4. Kampf um das Dasein
Alexander von Humboldts Abscheiden.
Kaum ein Jahr nach dem Tode meines eigenen Vaters sollte
ich den großen Schmerz erleben, Alexander v. Humboldt am 6.
Mai 1859, zweieinhalb Uhr nachmittags, aus dem Leben scheiden
zu sehen und somit einen väterlichen Beschützer ein für
allemal zu verlieren. Schon einige Monate vor diesem traurigen
Tage fühlte der unvergleichliche Gelehrte und Menschenfreund
die zunehmende Abnahme seiner Kräfte. Der sogenannte Pruritus
senilis quälte ihn bei Tag und bei Nacht und nach seinem
eigenen Ausdruck war es ihm öfters, als müsse er aus der Haut
fahren. Nichtsdestoweniger setzte er seine Arbeiten an dem
Kosmos mit ununterbrochenem Eifer fort, um noch vor seinem
Tode sein Lebenswerk, die ganze Summe seiner Studien
umfassend, der Nachwelt als ein Erbe seines Geistes zu
hinterlassen. Nebenbei ordnete er seine Papiere und bereitete
sich männlich für sein nahes Ende vor. So oft ich die
Gelegenheit hatte, A. von Humboldt während dieser Zeit zu
sehen, konnte ich nur mit tiefster Rührung sein Zimmer
verlassen, denn er klagte, wie viel ihm noch zu thun übrig
bleibe, um sein Werk zu vollenden, und wie er selber daran
zweifeln müsse, sein Ziel zu erreichen.
Bei einem meiner Besuche erhielt ich zu meiner größten
Überraschung aus seinen Händen die ungeordneten Sammlungen zu
einer von ihm begonnenen, aber unvollendet gebliebenen Arbeit
über die Entstehung der Ziffern und den Ursprung der
Rechenmethoden bei den verschiedenen Völkern der Erde. Die
Sammlung, die zum größten Teil von ihm eigenhändig auf
Blättern und Zetteln niedergeschrieben ist, enthält außerdem
wertvolle Beiträge in den brieflichen Mitteilungen von
berühmten zeitgenössischen Gelehrten, die auf die an sie
gerichteten Fragen im Bezug auf den Gegenstand seiner
Untersuchungen ausführliche Antworten erteilt hatten. »Ich
übergebe Ihnen diese Handschrift«, so redete er mich an, »um
sie nach meinem Tode zu veröffentlichen. Es sind wilde
Materialien, an welchen ich vierzig Jahre lang gesammelt habe,
um sie dereinst in aller Muße zu verarbeiten. Meine Tage sind
gezählt, und so übergebe ich Ihnen, der über die Zahlzeichen
und das Rechnungswesen der alten Ägypter sich so eingehenden
Forschungen hingegeben hat, dies Manuskript mit der Bitte, die
Aufgabe in meinem Sinne zu lösen. Die Aufschrift, welche sich
von meiner Hand niedergeschrieben auf dem Umschlage befindet,
soll dazu dienen, Ihr Eigentumsrecht vor aller Welt zu
bestätigen.«
Ein Schlaganfall, welcher mitten bei der nächtlichen Arbeit
den hochberühmten Nestor der Wissen schaft getroffen hatte,
nötigte ihn, die Feder für immer niederzulegen, um seinen Tod
in dem Bette seines Alkovens mit philosophischer Ruhe zu
erwarten. Ganz Berlin nahm den innigsten Anteil an seinem
Leiden, und selbst die Prinzessinnen des königlichen Hauses
fühlten sich bewogen, bei seinem Heim vorzufahren, sich nach
seinem Ergehen zu erkundigen und Blumenspenden zu
hinterlassen. Auf seinen besonderen Wunsch wurde ich wenige
Tage vor seinem Abscheiden zu ihm gerufen, um Abschied von ihm
zu nehmen und seinen letzten Händedruck zu empfangen. Ich war
