Mein Leben und mein Wandern

Mein Leben und mein Wandern

von Heinrich Brugsch

Berlin, allgemeiner Verein für Deutsche Litteratur, 1894

 

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1. Meine Kindheit und meine Schuljahre

Eine Abiturientenprüfung mit Hindernissen.

Mitten in dieser Unruhe vollzog sich die Prüfung, bei welcher der allgemein beliebte Schulrat Dr. Schultze, mein späterer Gönner, amtlicherseits zugegen war. Ich wurde nebst einigen anderen von der Prüfung befreit, blieb aber in der Klasse als unfreiwilliger Zeuge der Weisheitsproben der übrigen Abiturienten, unter denen sich auch ein späterer Staatsminister befand. Die Prüfung war im ganzen eine milde und nachsichtige zu nennen, »denn sie kamen alle durch«, während das Schreien und Toben der Menge von der Straße her an die Ohren schlug und jeden einzelnen von uns mit Bangigkeit erfüllte und schlimme Begebenheiten ahnen ließ. Wir sollten wenige Tage darauf es erfahren, daß gerade der Platz vor dem Gymnasialgebäude, der Köllnische Fischmarkt, und die daranstoßende Breite Straße den Schauplatz blutiger Ereignisse bildeten, die sich auf und neben der gewaltigen Barrikade vor der d'Heureuseschen Konditorei abspielten.

Im elterlichen Hause war die Stimmung gedrückt. Mein Vater gab mit ernster Miene Verhaltungsmaßregeln für den Fall seiner Abwesenheit, prüfte seine Waffen und nahm am Abend von seiner Familie Abschied, um zu Pferde an der Spitze seines Kommandos, dessen Stallung sich in unserer Nähe auf der westlichen Seite der Artillerie-Kaserne befand, den Ritt nach dem königlichen alten Schlosse anzutreten.

Der 18. März brach an und der Aufstand war im vollen Gange. An der entgegengesetzten Seite der Ebertsbrücke, die bei unserem Eckhause begann, in dessen zweitem Stockwerk sich unsere Wohnung befand, stand die russische Batterie mit ihrem hellgrünen Anstrich, welche seiner Zeit Kaiser Nikolaus dem Könige von Preußen zum Geschenk gemacht hatte. Die blitzenden Läufe der Geschützrohre richteten ihre Mündungen gerade auf unser Haus. An dem anderen Ende der Artilleriestraße, da, wo sie in die Oranienburger Straße einlief, war aus den umgestürzten Postwagen der an derselben Stelle liegenden Poststallungen eine Wagenburg errichtet worden, die das Volk besetzt hielt. Das Sturmläuten der Kirchenglocken, das Donnern der Kanonen, das Knattern von Gewehrfeuer, das wilde Geschrei vieler Menschen und am Abend der rotflammende Lichtschein eines gewaltigen Feuers mit weitsprühenden Funken – es rührte von dem Brande des Artilleriedepots in der Oranienburger Vorstadt her, das später in die Kaserne des 3. Garde-Regimentes umgewandelt wurde, – alles das flößte der Familie Entsetzen und Schrecken ein, und bange Trauer erfüllte unser geängstigtes Herz, wenn wir an das Schicksal des eigenen Vaters dachten. Wie dem bittersten Ernste bisweilen die spaßhafte Seite nicht abgeht, so war es auch bei uns der Fall. Ein mir befreundeter Dr. Siedler, ein wahres Phänomen in allem, was die Kenntnis der römischen Sprache und Litteratur anbetraf, aber ein Angstmeier sondergleichen, hatte seine Zuflucht nach unserer Wohnung genommen, in der Meinung, im Schoße einer militärischen Familie den besten Schutz zu finden. Mit bebenden Lippen bat er meine gute Mutter, ihm ein Versteck in einem – Kleiderspinde zu gönnen. Er zwängte seinen Leichnam hinein, ließ sich einschließen und blieb die ganze Nacht über in hockender Stellung in diesem seltsamen Asyle liegen.

