsintflutliche Postkarre her. Außerdem fehlte es unter dem freien Volke an billigen Preisen für Zehrung und Tränkung der Reisenden, und ich habe die biederen Postillone stark in Verdacht, mit den Gastwirten an den Hauptstationen der Straße geheime Bündnisse eingegangen zu sein, deren Spitze auf die Opferlämmer von draußen im Bauche der Postkutsche gerichtet war. Hatte man sich nämlich dem Marterkasten entwunden, nachdem man vorher gehörig gerüttelt und geschüttelt worden war, um ein Mahl an dem gedeckten Tische der Gaststube einzunehmen, so mußte alles nach der Karte bestellt werden. Man zahlte das Bestellte vorher, um später keine unnütze Zeit zu verlieren.

Nachdem der Wirt sein schönes Geld eingestrichen hatte, verging geraume Zeit, bis eine heiße, dampfende Suppe auf dem Tische erschien. Man aß die siedende Brühe unter allen Vorsichtsmaßregeln gegen unfreiwillige Verbrennung der inneren Mundhöhle. Darauf trat eine Kunstpause ein. Endlich lockte der Anblick eines leuchtenden Bratens zum energischen Angriff, da blies wie auf Verabredung der Schwager in sein Horn, man war genötigt hinauszueilen und im Innern der Postkutsche darüber nachzudenken, ob der Mensch nicht ein ganz gemeines Raubtier sei, das alle Kniffe und Griffe anwendet, um seiner Beute das Fell bis über die Ohren zu ziehen. Niemals in meinem Leben habe ich einen ähnlichen Hunger empfunden, wie auf dieser fatalen Reise durch die Schweiz. Ich hatte mir seitdem es zugeschworen, niemals in mei nem Leben die Schweiz wieder zu berühren und habe wirklich meinen Eid bis zur Stunde treulich gehalten.

Was soll ich viel erzählen von dem, was Tausende von Malen geschildert worden ist und besser, als es meine schwache Feder zu beschreiben im stande wäre? Wir fuhren nach Luzern; ich sah den steilen Pilatus vor mir liegen, als brauchte ich nur die Hand auszustrecken, um ihn zu greifen. Ich schiffte mich auf dem Vierwaldstätter See ein und stieg am anderen Ende, bei Flüelen, wieder aus. Ein neuer Marterkasten nahm mich auf und hinauf gings zum schneebedeckten St. Gotthard und beim Hospiz vorüber abwärts nach Süden. Bei der Ankunft an der Nordspitze des Lago Maggiore bestieg ich von neuem einen Dampfer, bewunderte mit scheelen Blicken die malerischen Ufer und die bergreiche Umgegend dieses Sees, erreichte endlich den Hafenplatz Arona und verbrachte darin eine elende Nacht in einer Weinkneipe, in welcher Strolche von banditenmäßigem Aussehen mich mit lüsternen Augen zu betrachten schienen. Mir wurde unheimlich zu Mute und ich wanderte ein paar Stunden lang durch einsame Straßen, um bei hellem Mondschein von Hunden angebelfert zu werden oder wankenden Trunkenbolden zu begegnen, die mit heiserer Stimme ein italienisches Nationallied lallten. Ich nahm allen Mut zusammen, kehrte nach dem Weinladen zurück und verschlief die letzten Stunden vor Anbruch des Morgens auf einer schmalen Holzbank, die mir der Wirt, der eben den Laden zu schließen im Begriff stand, freiwillig gegen Bezahlung eingeräumt hatte. Gelähmt an allen Gliedern erhob ich mich beim ersten Strahl der aufgehenden Sonne Italiens von meiner unglücklichen Lagerstätte, und wie immer mit meinem bescheidenen Gepäckstück in der Hand, schlug ich den Weg nach dem mir mitgeteilten Posthause ein, wo sich täglich die Gelegenheit zur Fahrt nach Turin darbot.

