2. Meine Studentenjahre
Alexander von Humboldt.
Von meinem ersten Besuche an war ich ein stets willkommener
Gast in dem Hause Alexander von Humboldts, denn bis zu seinem
Hinscheiden ward mir das beneidenswerte Glück zu teil, den
großen Gelehrten in jeder Woche des öfteren sehen und sprechen
zu können und durch seine guten Ratschläge und seine
belehrenden Unterhaltungen einen reichen Gewinn davon zu
tragen. Meine anfängliche Schüchternheit, dem Heros und Nestor
der Wissenschaft gegenüber zu stehen, wich nach und nach einer
mutigen, wenn auch ehrfurchtsvollen Stimmung und ich durfte
mir erlauben, mein offenes und ehrliches Urteil über neu
erschienene Werke und Arbeiten ägyptologischen Inhaltes
auszusprechen.
Mit Aufmerksamkeit folgte der liebenswürdige Greis meinen
Auseinandersetzungen und ein seines Lächeln umspielte seine
Lippen, wenn die Gelegenheit sich darbot, daß eine gelehrte
Persönlichkeit irgend eine wissenschaftliche Dummheit begangen
hatte. Alles Unwissenschaftliche, Oberflächliche, Unkritische
war ihm auf das äußerste zuwider und er konnte nicht genug
scharfe Bitterkeiten erfinden, um ein gewisses Gelehrtentum zu
kennzeichnen. Er verfolgte alle wissenschaftlichen und
litterarischen Erscheinungen von einiger Bedeutung, nicht bloß
Werke naturwissenschaftlichen Inhalts, las ganze Bücher und
Abhandlungen, machte eigenhändige Noten dazu am Rande oder auf
dem Umschlagdeckel, beantwortete die zahlreich eingehenden
Briefe auf der Stelle, empfing um die Mittagszeit die
angemeldeten Besuche, fuhr gegen 4 Uhr zur königlichen Tafel
nach Sanssouci, Charlottenburg oder in Berlin, um an der Seite
seines königlichen Freundes, des edlen und unglücklichen
Königs Friedrich Wilhelm IV., die zugemessene Zeit in
lebhaftester Unterhaltung allzu schnell fliehen zu sehen, und
schließlich gegen 7 Uhr zurückzukehren und vor seinem kleinen
Arbeitstische am Fenster bis gegen 3 Uhr morgens an seinem
Kosmos zu schreiben. Er geizte mit seiner Zeit und bedauerte
jeden verlorenen Augenblick. Empfänglich für die Eindrücke der
Natur, deren Spuren er bis zu den fernsten Räumen des
unermeßlichen Weltalls verfolgte, erschien ihm das Theater
oder das Konzert als ein Vergnügen zweifelhafter Art. Er hielt
sich fern davon und nur eine besondere Einladung des Hofes
konnte ihn veranlassen, seinen Widerwillen aufzugeben und in
der Königsloge zu erscheinen. Die darstellenden Künste der
Bildhauerei und der Malerei schätzte er außerordentlich und
hielt es für seine Pflicht, junge aufstrebende Künstler nach
Kräften zu unterstützen und vor allem als beredter Mäcen sie
dem Wohlwollen seines königlichen Herrn zu empfehlen. Nach
dieser Richtung hin war er ein rettender Engel für alle, denen
ein grausames Schicksal den Weg zur weiteren Entfaltung ihres
Talentes auf allen Gebieten des Wissens und Könnens versagte,
und ein paar Zeilen seiner Hand glichen einer Zauberformel,
welche die verschlossensten Zugänge öffnete.
Nur mit der Geistlichkeit hatte er es gründlich verdorben.
Während er über »die Schwarzen« sich seine eigene Meinung
gebildet hatte, war er bei diesen als verstockter Atheist
verrufen, der in seinem Kosmos nicht ein einziges Mal des
Namens Gottes gedacht habe. Der große Naturforscher rächte
sich dafür durch das Salz seines Witzes, das er stets an die
richtige Stelle zu streuen verstand.