Der Hufschlag trabender Pferde auf dem Pflaster und das Säbelgeklirr reitender Kavallerie lockte mich an ein Fenster, das nach der Straßenseite unserer Wohnung gelegen war. In diesem Augenblick vernahm ich lautes Gespräch auf der Treppe. Ich öffnete die Thür und fand mich mehreren Personen gegenüber, die sich anstrengten, einige mit Schwefelsäure angefüllte Ballons nach dem Boden des Hauses hinaufzuschleppen. Als Anführer erschien mir ein wohlbekannter Färbermeister, welcher der Nähe der Spree halber in dem von uns bewohnten Gehöft sein Geschäft als Blaufärber und Buntdrucker auf Kattun betrieb. Er hatte den schauderhaften Vorsatz gefaßt, von den Bodenfenstern aus die auf der Straße vorüberziehenden Truppen mit »Oleum« zu übergießen und dazu seine Gesellen als Helfer zu benutzen. Ich stürzte in das Zimmer zurück, riß zwei ungeladene Beutepistolen aus dem französischen Kriege von der Wand, spannte die Hähne am Feuersteinschloß und stellte mich todesmutig der Bande gegenüber. Indem ich mit den in beiden Händen ruhenden Pistolen jeden zu erschießen drohte, der es wagen würde noch einen Schritt treppaufwärts zu thun, sah ich zu meiner höchsten Befriedigung, wie sie eingeschüchtert die Ballons auf dem Flur vor der Thüre im Stiche ließen, sich eiligst treppabwärts salvierten, und ein paar Sekunden später jagte die Kavalleriemasse unter unseren Fenstern vorüber. Was wäre mit uns allen geschehen, wenn der unglückselige Färber seine Absicht ausgeführt hätte? Ich faßte seitdem einen tiefen Haß gegen den Urheber des so schändlichen Anschlages, und er hütete sich seinerseits mir je wieder in den Weg zu treten.

Kaum eine halbe Stunde später hallte der militärische Schritt von etwa 2000 Menschen durch die Straße, welche die Reiter durchzogen hatten, und mein Auge fiel auf dunkle Gestalten in Arbeitertracht, die mit Waffen und eisernen Stangen versehen in soldatischer Ordnung und in tiefem Schweigen auf dem Damm und über die hölzerne Brücke zogen. Nur hier und da erscholl der Ruf: »Licht raus!«, um zur Beleuchtung der Fenster aufzufordern. Die russische Batterie am anderen Ende der Brücke blieb stumm, denn die bedienende Mannschaft fehlte und zwar zu unserem Glücke. Das Eckhaus, in welchem wir wohnten, wäre in Grund und Boden geschossen worden.

Wir blieben die Nacht über in unseren Kleidern wach, denn wer hätte an den Schlaf denken können? und sahen mit Bangigkeit dem anbrechenden Morgen entgegen. Das unheimliche Getöse war verstummt und von allen Richtungen her brüllte das Victoria! durch die Straßen. Gegen 9 Uhr machte ich mich aus dem Hause, um nach dem Verbleib meines Vaters Erkundigungen einzuziehen, zunächst nach den Stallungen der Leib-Gendarmerie, wo man am besten wissen mußte, ob und wann die Truppe zurückkehren mußte. Ich hatte etwa eine Stunde in dem mir wohlbekannten Raume zugebracht, mir die Zeit damit vertreibend, die Tafeln zu lesen, die über jedem Stande angebracht waren, denn ich hatte sie selbst mit Kreidewasser auf schwarz lackiertem Holzgrunde niedergeschrieben. Ich ließ die Namen der Numa, Nero, Epaminondas u.s.w., ihre Abstammung, Größe, Alter und was sonst zu einem Pferde-Nationale gehört, an meinem Auge vorüberziehen, aber meine Gedanken waren ganz wo anders, bei dem Vater, dessen Rückkehr ich voll peinlicher Ungeduld erwartete.