Der Postwagen war eigentlich nur ein Omnibus mit zwei Holzbänken an den Längsseiten des Gefährtes, auf denen etwa 16 Personen ihren Platz einnehmen konuten. Nur ein halbes Dutzend Italiener fanden sich als Reisegefährten vor, darunter ein Pater in härener Kutte, mit dem ich eine Unterhaltung anzuknüpfen versuchte. Ich sprach französisch, aber die Sprache der modernen Gallier war ihm vollständig unbekannt, wie mir zu jener Zeit die italienische. Ich kam auf den gescheiten Einfall, das Lateinische als Verständigungsmittel zu wählen, und siehe da, der Mönch wußte zu antworten und unsere Rede floß wie Honigseim über unsere Zunge. Ob sie einen klassischen Beigeschmack besessen, darüber vermag ich heute, nachdem so lange Zeit vergangen ist, kein sicheres Urteil zu fällen. Seiner Hochwürden erlaubte ich mir in Bezug auf mein Reiseziel, die Stadt Turin, einige Fragen vorzulegen, die Personen berührten und mit meinen zukünftigen Bekanntschaften in einem näheren Zusammenhange standen. Ich ließ es dabei nicht unberührt, daß mir eine Empfehlung Alexander von Humboldts zu Gebote stände, von der ich eine besondere Wirkung erwartete. Auf meine Frage, ob er diese hohe Persönlichkeit wenigstens dem Namen nach kenne, erfolgte aus seinem Munde die allerliebste Erwiderung: »Der Priester oder Bischof dieses Namens ist mir leider unbekannt.« Ich wäre beinahe von der Bank gefallen; A. von Humboldt ein Bischof!!

In aller Frühe des Morgens waren wir abgefahren, am Abend zogen wir bereits in Turin ein. Soweit es sich erkennen ließ, machte die Stadt mit ihren breiten, wohl gepflasterten Straßen einen überaus sauberen, nichts weniger als italienischen Eindruck, denn man hätte glauben können, sich in irgend einer größeren Residenz in deutschen Landen zu befinden. Vor einem bescheidenen Gasthause in einer Nebenstraße, dem Albergo-del-Puzzo, stiegen wir ab und ich bezog ein winzig kleines Zimmer, das nach dem Hofe hin gelegen und durch eine Thür von einem eisernen Umgang aus zu erreichen war. Es war eine Art von Balkonzimmer, mit roten Fliesen gepflastert, unsauber, frostig, ungemütlich, mangelhaft ausgestattet und ohne Vorhänge vor der langen, wackligen Glasthür. Ich nahm eine frugale Mahlzeit ein, bei der Südfrüchte, d.h. Radieschen nebst grünen Salatblättern den wesentlichsten Bestandteil bildeten, entledigte mich meiner Kleider und legte mich seit acht Tagen zum erstenmale wieder in ein Bett.

Ich schlief spottschlecht und fühlte mich ernstlich krank. Mein aufgedunsener Leib schien die Härte von Stein zu besitzen, meine Stirn war glühend heiß, und als mich am frühen Morgen das lärmende Treiben der Knechte im Hofe erweckte, welche die Postpferde vor den Omnibuswagen spannten, erhob ich mich vom harten Lager, um mich gleich darauf wieder niederzulegen. Erst gegen drei Uhr nachmittags gewann ich soviel Kraft über mich, um mich anzukleiden und den Gang nach dem nahe gelegenen Museum zu wagen.

Mit Mühe und Not fragte ich mich nach der früher so heiß ersehnten Stätte durch und richtete an den alten, bärtigen Pförtner in großer Uniform vor der Thür in französischer Sprache die Frage, ob ich mich an richtiger Stelle befände. Er beantwortete sie zu meiner größten Freude im geläufigsten Französisch, lud mich in seine Loge links vom Hauptgange ein und schien das aufrichtigste Mitleid mit meinem elenden Zustande zu haben, denn ich sah blaß wie der Tod aus und der Angstschweiß stand mir vor der Stirn. Auf seine Bemerkung, daß gerade oben eine Sitzung der Herren Akademiker stattfände, zog ich die Empfehlung Alexander v. Humboldts aus der Tasche, überreichte sie ihm mit der Bitte, sie einem der Herren vorzuweisen, in der Hoffnung, einem Retter in meiner Not zu begegnen. Der Brief war eigentlich ein offenes Blatt, auf welches mein Gönner in klarer Handschrift die folgenden Worte niedergeschrieben hatte:

»Je prie tous ceux ui dans les belles Régions de l'Italie ont conservé quelque souvenir de mon nom et de mes travaux, d'accueillir avec bienveillance le porteur de ces lignes, Mr. le Docteur Brugsch, mon compatriote, dont les recherches archéologiques inspirent un grand intérêt et qui est aussi distingué par son savoir que par la délicat esse de ses sentiments.

Potsdam ce 6. Juillet 1851.
Le Bn. de Humboldt.«

Ich weiß sehr wohl, wie wenig ich für meine Person eine so schmeichelhafte Auszeichnung verdient habe, aber der edle Greis that für seine ergebenen Freunde lieber zu viel als zu wenig, wenn es sich darum handelte, sie zu unterstützen und in die große Welt einzuführen.

Der stattliche alte Pförtner, nach seiner Versicherung ein infolge von Verwundungen in Turin zurückgebliebener ehemaliger Grenadier der Garde Napoleon Bonapartes, hatte mich kaum verlassen, als ich auf meinem Stuhle in Ohnmacht fiel und alle Besinnung verlor. Ich erwachte erst, als ich mich mit Wasser bespritzt fühlte. Ich schlug die Augen auf und fand mich zu meinem Erstaunen von einem großen Kreise würdig aussehender Herrn umgeben, die sich voller Teilnahme nach meinem Befinden erkundigten und mir bereitwilligst ihre Hilfe anboten. Ein Mitglied der medizinischen Abteilung der Akademie übernahm augenblicklich meine Behandlung, untersuchte meinen Körper, befühlte meinen Puls, fragte nach diesem und jenem Ereignisse auf meiner Reise, und da ich das Allernatürlichste auf einer solchen langen Wanderung nicht bestätigen konnte, so wurde mir sofort ein warmes Bad anempfohlen und mir geraten, mich danach ins Bett zu legen und das Weitere abzuwarten.

»Das Weitere« ging pünktlich in meinem Zimmer eine Stunde später vor sich. Eine kräftige Hand pochte an die durchsichtige Glasthür und in der Meinung, daß es der liebenswürdige akademische Arzt sei, der mir seinen hilfreichen Besuch abzustatten komme, wandte ich mich nach der Thür mit einem vernehmlichen: »Entrez, Monsieur, s'il vous plaît!« Wer beschreibt meine Überraschung, als sich eine breit angelegte Frauengestalt in den vierziger Jahren ihres Lebensalters mit einem vollständig ausgebildeten schwarzen Schnurrbart über der Oberlippe durch die schmale Thür zwängte, mich italienisch begrüßte, den Inhalt eines zusammengelegten Packetes bloß legte und jene Prozedur an mir vollzog, die besorgte Mütter ihren Kindern nicht selten angedeihen lassen. Ich fühlte mich tief beschämt, aber die überaus stämmige Madame ließ sich nicht einschüchtern und das Unvermeidliche geschah.

Ich war gerettet, wenn auch tief zerknirscht. Meine antiquarischen Studien konnten noch an demselben Nachmittag in Angriff genommen werden.

