1. Meine Kindheit und meine Schuljahre
Eine Abiturientenprüfung mit Hindernissen.
Mitten in dieser Unruhe vollzog sich die Prüfung, bei
welcher der allgemein beliebte Schulrat Dr. Schultze, mein
späterer Gönner, amtlicherseits zugegen war. Ich wurde nebst
einigen anderen von der Prüfung befreit, blieb aber in der
Klasse als unfreiwilliger Zeuge der Weisheitsproben der
übrigen Abiturienten, unter denen sich auch ein späterer
Staatsminister befand. Die Prüfung war im ganzen eine milde
und nachsichtige zu nennen, »denn sie kamen alle durch«,
während das Schreien und Toben der Menge von der Straße her an
die Ohren schlug und jeden einzelnen von uns mit Bangigkeit
erfüllte und schlimme Begebenheiten ahnen ließ. Wir sollten
wenige Tage darauf es erfahren, daß gerade der Platz vor dem
Gymnasialgebäude, der Köllnische Fischmarkt, und die
daranstoßende Breite Straße den Schauplatz blutiger Ereignisse
bildeten, die sich auf und neben der gewaltigen Barrikade vor
der d'Heureuseschen Konditorei abspielten.
Im elterlichen Hause war die Stimmung gedrückt. Mein Vater
gab mit ernster Miene Verhaltungsmaßregeln für den Fall seiner
Abwesenheit, prüfte seine Waffen und nahm am Abend von seiner
Familie Abschied, um zu Pferde an der Spitze seines Kommandos,
dessen Stallung sich in unserer Nähe auf der westlichen Seite
der Artillerie-Kaserne befand, den Ritt nach dem königlichen
alten Schlosse anzutreten.
Der 18. März brach an und der Aufstand war im vollen Gange.
An der entgegengesetzten Seite der Ebertsbrücke, die bei
unserem Eckhause begann, in dessen zweitem Stockwerk sich
unsere Wohnung befand, stand die russische Batterie mit ihrem
hellgrünen Anstrich, welche seiner Zeit Kaiser Nikolaus dem
Könige von Preußen zum Geschenk gemacht hatte. Die blitzenden
Läufe der Geschützrohre richteten ihre Mündungen gerade auf
unser Haus. An dem anderen Ende der Artilleriestraße, da, wo
sie in die Oranienburger Straße einlief, war aus den
umgestürzten Postwagen der an derselben Stelle liegenden
Poststallungen eine Wagenburg errichtet worden, die das Volk
besetzt hielt. Das Sturmläuten der Kirchenglocken, das Donnern
der Kanonen, das Knattern von Gewehrfeuer, das wilde Geschrei
vieler Menschen und am Abend der rotflammende Lichtschein
eines gewaltigen Feuers mit weitsprühenden Funken – es rührte
von dem Brande des Artilleriedepots in der Oranienburger
Vorstadt her, das später in die Kaserne des 3.
Garde-Regimentes umgewandelt wurde, – alles das flößte der
Familie Entsetzen und Schrecken ein, und bange Trauer erfüllte
unser geängstigtes Herz, wenn wir an das Schicksal des eigenen
Vaters dachten. Wie dem bittersten Ernste bisweilen die
spaßhafte Seite nicht abgeht, so war es auch bei uns der Fall.
Ein mir befreundeter Dr. Siedler, ein wahres Phänomen in
allem, was die Kenntnis der römischen Sprache und Litteratur
anbetraf, aber ein Angstmeier sondergleichen, hatte seine
Zuflucht nach unserer Wohnung genommen, in der Meinung, im
Schoße einer militärischen Familie den besten Schutz zu
finden. Mit bebenden Lippen bat er meine gute Mutter, ihm ein
Versteck in einem – Kleiderspinde zu gönnen. Er zwängte seinen
Leichnam hinein, ließ sich einschließen und blieb die ganze
Nacht über in hockender Stellung in diesem seltsamen Asyle
liegen.
Der Hufschlag trabender Pferde auf dem Pflaster und das
Säbelgeklirr reitender Kavallerie lockte mich an ein Fenster,
das nach der Straßenseite unserer Wohnung gelegen war. In
diesem Augenblick vernahm ich lautes Gespräch auf der Treppe.