Da schlug Pferdegetrappel an mein Ohr und ich vernahm deutlich die Kommandostimme des teuren Mannes. »Halt! Fertig zum Absteigen! Ab!« Ich stürzte hinaus. Die ergrauten Reiter hatten eben den Fuß aus dem Bügel gesetzt und waren im Begriff, die Zügel an der Kandare zu erfassen. Mein Vater sah bleich und wie plötzlich gealtert aus. Mit den Worten: »Vater, das Volk hat gesiegt«, vor der versammelten Reiterschar mit deutlich vernehmbarer Stimme ausgesprochen, trat ich ihm näher, als ein schallender Streich von seiner Hand auf meine rechte Backe fiel. Ich empfing eine Lehre, wie sie eindringlicher wohl niemals mitgeteilt worden ist. Der Empfänger hat sich später niemals auch nur mit einer Silbe dem Vater gegenüber darüber beklagt, denn die augenblickliche Strafe war wohlverdient, und er küßte die Hand, die sie ihm so gründlich verabreicht hatte.

Soldatentreue ist ein golden Ding und nichts geht über ein ehrliches Soldatenherz. Das habe ich so recht an meinem seligen Vater erfahren können. Ich glaube, daß kein lebender Zeitgenosse mehr vorhanden ist, dem das folgende Ereignis bekannt ist, das ich als einen thatsächlichen Beweis für diese Treue der vollen Wahrheit gemäß heute erzählen darf.

Die Pferde wurden in den Stall geführt, abgesattelt, schnell abgerieben und gefüttert. Mein Vater ließ von seiner Mannschaft Schemel herbeitragen und ein inzwischen herbeigeholter Barbier erhielt den Auftrag, den vierundzwanzig Männern den Schmuck ihres Bartes vollständig abzunehmen. Er selbst ließ als der erste die Beraubung des Bartes an sich vollziehen. Ich stand schüchtern und beschämt in einer fernen Ecke, hörte aber deutlich die folgende Parole-Ausgabe aus seinem Munde: »Die Mannschaften werden sich nach ihrer Behausung begeben, eine bürgerliche Kleidung anziehen und um drei Uhr nachmittags hier wieder erscheinen. Es ist zwar der Befehl erteilt worden, daß die Truppen Berlin zu verlassen haben. Ich bin entschlossen hier zu bleiben, um auch im Bürgerkleide meinem König als treuer Soldat zu dienen. Die Leib-Gendarmerie gehört in die Nähe Sr. Majestät und wir werden gemeinschaftlich diese unsere Aufgabe zu erfüllen wissen. Alles weitere um drei Uhr.«

In dem Vorzimmer des Königs befand sich bereits um 4 Uhr nachmittags eine Bürgerwehrwache mit Gewehr im Arm, die aus 24 Mann bestand und ihre Posten mit pünktlicher Regelmäßigkeit wechselte. Als der König aus seinen Gemächern trat, um ein freundliches Wort an die einzelnen zu richten, ließ mein Vater ein lautes »Präsentiert das Gewehr!« als Kommandoruf erschallen. Erstaunt trat der König auf ihn zu, um nach seinem Namen und seinen Lebensverhältnissen zu fragen. Die gewonnene Aufklärung preßte ihm Thränen aus den Augen und er drückte ihm mit den Worten die Hand: »Nun bin ich beruhigt, denn treuere Wächter kann ich mir nicht wünschen.«

Inzwischen fand unten in dem großen Raume neben der Wendeltreppe, im zweiten Schloßhofe, ein dichtes Gedränge statt; die selige Bürgerwehr aß ihre belegten Butterbrote, trank Wein und Bier dazu und die Philister feierten unter großen Worten ihren Sieg im Kampfe um die Freiheit, in welchem die wenigsten ihr Leben und ihre Knochen in die Schanzen geschlagen hatten.

Ich betrachte es nicht als meine Aufgabe, die Märztage zu schildern, welche auf der einen Seite verhaltene Wut und stillen Ingrimm, auf der anderen hellen Jubel und tobendes Frohlocken in ihrem Gefolge hatten. Die Gegensätze hatten sich nach beiden Richtungen hin zugespitzt und prallten hart aufeinander, so daß es selbst im Schoße der Familie zwischen den einzelnen Mitgliedern zu argen Reibereien kam. Im eigenen Hause war der gestrenge Vater ein Mann von erprobter Königstreue, und es durfte kein Wort geäußert werden, das mit seinen Empfindungen nicht im Einklang stand. Er war deshalb einer der ersten, die in den damals gestifteten Treubund eintraten und als äußeres Abzeichen die Rosette der schwarzweißen Kokarde an Stelle der deutschen Farben an ihrem Hute trugen.