In den Räumen des Museums hatte ich die Freude, dem Abbé Amadeo Peyron zubegegnen, dem jedem Ägyptologen wohlbekannten Verfasser eines koptisch-lateinischen Wörterbuches und Herausgeber der griechischen Papyri des Turiner Museums. Der alte gelehrte Herr mit seinen milden und freundlichen Zügen, die keineswegs an seinen geistlichen Stand erinnerten, begrüßte mich mit aufrichtiger Freude und lobte meine Arbeiten über das Demotische mit ungeheuchelter Wärme des Ausdruckes. Aber ich fühlte es wie einen Stich in das Herz, als er seine Lobsprüche mit folgender Bemerkung einleitete. »Ich habe, so sagte er mir, den jüngeren Champollion, den sogenannten Entdecker der Hieroglyphenentzifferung, wohl gekannt von seinen ersten Besuchen an, die er unserem Museum abstattete. Ich hielt ihn für einen gewöhnlichen Schwindler und seine Arbeiten haben mich in der Folge in meiner Ansicht bestärkt. Seine philologischen Leistungen sind mir bis zur Stunde unverstandene Rätsel geblieben. Wie anders hat Ihre demotische Grammatik auf mich eingewirkt....« Ich unterlasse es, seine weiteren Ausführungen wiederzugeben, um nicht den Schein zu erwecken, als wollte ich mich auf Kosten des arg verkannten großen Franzosen, dem ich mein eigenes erstes Wissen allein verdanke, in den unverdienten Vordergrund stellen. Trotz Peyron bleibt er allezeit der große Champollion.

Meine Arbeiten im ägyptischen Museum von Turin schenkten mir die unerwartetsten Genüsse und ich wurde nicht müde, die gebotenen Früchte emsig zu pflücken. Der damalige Direktor dieser Sammlung, der kenntnisreiche italienische Gelehrte Orcurti, öffnete mir mit liebenswürdigster Bereitwilligkeit selbst ihre verborgensten Schätze, zugleich aber auch sein ganzes Herz, das durch die tägliche Sorge für die Erhaltung seiner Familie bei einer Jahresbesoldung von 800! Franks auf das qualvollste litt. Ich empfand die lebhafteste Teilnahme für sein Schicksal, ohne doch selber die Mittel zu besitzen, ihm meine Hilfe zu bringen. Der Akademie fehlte eine ausreichende Dotation und alle meine Empfehlungen und Bemühungen um Verbesserung seiner Lage scheiterten an der leidigen Geldfrage. Der Arme ist frühzeitig gestorben, nachdem er der wissenschaftlichen Welt durch die Herausgabe eines Kataloges der reichen Sammlungen des Museums den letzten und wertvollsten Dienst geleistet hatte. Wie oft habe ich es seitdem erleben müssen, daß das Talent von Gottes Gnaden im Kampfe ums Dasein im Bettelrocke jämmerlich verendete, während Halbwisser und Faulenzer in ihrem Fette schwelgten und auf der Straße des Nepotismus zu reichen Pfründen gelangten!

Da ich kein wissenschaftliches Buch schreibe, so darf ich den Leser nicht mit Schilderungen wenn auch nur der ausgezeichnetsten Denkmäler plagen, die Turin zu einem der größten Anziehungspunkte für den wandernden Gelehrten machen. Ich will es nur nebenher bemerken, daß unter den demotischen Papyrusrollen sich die ältesten Beispiele der Anwendung der altägyptischen Volksschrift in Form datierter Kontrakte vorfinden. Sie gehören den Zeiten der Psammetiche an (um das siebente Jahrhundert v. Chr. Geb.), doch vermochte ich kaum die Hälfte ihres Inhaltes zu entziffern, denn die Schrift zeigt die ersten Anfänge ihrer Bildung aus jenen schwer zu erkennenden Formen der hieratischen Schriftzüge, wie sie als jener Epoche eigentümlich erscheinen.