Ich öffnete die Thür und fand mich mehreren Personen
gegenüber, die sich anstrengten, einige mit Schwefelsäure
angefüllte Ballons nach dem Boden des Hauses
hinaufzuschleppen. Als Anführer erschien mir ein wohlbekannter
Färbermeister, welcher der Nähe der Spree halber in dem von
uns bewohnten Gehöft sein Geschäft als Blaufärber und
Buntdrucker auf Kattun betrieb. Er hatte den schauderhaften
Vorsatz gefaßt, von den Bodenfenstern aus die auf der Straße
vorüberziehenden Truppen mit »Oleum« zu übergießen und dazu
seine Gesellen als Helfer zu benutzen. Ich stürzte in das
Zimmer zurück, riß zwei ungeladene Beutepistolen aus dem
französischen Kriege von der Wand, spannte die Hähne am
Feuersteinschloß und stellte mich todesmutig der Bande
gegenüber. Indem ich mit den in beiden Händen ruhenden
Pistolen jeden zu erschießen drohte, der es wagen würde noch
einen Schritt treppaufwärts zu thun, sah ich zu meiner
höchsten Befriedigung, wie sie eingeschüchtert die Ballons auf
dem Flur vor der Thüre im Stiche ließen, sich eiligst
treppabwärts salvierten, und ein paar Sekunden später jagte
die Kavalleriemasse unter unseren Fenstern vorüber. Was wäre
mit uns allen geschehen, wenn der unglückselige Färber seine
Absicht ausgeführt hätte? Ich faßte seitdem einen tiefen Haß
gegen den Urheber des so schändlichen Anschlages, und er
hütete sich seinerseits mir je wieder in den Weg zu treten.
Kaum eine halbe Stunde später hallte der militärische
Schritt von etwa 2000 Menschen durch die Straße, welche die
Reiter durchzogen hatten, und mein Auge fiel auf dunkle
Gestalten in Arbeitertracht, die mit Waffen und eisernen
Stangen versehen in soldatischer Ordnung und in tiefem
Schweigen auf dem Damm und über die hölzerne Brücke zogen. Nur
hier und da erscholl der Ruf: »Licht raus!«, um zur
Beleuchtung der Fenster aufzufordern. Die russische Batterie
am anderen Ende der Brücke blieb stumm, denn die bedienende
Mannschaft fehlte und zwar zu unserem Glücke. Das Eckhaus, in
welchem wir wohnten, wäre in Grund und Boden geschossen
worden.
Wir blieben die Nacht über in unseren Kleidern wach, denn
wer hätte an den Schlaf denken können? und sahen mit
Bangigkeit dem anbrechenden Morgen entgegen. Das unheimliche
Getöse war verstummt und von allen Richtungen her brüllte das
Victoria! durch die Straßen. Gegen 9 Uhr machte ich mich aus
dem Hause, um nach dem Verbleib meines Vaters Erkundigungen
einzuziehen, zunächst nach den Stallungen der
Leib-Gendarmerie, wo man am besten wissen mußte, ob und wann
die Truppe zurückkehren mußte. Ich hatte etwa eine Stunde in
dem mir wohlbekannten Raume zugebracht, mir die Zeit damit
vertreibend, die Tafeln zu lesen, die über jedem Stande
angebracht waren, denn ich hatte sie selbst mit Kreidewasser
auf schwarz lackiertem Holzgrunde niedergeschrieben. Ich ließ
die Namen der Numa, Nero, Epaminondas u.s.w., ihre Abstammung,
Größe, Alter und was sonst zu einem Pferde-Nationale gehört,
an meinem Auge vorüberziehen, aber meine Gedanken waren ganz
wo anders, bei dem Vater, dessen Rückkehr ich voll peinlicher
Ungeduld erwartete.
Da schlug Pferdegetrappel an mein Ohr und ich vernahm
deutlich die Kommandostimme des teuren Mannes. »Halt! Fertig
zum Absteigen! Ab!« Ich stürzte hinaus. Die ergrauten Reiter
hatten eben den Fuß aus dem Bügel gesetzt und waren im
Begriff, die Zügel an der Kandare zu erfassen. Mein Vater sah
bleich und wie plötzlich gealtert aus. Mit den Worten: »Vater,
das Volk hat gesiegt«, vor der versammelten Reiterschar mit
deutlich vernehmbarer Stimme ausgesprochen, trat ich ihm
näher, als ein schallender Streich von seiner Hand auf meine
rechte Backe fiel. Ich empfing eine Lehre, wie sie
eindringlicher wohl niemals mitgeteilt worden ist. Der
Empfänger hat sich später niemals auch nur mit einer Silbe dem
Vater gegenüber darüber beklagt, denn die augenblickliche
Strafe war wohlverdient, und er küßte die Hand, die sie ihm so
gründlich verabreicht hatte.