Nicht treffender konnte Alexander v. Humboldts eigenartiges
Wesen geschildert werden als mit den folgenden Worten eines
französischen Schriftstellers, welche die Beschreibung des
fesselnden Reizes seiner Unterhaltung beschließen. »Hat man
ihn gehört, wie er die Menschen und die Dinge vorüberziehen
läßt, so muß man es sich sofort vergegenwärtigen, daß der
berühmte und schalkhafte Gelehrte im Grunde genommen die
edelste Natur war, die jemals gefunden werden könnte, der
hochherzigste, uneigennützigste und erhabenste Charakter; daß
sein Leben nur ein beständiges Opfer der Liebe für die
Wissenschaft darstellte; daß in Berlin, wo er sich des
vollsten Vertrauens seines Königs erfreute, dessen Kammerherr
er war, ohne je etwas anderes sein zu wollen, er seinen
Einfluß in edelster Weise zu Gunsten der Litteratur, der
Wissenschaften und der Künste zur Geltung brachte, mit einem
Worte sei es gesagt, daß er das Geheimnis besaß, nach allen
Richtungen hin viel Gutes zu thun und allgemein geliebt zu
werden, trotzdem er sich dabei über alle Welt lustig machte.«
Humboldt zeigte sich als bitterster Feind
großsprecherischer Ignoranz und heuchlerischer Gesinnung, die
im Trüben fischt und in unwürdiger Liebedienerei den Großen
der Erde schmeichelt, um ihre egoistischen Zwecke, wenn auch
auf langen Umwegen, zu erreichen. Wahrheit und Recht glänzten
als sein Ehrenschild und das Ringen und Streben nach
Vollkommenheit auf der Kampfesstätte des Wissens erhielt den
damals Achtzigjährigen in jugendlicher Frische und Munterkeit.
Sittenanmut und edle Anschauungen erschienen ihm als das erste
Erfordernis eines Mannes von Ehre. Die kleinen Schwächen im
menschlichen Wesen übersah er gern und betrachtete sie als
vorübergehende Schatten über den hellen Spiegel eines durch
Geist und Wissen bevorzugten Menschen.
Die Zeiten, in denen Humboldt die vier Bände seines Kosmos
niederschrieb, um am Schlusse des letzten von der Welt
Abschied zu nehmen, waren nicht dazu angethan, ihn mit frohen
Hoffnungen für die Zukunft zu erfüllen. Menschen und Dinge
lieferten ihm häufig den Stoff dazu, sich in bitteren und
beißenden Bemerkungen zu ergehen und in Briefen und Worten
seinen Freunden gegenüber sein beschwertes Herz auszuschütten,
denn, wie er sich einmal äußerte, seinen wirklichen Freunden
sei man allein die offene Wahrheit zu sagen schuldig. An
dieser Äußerung ist von verschiedener Seite her gedreht und
gedeutelt worden, aber sie hatte nur den einen Sinn, den er
ihr unterlegte und zwar mit vollstem Rechte. Denn sie setzte
selbstverständlich die diskrete Verschwiegenheit derer voraus,
die er als seine aufrichtigen Freunde betrachten zu dürfen
glaubte. Hätte er voraussehen können, daß seine intimsten
Gespräche und Mitteilungen einst von unberufener Seite aus der
Öffentlichkeit übergeben werden würden, und zwar unmittelbar
nach seinem Hinscheiden, er würde sich wahrlich gehütet haben,
auch nur einen Fuß über die Schwelle des Hauses Varnhagens von
Ense zu setzen, der mit Wohlbehagen sämtliche Humboldtiana in
sein Tagebuch einzeichnete und förmlich Register darüber
hielt. Der greise Verfasser des Kosmos, den die Franzosen
seines französischen Stiles und seiner geistigen
Verwandtschaft halber als ihren Landsmann uns Deutschen
streitig machten, hielt unsere kraftvolle reiche deutsche
Muttersprache in höchsten Ehren, und alle seine Bemühungen bei