In Turin hatte ich die Bekanntschaft eines deutschen liebenswürdigen Landsmannes gemacht, des Barons Pirch, der damals eine Stellung als Legationsrat bei der preußischen Gesandtschaft in Turin bekleidete. Seiner freundlichen Vermittlung verdankte ich manche Einführung in die vornehme Gesellschaft, nicht weniger seinen lebendigen Schilderungen die genaue Kenntnis von Stadt und Land bis zu den malerischen Gebirgszügen der schneebedeckten Seealpen im Hintergrunde der Stadt. Ein gemeinsamer Ausflug zu Wagen nach den Bergen in der Richtung nach dem Sommersitze Rivoli der reichen Turiner entzückte durch den landschaftlichen Reiz der Umgebung in nächster Nähe der Residenz. Freilich war eine gewisse Vorsicht nötig, denn als wir des Abends bei finsterer Nacht durch die Schluchten fuhren, wurden ein paar Pistolen in Bereitschaft gesetzt, um die damals nicht seltenen Angriffe von Briganten abweisen zu können.

Bei meiner Rückkehr nach der Heimat wählte ich diejenige Straße, die in westlicher Richtung von Turin über den Mont Cenis führt und die Städte Chambe ry und Aix-les-Bains, die Heimat der Savoyarden, berührt, um schließlich über Geus und Bern den Weg nach Basel einzuschlagen. Auf dem Postwagen belegte ich regelmäßig den hohen Sitz neben dem Schwager und genoß eine freie Umschau über die wundervollsten Naturgemälde in stetem Wechsel von Berg und Thal, die mir lebelang in der Erinnerung zurückgeblieben sind und mich außerdem in reichstem Maße für die Hungertour auf der Reise über den St. Gotthard entschädigten. Herr von Pirch, der mir auf das eindringlichste die Vorzüge des westlichen Weges empfohlen hatte, war in seinem vollen Rechte gewesen, und ich dankte ihm im Geiste und in der Wahrheit für den mir geleisteten guten Dienst. Eins will ich nicht vergessen hinzuzufügen. In Paris hatte ich die armen Savoyarden als bescheidene Kinder kennen gelernt. Auf ihrem Heimatsboden zeigten sie sich nichts weniger als liebenswürdig. Sie liefen neben dem Postwagen einher, bettelten mit lautem Geschrei um eine milde Gabe, und wenn ihnen dieselbe, in barer Münze gezahlt, nicht ansehnlich genug erschien, so warfen sie mit Steinen in die Fenster des Wagens, so daß die Gläser klirrend in Stücke gingen. Als man sich zu ihrer Verfolgung anschickte, schlugen sie sich seitwärts in die Büsche, um vorläufig auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden.

Meine Studentenjahre flossen bei meinem regelmäßigen Besuche der Universität und unter fortgesetzten demotischen Studien mit unglaublicher Geschwindigkeit dahin. In der Arbeit empfand ich die höchste Luft und jede neue Entdeckung auf dem Gebiete der altägyptischen Entzifferungen, für welche mir meine Reisen ein außerordentlich reiches Material zu Gebote gestellt hatten, konnte mich in einen wahren Freudentaumel versetzen. Thatsächlich lebte ich bisweilen in einem Zustande wirklicher Verzückung, die mein ganzes Nervensystem in Beschlag nahm und die merkwürdigsten Erscheinungen an mir hervorrief. Die folgende erwähne ich ausdrücklich, weil sie sich im Laufe der Zeit mehrfach wiederholte, so daß ich anfing mich beinahe vor mir selber zu fürchten.

Bis tief in die Nacht hinein saß ich eifrig vor meinen ägyptischen Inschriften, um beispielsweise die Aussprache und die grammatische Bedeutung eines Zeichens oder einer Wortgruppe festzustellen. Ich fand trotz alles Grübelns und Nachdenkens die Lösung nicht, legte mich übermüdet in mein Bett, das sich in meinem Arbeitszimmer befand, nachdem ich vorher die Lampe ausgedreht hatte, um in einen tiefen Schlaf zu verfallen. Im Traume setzte ich die unerledigt gebliebene Untersuchung fort, fand plötzlich die Lösung, verließ sofort meine Lagerstätte, nahm wie ein Nachtwandler mit geschlossenen Augen vor dem Tische Platz und schrieb das Ergebnis mit Bleistift auf ein Blättchen Papier. Ich erhob mich, kehrte nach meiner Schlafstätte zurück und schlief von neuem weiter.