überrascht, aus seinen Zügen keineswegs die Vorboten des nahen
Todes herauszulesen und in seinem Gespräch die frühere
Lebendigkeit und die Teilnahme an wissenschaft lichen Dingen
wiederzufinden. Als er Thränen in meinem Auge sah, bemerkte er
mit Lächeln in seinen Zügen, »meine Zeit ist gekommen, und ich
sterbe ruhig, denn Sie wissen, was ich davon denke.« Dann
sprang er plötzlich und mit einer gewissen Bitterkeit zu einem
Gespräche über, das den Charlatanismus in der Wissenschaft
berührte. Herr Dr. R...., »der so wichtige Entdeckungen auf
dem Gebiete des tierischen Galvanismus gemacht hat, scheut
sich nicht, dieselben in marktschreierischer Weise
auszubeuten, um ein Geld einbringendes Geschäft damit zu
verbinden. Er gehört freilich zu denen, die durch das Rote
Meer gezogen sind, allein seine wissenschaftliche Bedeutung
hätte ihn abhalten sollen, aus seinen Entdeckungen ein
gewinnreiches Geschäft zu machen.« Mit diesen Worten drückte
er seinen Unwillen über das Gebahren eines damals sehr
bekannten gelehrten Arztes aus.
Im Verlauf der weiteren Unterhaltung befragte er mich über
den neuesten Stand meiner Studien und gab mir Lehren für
meinen späteren Lebensweg, wie sie der Vater auf seinem
Sterbebette einem geliebten Sohne an das Herz zu legen pflegt.
Tief erschüttert verließ ich das enge Gemach, in dem bald
darauf der größte Geist unseres Jahrhunderts vom Leben
Abschied nehmen sollte.
Für die Beisetzung A. von Humboldts im Dome zu Berlin war
die achte Morgenstunde bestimmt. Eine unglaubliche
Menschenmenge hatte sich lange vor der angesetzten Zeit in der
Nähe des Sterbehauses eingefunden, um durch ihre Anwesenheit
ihre Teilnahme zu bekunden. Zu den ersten, die sich dem
Trauergeleit anschlossen, gehörten die Vertreter der Stadt
Berlin, die ihrem Ehrenbürger diese letzte Huldigung auf Erden
bezeugten. Selbstverständlich bildete die gelehrte Welt den
Hauptteil der Leidtragenden. Der Leichenzug, der nicht enden
zu wollen schien, schlug den Weg nach der Friedrichstraße ein
und bog bei seiner Ankunft Unter den Linden in der Richtung
nach dem Dom ein. Meine Wenigkeit als Privatdozent an der
Berliner Universität befand sich unter den letzten im Zuge,
aber tiefer konnte niemand den Schmerz empfinden, der meine
Brust bei dem Gedanken an den Verlust des Unvergeßlichen
erfüllte, der mit so mächtiger Hand in mein Leben eingegriffen
hatte, nachdem er das Soldatenkind aus dem Staube zu sich
emporgehoben hatte.
Ich stand jetzt ganz allein ohne Ratgeber in der Welt da
und bedurfte aller Energie, um mich aufrecht zu erhalten und
aus reinster Liebe zur Wissenschaft den schweren Kampf um das
Dasein zu bestehen. Ich hatte Freunde, die mich stützten und
meinen gesunkenen Mut zu heben versuchten, aber die stille
Klage um den Verlorenen wollte nicht schweigen, denn niemand
in der Welt schien mir im stande zu sein, einen Alexander von
Humboldt zu ersetzen. Die Zeit der Trauer ging allmählich
vorüber, ich fing an mich in das Unvermeidliche zu schicken
und meine Zukunft Gottes Güte anheimzustellen. Ich war
verwegen genug, selbst an das islamische Kismet zu glauben und
in die Zukunft mit weniger trüben Blicken hineinzusehen.