der Ausarbeitung seines unsterblichen Werkes waren darauf
gerichtet, in edelster Form und tadelloser Vollkommenheit des
Ausdruckes seine Gedanken in Worte zu kleiden, leider, wie er
es selber bezeugte, oft zu armen, um die einzelnen Teile des
Naturgemäldes nach ihren Erscheinungsformen und Eindrücken mit
der gewünschten sprachlichen Vollendung zu malen. Varnhagen
von Ense, ein Mann von Geschmack in der Beherrschung des
deutschen Sprachgeistes, wurde häufig als Ratgeber in
schwierigen Fällen angerufen, um den entscheidenden Ausschlag
in der Wahl eines Ausdruckes zu geben, gerade wie Professor
Dr. Buschmann, damals Bibliothekar an der königl. Bibliothek,
»mein Pedant«, wie Humboldt ihn nannte, die Aufgabe erfüllte,
gegen ein Jahrgehalt die Revision der gedruckten Blätter des
Kosmos zu übernehmen. Es war natürlich, daß langjährige
freundschaftliche Beziehungen zu Varnhagen für Humboldt als
ein Grund mehr erschienen, mit seinem gelegentlichen Unmut
nicht hinter dem Berge zu halten und frei von der Leber zu
erzählen, was nur von dem verschwiegenen Freunde allein gehört
zu werden bestimmt war.
Ich will an einem einzigen Beispiele die Fälschung
nachweisen, deren sich die unverschämte Herausgeberin der
Varnhagenschen Tagebücher schuldig gemacht hat, als sie nach
einer angeblichen Mitteilung Alexander von Humboldts dem
Könige Friedrich Wilhelm IV. das geflügelte Wort »der Racker
von Staat« in den Mund legte. Thatsächlich gehört die
Erfindung dieser Äußerung einem Bauer an, der sie bei
folgender Gelegenheit seinem Könige und Herrn mit offenster
Freimütigkeit entgegenrief. Der Herrscher kehrte an einem
Vormittage von einer Spazierfahrt nach seinen Gemächern in
Sanssouci zurück, als bei der Einfahrt sich ein Bäuerlein mit
einem in der Hand hochgehaltenen Bittgesuch in Briefgestalt
entgegenstellte. Der König fragte nach seinem Begehr. Es
handelte sich um die erbetene Aufhebung einer Verordnung,
wonach eine Straße mitten durch das Feld des Bauern angelegt
werden sollte. Als ihm alle Klagen und Schreibereien nichts
halfen, wandte er sich an die allerhöchste Stelle. In
gewohnter jovialer Weise erwiderte der König: »Ja, lieber
Freund, da kann ich nichts machen, denn die ganze Sache geht
den Staat an.« Verlegen kratzte sich der gute Mann ins Haar
und seinem Munde entflogen die Worte: »Ja, Majestät, wenn
dieser Racker von Staat nicht wäre!«
Unter hellem Lachen erzählte der König diese kleine
Geschichte den gerade anwesenden Personen seines Hofes, unter
denen sich Alexander von Humboldt befand, und wiederholte
mehrmals »Nein, dieser Racker von Staat! Es ist zu köstlich!«
Man begreift nach dieser Probe, in welcher Weise von der
geldsüchtigen Herausgeberin der Tagebücher die natürlichsten
Dinge von der Welt entstellt wurden, um einen kitzelnden Reiz
auf den ferner stehenden Leser auszuüben.
Es würde mir mein Lebtag nicht einfallen, die zahlreichen,
meist spaßhaften oder spöttischen Bemerkungen des großen
Gelehrten, wie sie mir noch heute in lebhafter Erinnerung
sind, dem Drucke zu übergeben, denn sie waren vom Augenblick
eingegeben und in dem Vertrauen zu mir geäußert, daß ich sie
eben für mich behielte, am allerwenigsten der Öffentlichkeit
überlieferte. Die Zeitgeschichte würde dadurch nichts gewinnen
und mir selber der gerechte Vorwurf erwachsen, zu den
indiskreten Personen zu gehören.