Nach meinem Erwachen am Morgen war ich jedesmal erstaunt, die Lösung des Rätsels in deutlichen Schriftzügen vor mir zu sehen. Ich erinnerte mich wohl des Traumes, aber fragte mich vergebens, wie ich im stande gewesen war, in der dicksten Finsternis deutlich lesbare ganze Zeilen niederzuschreiben?

Eine andere Erscheinung, die mir unvergeßlich im Gedächtnis haftet, hatte einen gespenstigen Beigeschmack. Ein lieber Freund, der Landschaftsmaler Eduard Hildebrandt ruhmreichen Angedenkens, besaß einen gut erhaltenen Mumienkopf ägyptischen Ursprungs, den er auf seiner letzten Reise in Theben erworben hatte. Er machte ihn mir zum Geschenk und ich stellte ihn unter einen Glaskasten auf meinem Arbeitstisch. Die Augen daran waren aufgesperrt und zwischen den schwarz gewordenen und halb geöffneten Lippen zeigte sich eine Doppelreihe von blendend weißen Zähnen. Niemals hatte ich ein Gefühl des Abscheus oder des Grauens vor dem allerdings nicht schönen Anblick empfunden. Eines Tages saß ich von der Mittagsstunde an bis in die Nacht hinein ununterbrochen an meinen Tisch gefesselt, wie gewöhnlich mit schwierigen Fragen beschäftigt, die meine ganze Denkkraft in Anspruch nahmen, ohne daß es mir gelang, die gewünschte Antwort darauf zu finden. Unmutig richtete ich meinen Blick nach dem Kopfe und murmelte: »Wenn du, mehrtausendjähriges Menschenkind, deinen geschlossenen Mund öffnen wolltest, um mir die Antwort zu geben, was gäbe ich nicht darum!« In demselben Augenblick schlug es zwölf Uhr Mitternacht. Da sah ich zu meinem Entsetzen, wie die Augen des Mumienkopfes sich drehten, der Mund und die Zunge sich bewegten, mit einem Worte, wie das Tote zu leben begann. Kalter Schauer durchrieselte meine Glieder, mein Herz pochte, ich wandte den Kopf ab, um nichts mehr zu schauen, drehte die Lampe hastig aus und stürzte mich angekleidet in das Bett, um die Decke über meinen Kopf zu ziehen und eine angstvolle Stunde bis zum Einschlafen zu durchwachen. Am nächsten Morgen erschien der Kopf unverändert, wie er stets gewesen war. Ich hatte indes nichts Eiligeres zu thun, als ihn in einen Korb zu packen und dem ägyptischen Museum in Berlin als Eigentum zu übergeben. Mir war's, als sei ein Stein von meinem Herzen gefallen, nachdem ich mich von dem unheimlichen Nachbar befreit sah. Ich hatte an mir selber die Erfahrung gemacht, daß eine aufgeregte Phantasie dem sehenden Auge die schrecklichsten Bilder vorzugaukeln vermag. Ich habe später in Theben mitten unter altägyptischen Leichen mutterseelenallein geschlafen, aber niemals jenes qualvolle Gefühl verspürt, das mich bei der beschriebenen Erscheinung in Berlin mit dämonischer Gewalt gepackt hatte.

Noch während meiner Studienzeit konnte ich manche Ergebnisse meiner wissenschaftlichen Arbeiten im Druck der Öffentlichkeit übergeben und habe reichen Beifall, aber mit überwiegender Mehrheit vom Auslande her, für meine Entdeckungen eingeerntet. Es ist wahr, daß meine Abhandlungen ein eng begrenztes Gebiet der ägyptisch-demotischen Studien berührten, aber Alexander von Humboldt entdeckte in seiner ewigen Güte gerade darin einen besonderen Vorzug, da auch im Reiche der Natur die mikroskopischen Untersuchungen den größten Nutzen gewährten, weil sie in ihrer Verbindung miteinander die eigentliche Grundlage aller Forschung bildeten.

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