Soldatentreue ist ein golden Ding und nichts geht über ein
ehrliches Soldatenherz. Das habe ich so recht an meinem
seligen Vater erfahren können. Ich glaube, daß kein lebender
Zeitgenosse mehr vorhanden ist, dem das folgende Ereignis
bekannt ist, das ich als einen thatsächlichen Beweis für diese
Treue der vollen Wahrheit gemäß heute erzählen darf.
Die Pferde wurden in den Stall geführt, abgesattelt,
schnell abgerieben und gefüttert. Mein Vater ließ von seiner
Mannschaft Schemel herbeitragen und ein inzwischen
herbeigeholter Barbier erhielt den Auftrag, den vierundzwanzig
Männern den Schmuck ihres Bartes vollständig abzunehmen. Er
selbst ließ als der erste die Beraubung des Bartes an sich
vollziehen. Ich stand schüchtern und beschämt in einer fernen
Ecke, hörte aber deutlich die folgende Parole-Ausgabe aus
seinem Munde: »Die Mannschaften werden sich nach ihrer
Behausung begeben, eine bürgerliche Kleidung anziehen und um
drei Uhr nachmittags hier wieder erscheinen. Es ist zwar der
Befehl erteilt worden, daß die Truppen Berlin zu verlassen
haben. Ich bin entschlossen hier zu bleiben, um auch im
Bürgerkleide meinem König als treuer Soldat zu dienen. Die
Leib-Gendarmerie gehört in die Nähe Sr. Majestät und wir
werden gemeinschaftlich diese unsere Aufgabe zu erfüllen
wissen. Alles weitere um drei Uhr.«
In dem Vorzimmer des Königs befand sich bereits um 4 Uhr
nachmittags eine Bürgerwehrwache mit Gewehr im Arm, die aus 24
Mann bestand und ihre Posten mit pünktlicher Regelmäßigkeit
wechselte. Als der König aus seinen Gemächern trat, um ein
freundliches Wort an die einzelnen zu richten, ließ mein Vater
ein lautes »Präsentiert das Gewehr!« als Kommandoruf
erschallen. Erstaunt trat der König auf ihn zu, um nach seinem
Namen und seinen Lebensverhältnissen zu fragen. Die gewonnene
Aufklärung preßte ihm Thränen aus den Augen und er drückte ihm
mit den Worten die Hand: »Nun bin ich beruhigt, denn treuere
Wächter kann ich mir nicht wünschen.«
Inzwischen fand unten in dem großen Raume neben der
Wendeltreppe, im zweiten Schloßhofe, ein dichtes Gedränge
statt; die selige Bürgerwehr aß ihre belegten Butterbrote,
trank Wein und Bier dazu und die Philister feierten unter
großen Worten ihren Sieg im Kampfe um die Freiheit, in welchem
die wenigsten ihr Leben und ihre Knochen in die Schanzen
geschlagen hatten.
Ich betrachte es nicht als meine Aufgabe, die Märztage zu
schildern, welche auf der einen Seite verhaltene Wut und
stillen Ingrimm, auf der anderen hellen Jubel und tobendes
Frohlocken in ihrem Gefolge hatten. Die Gegensätze hatten sich
nach beiden Richtungen hin zugespitzt und prallten hart
aufeinander, so daß es selbst im Schoße der Familie zwischen
den einzelnen Mitgliedern zu argen Reibereien kam. Im eigenen
Hause war der gestrenge Vater ein Mann von erprobter
Königstreue, und es durfte kein Wort geäußert werden, das mit
seinen Empfindungen nicht im Einklang stand. Er war deshalb
einer der ersten, die in den damals gestifteten Treubund
eintraten und als äußeres Abzeichen die Rosette der
schwarzweißen Kokarde an Stelle der deutschen Farben an ihrem
Hute trugen.