Einer Erbtante, die sich damals zu längerem Aufenthalte in unserer Familie befand und in überschwänglicher Sprache die errungene Freiheit pries, dabei aber über Despotismus und Soldatenwirtschaft unbesonnene Äußerungen fallen ließ, gab er eine so kernige Antwort, mit dem Schlußsatze: »dann scheren Sie sich lieber aus meinem Hause!« daß sie schleunigst ihre sieben Sachen zusammenpackte und nach wenigen Stunden in einer Droschke davonfuhr. Nicht bloß die Tante, sondern ihr ganzes erhebliches Vermögen war für uns Kinder unwiderbringlich verloren.

Am Sonntag Nachmittag des 19. März begab ich mich nach unserem alten Gymnasium, um mich nach dem Schicksale meines Direktors zu erkundigen, denn das alte Rathaus, am Fischmarkt gelegen, war nebst d'Heureuses Konditorei von der Breiten Straße aus den Kartätschenschüssen der Artillerie und dem Kugelregen der Infanterie ausgesetzt gewesen, um die Verteidiger einer Riesenbarrikade am Vordringen nach dem Schlosse zu verhindern. Beide Häuser waren wie mit Kugeln gespickt und allenthalben zeigten Blutspuren und Blutlachen die verheerenden Wirkungen der Geschosse. Im Rathause selber herrschte in der Wohnung des Direktors tiefe Trauer. Das Bolk war am 18. März in das hohe, feste Gebäude eingedrungen, hatte die Fenster bis zu den Dachluken hinauf besetzt und ein ununterbrochenes Feuer auf die Soldaten eröffnet. Dem Andrängen der vorrückenden Truppen konnte die vorher beschriebene Barrikade keinen längeren Widerstand mehr leisten, ein Teil der erbitterten Mannschaften drang in das Haus selber ein, durchstöberte jeden Winkel, um an den Aufrührern ihren Mut zu kühlen, und ließ selbst die Wohnung des Direktors nicht unbesucht. Dieser, mit seiner Kriegsmedaille von 1813, 14 und 15 auf der Brust, stellte sich den stürmenden Soldaten entgegen, erhielt einen Hieb über das Gesicht, die Betten wurden mit den Bajonetten durchstochen und ein zufällig anwesender Besuch des Direktors, ein Herr v. Holzendorf, seines blonden Vollbartes halber verhaftet und in Begleitung von zwei Soldaten abgeführt. Da man eine plötzliche Bewegung des Arrestanten als Fluchtversuch ansah, so wurde er mitten auf der Straße durchs Herz geschossen. Entseelt sank er auf das Pflaster nieder. So entsetzlich in unserer Gegenwart die That erscheinen mag, so sehr muß als Entschuldigung die Erbitterung dienen, die von der einen Seite die Truppen, von der andern die sogenannten Freiheitshelden beseelte. Zur ruhigen Überlegung gab es keine Zeit und der Unschuldige mußte häufig mit dem Schuldigen leiden. Man fackelte eben nicht lange und das Ich oder Du war zur Losung geworden.

Ich erinnere mich einer Geschichte, die überaus treffend die damalige Situation malt. Sie wurde mir von einem Bekannten erzählt, der bei dem zweiten Garderegiment sein Jahr als Freiwilliger abdiente und bereits die Unteroffiziertreffen trug, als seine Compagnie nach den Linden beordert wurde, die Barrikade an der Großen Friedrichstraße zu nehmen. Das daneben stehende Haus von Kranzler war mit Kämpfern aus dem Volke besetzt, die den Anmarsch der Truppen erwarteten. Mein Freund war Flügelmann, der sich es fest vorgenommen hatte, auf keinen Mitbürger zu schießen. »Denke dir nur«, schloß er in nachträglicher Entrüstung später die Erzählung seiner Heldenthaten, »da sehe ich einen Kerl am Eckfenster, der in gerader Richtung auf mich zielte. Paff! hatte er seine Kugel in der Brust weg. Er überschlug sich und fiel taumelnd zurück. Ich war mit einem Schlage eines Besseren belehrt worden; ich hielt meinen Gegner fest im Auge, um mein eigenes Leben zu verteidigen. Ich oder du, aber mir war es lieber du!«

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