Mein Leben und mein Wandern

Mein Leben und mein Wandern

von Heinrich Brugsch

Berlin, allgemeiner Verein für Deutsche Litteratur, 1894

 

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4. Kampf um das Dasein

Alexander von Humboldts Abscheiden.

Kaum ein Jahr nach dem Tode meines eigenen Vaters sollte ich den großen Schmerz erleben, Alexander v. Humboldt am 6. Mai 1859, zweieinhalb Uhr nachmittags, aus dem Leben scheiden zu sehen und somit einen väterlichen Beschützer ein für allemal zu verlieren. Schon einige Monate vor diesem traurigen Tage fühlte der unvergleichliche Gelehrte und Menschenfreund die zunehmende Abnahme seiner Kräfte. Der sogenannte Pruritus senilis quälte ihn bei Tag und bei Nacht und nach seinem eigenen Ausdruck war es ihm öfters, als müsse er aus der Haut fahren. Nichtsdestoweniger setzte er seine Arbeiten an dem Kosmos mit ununterbrochenem Eifer fort, um noch vor seinem Tode sein Lebenswerk, die ganze Summe seiner Studien umfassend, der Nachwelt als ein Erbe seines Geistes zu hinterlassen. Nebenbei ordnete er seine Papiere und bereitete sich männlich für sein nahes Ende vor. So oft ich die Gelegenheit hatte, A. von Humboldt während dieser Zeit zu sehen, konnte ich nur mit tiefster Rührung sein Zimmer verlassen, denn er klagte, wie viel ihm noch zu thun übrig bleibe, um sein Werk zu vollenden, und wie er selber daran zweifeln müsse, sein Ziel zu erreichen.

Bei einem meiner Besuche erhielt ich zu meiner größten Überraschung aus seinen Händen die ungeordneten Sammlungen zu einer von ihm begonnenen, aber unvollendet gebliebenen Arbeit über die Entstehung der Ziffern und den Ursprung der Rechenmethoden bei den verschiedenen Völkern der Erde. Die Sammlung, die zum größten Teil von ihm eigenhändig auf Blättern und Zetteln niedergeschrieben ist, enthält außerdem wertvolle Beiträge in den brieflichen Mitteilungen von berühmten zeitgenössischen Gelehrten, die auf die an sie gerichteten Fragen im Bezug auf den Gegenstand seiner Untersuchungen ausführliche Antworten erteilt hatten. »Ich übergebe Ihnen diese Handschrift«, so redete er mich an, »um sie nach meinem Tode zu veröffentlichen. Es sind wilde Materialien, an welchen ich vierzig Jahre lang gesammelt habe, um sie dereinst in aller Muße zu verarbeiten. Meine Tage sind gezählt, und so übergebe ich Ihnen, der über die Zahlzeichen und das Rechnungswesen der alten Ägypter sich so eingehenden Forschungen hingegeben hat, dies Manuskript mit der Bitte, die Aufgabe in meinem Sinne zu lösen. Die Aufschrift, welche sich von meiner Hand niedergeschrieben auf dem Umschlage befindet, soll dazu dienen, Ihr Eigentumsrecht vor aller Welt zu bestätigen.«

Ein Schlaganfall, welcher mitten bei der nächtlichen Arbeit den hochberühmten Nestor der Wissen schaft getroffen hatte, nötigte ihn, die Feder für immer niederzulegen, um seinen Tod in dem Bette seines Alkovens mit philosophischer Ruhe zu erwarten. Ganz Berlin nahm den innigsten Anteil an seinem Leiden, und selbst die Prinzessinnen des königlichen Hauses fühlten sich bewogen, bei seinem Heim vorzufahren, sich nach seinem Ergehen zu erkundigen und Blumenspenden zu hinterlassen. Auf seinen besonderen Wunsch wurde ich wenige Tage vor seinem Abscheiden zu ihm gerufen, um Abschied von ihm zu nehmen und seinen letzten Händedruck zu empfangen. Ich war überrascht, aus seinen Zügen keineswegs die Vorboten des nahen Todes herauszulesen und in seinem Gespräch die frühere Lebendigkeit und die Teilnahme an wissenschaft lichen Dingen wiederzufinden. Als er Thränen in meinem Auge sah, bemerkte er mit Lächeln in seinen Zügen, »meine Zeit ist gekommen, und ich sterbe ruhig, denn Sie wissen, was ich davon denke.« Dann sprang er plötzlich und mit einer gewissen Bitterkeit zu einem Gespräche über, das den Charlatanismus in der Wissenschaft berührte. Herr Dr. R...., »der so wichtige Entdeckungen auf dem Gebiete des tierischen Galvanismus gemacht hat, scheut sich nicht, dieselben in marktschreierischer Weise auszubeuten, um ein Geld einbringendes Geschäft damit zu verbinden. Er gehört freilich zu denen, die durch das Rote Meer gezogen sind, allein seine wissenschaftliche Bedeutung hätte ihn abhalten sollen, aus seinen Entdeckungen ein gewinnreiches Geschäft zu machen.« Mit diesen Worten drückte er seinen Unwillen über das Gebahren eines damals sehr bekannten gelehrten Arztes aus.

Im Verlauf der weiteren Unterhaltung befragte er mich über den neuesten Stand meiner Studien und gab mir Lehren für meinen späteren Lebensweg, wie sie der Vater auf seinem Sterbebette einem geliebten Sohne an das Herz zu legen pflegt. Tief erschüttert verließ ich das enge Gemach, in dem bald darauf der größte Geist unseres Jahrhunderts vom Leben Abschied nehmen sollte.

Für die Beisetzung A. von Humboldts im Dome zu Berlin war die achte Morgenstunde bestimmt. Eine unglaubliche Menschenmenge hatte sich lange vor der angesetzten Zeit in der Nähe des Sterbehauses eingefunden, um durch ihre Anwesenheit ihre Teilnahme zu bekunden. Zu den ersten, die sich dem Trauergeleit anschlossen, gehörten die Vertreter der Stadt Berlin, die ihrem Ehrenbürger diese letzte Huldigung auf Erden bezeugten. Selbstverständlich bildete die gelehrte Welt den Hauptteil der Leidtragenden. Der Leichenzug, der nicht enden zu wollen schien, schlug den Weg nach der Friedrichstraße ein und bog bei seiner Ankunft Unter den Linden in der Richtung nach dem Dom ein. Meine Wenigkeit als Privatdozent an der Berliner Universität befand sich unter den letzten im Zuge, aber tiefer konnte niemand den Schmerz empfinden, der meine Brust bei dem Gedanken an den Verlust des Unvergeßlichen erfüllte, der mit so mächtiger Hand in mein Leben eingegriffen hatte, nachdem er das Soldatenkind aus dem Staube zu sich emporgehoben hatte.

Ich stand jetzt ganz allein ohne Ratgeber in der Welt da und bedurfte aller Energie, um mich aufrecht zu erhalten und aus reinster Liebe zur Wissenschaft den schweren Kampf um das Dasein zu bestehen. Ich hatte Freunde, die mich stützten und meinen gesunkenen Mut zu heben versuchten, aber die stille Klage um den Verlorenen wollte nicht schweigen, denn niemand in der Welt schien mir im stande zu sein, einen Alexander von Humboldt zu ersetzen. Die Zeit der Trauer ging allmählich vorüber, ich fing an mich in das Unvermeidliche zu schicken und meine Zukunft Gottes Güte anheimzustellen. Ich war verwegen genug, selbst an das islamische Kismet zu glauben und in die Zukunft mit weniger trüben Blicken hineinzusehen.

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