Einer Erbtante, die sich damals zu längerem Aufenthalte in
unserer Familie befand und in überschwänglicher Sprache die
errungene Freiheit pries, dabei aber über Despotismus und
Soldatenwirtschaft unbesonnene Äußerungen fallen ließ, gab er
eine so kernige Antwort, mit dem Schlußsatze: »dann scheren
Sie sich lieber aus meinem Hause!« daß sie schleunigst ihre
sieben Sachen zusammenpackte und nach wenigen Stunden in einer
Droschke davonfuhr. Nicht bloß die Tante, sondern ihr ganzes
erhebliches Vermögen war für uns Kinder unwiderbringlich
verloren.
Am Sonntag Nachmittag des 19. März begab ich mich nach
unserem alten Gymnasium, um mich nach dem Schicksale meines
Direktors zu erkundigen, denn das alte Rathaus, am Fischmarkt
gelegen, war nebst d'Heureuses Konditorei von der Breiten
Straße aus den Kartätschenschüssen der Artillerie und dem
Kugelregen der Infanterie ausgesetzt gewesen, um die
Verteidiger einer Riesenbarrikade am Vordringen nach dem
Schlosse zu verhindern. Beide Häuser waren wie mit Kugeln
gespickt und allenthalben zeigten Blutspuren und Blutlachen
die verheerenden Wirkungen der Geschosse. Im Rathause selber
herrschte in der Wohnung des Direktors tiefe Trauer. Das Bolk
war am 18. März in das hohe, feste Gebäude eingedrungen, hatte
die Fenster bis zu den Dachluken hinauf besetzt und ein
ununterbrochenes Feuer auf die Soldaten eröffnet. Dem
Andrängen der vorrückenden Truppen konnte die vorher
beschriebene Barrikade keinen längeren Widerstand mehr
leisten, ein Teil der erbitterten Mannschaften drang in das
Haus selber ein, durchstöberte jeden Winkel, um an den
Aufrührern ihren Mut zu kühlen, und ließ selbst die Wohnung
des Direktors nicht unbesucht. Dieser, mit seiner
Kriegsmedaille von 1813, 14 und 15 auf der Brust, stellte sich
den stürmenden Soldaten entgegen, erhielt einen Hieb über das
Gesicht, die Betten wurden mit den Bajonetten durchstochen und
ein zufällig anwesender Besuch des Direktors, ein Herr v.
Holzendorf, seines blonden Vollbartes halber verhaftet und in
Begleitung von zwei Soldaten abgeführt. Da man eine plötzliche
Bewegung des Arrestanten als Fluchtversuch ansah, so wurde er
mitten auf der Straße durchs Herz geschossen. Entseelt sank er
auf das Pflaster nieder. So entsetzlich in unserer Gegenwart
die That erscheinen mag, so sehr muß als Entschuldigung die
Erbitterung dienen, die von der einen Seite die Truppen, von
der andern die sogenannten Freiheitshelden beseelte. Zur
ruhigen Überlegung gab es keine Zeit und der Unschuldige mußte
häufig mit dem Schuldigen leiden. Man fackelte eben nicht
lange und das Ich oder Du war zur Losung geworden.
Ich erinnere mich einer Geschichte, die überaus treffend
die damalige Situation malt. Sie wurde mir von einem Bekannten
erzählt, der bei dem zweiten Garderegiment sein Jahr als
Freiwilliger abdiente und bereits die Unteroffiziertreffen
trug, als seine Compagnie nach den Linden beordert wurde, die
Barrikade an der Großen Friedrichstraße zu nehmen. Das daneben
stehende Haus von Kranzler war mit Kämpfern aus dem Volke
besetzt, die den Anmarsch der Truppen erwarteten. Mein Freund
war Flügelmann, der sich es fest vorgenommen hatte, auf keinen
Mitbürger zu schießen. »Denke dir nur«, schloß er in
nachträglicher Entrüstung später die Erzählung seiner
Heldenthaten, »da sehe ich einen Kerl am Eckfenster, der in
gerader Richtung auf mich zielte. Paff! hatte er seine Kugel
in der Brust weg. Er überschlug sich und fiel taumelnd zurück.
Ich war mit einem Schlage eines Besseren belehrt worden; ich
hielt meinen Gegner fest im Auge, um mein eigenes Leben zu
verteidigen. Ich oder du, aber mir war es lieber du!«