Viel lehrreicher und unterhaltender war es für mich, aus
dem beredten Munde des greisen Fürsten der Wissenschaft von
dem Gange seiner eigenen Studien und seinen Beziehungen zu den
großen Zeitgenossen während seines langen, an Erfahrungen und
Arbeiten reichen Lebens zu hören. Er erinnerte sich z.B. mit
Vergnügen der Zeit, in welcher er in seinen jungen Jahren die
große Handelsschule in Frankfurt a. M. besuchte und statt der
Beschäftigung mit den Finanzen seine erste Abhandlung »über
die Basalte am Rhein« anno 1790 niedergeschrieben hatte. Sie
habe ihm das Glück verschafft, ohne Examen zum Bergassessor
ernannt zu werden. Später sei er in die Nähe von Berlin, das
er früher gehaßt habe, versetzt worden, um in den Rüdersdorfer
Kalkbergen, die er genau kenne, seine bergmännische Thätigkeit
auszuüben. Er gehöre überhaupt zu den Menschen, denen das
Glück hold gewesen sei, denn niemals habe er eine sonst
vorgeschriebene Prüfung bestanden und sei dennoch von Stufe zu
Stufe befördert worden.
Unsern großen Dichter Schiller, mit dem er einige Male in
Berührung gekommen sei, schilderte er mir als eine einfache,
schlichte und prosaische Erscheinung, die keinen besonderen
Eindruck als geistreicher Mann auf ihn gemacht habe. Desto
geistreicher sei dagegen Frau von Wolzogen gewesen. Schiller
habe sich zu allem hergegeben. Einmal, so erinnere er sich,
habe er in Rudolstadt die Zauberflöte ohne Musik aufführen
lassen und dabei als Schauspieler mitgewirkt. Es habe einen
lächerlichen Eindruck auf ihn gemacht.
Bis zum Tode des großen Gelehrten hin, der in seinem Hause
in Berlin am 6. Mai 1859 erfolgte, war mir seine volle Gunst
beschieden und Hunderte wertvoller Briefe an mich, von meinen
Studentenjahren an bis zu meinem Dasein als Privatdozent an
der Berliner Universität, bezeugen die Achtung und
Freundschaft, deren ich mich seinerseits in steter Zunahme der
Herzlichkeit der Ausdrücke zu erfreuen hatte. Er war der gute
Genius, der wie ein sorgender Vater über mich wachte, meine
Schritte leitete, mir das Wohlwollen des gütigen Königs
sicherte, meine ersten Reisen nach Paris, Leyden, Turin und
Ägypten durch seine Vermittelung an allerhöchster Stelle
ermöglichte und durch die kräftigsten Empfehlungsbriefe meinen
Eintritt in die Fremde erleichterte. Der Name Alexander v.
Humboldt hatte die Wirkung eines Zauberstabes, denn er öffnete
mir Thür und Thor, wohin ich auch meine Schritte richtete, und
verschaffte mir die Ehre, noch als Student von den
berühmtesten und höchststehenden Männern als einer
ihresgleichen empfangen und behandelt zu werden. Ich fühlte es
wohl, daß meine bescheidene Arbeit über die demotische
Grammatik niemals und am allerwenigsten in so früher Jugend
eine so ungewöhnliche Teilnahme auf mich gelenkt hätte, wenn
nicht die Briefe des Unvergleichlichen mir die Bahn zu allem
Schönen und Guten auf den Höhen der Menschheit geebnet hätten.
Selbst im fernsten Auslande wurden mir von seiner Hand
schriftliche Antworten und Nachrichten zu teil, die mich
lobten und ermunterten und über die ägyptischen Ereignisse in
der Heimat in Kenntnis setzten.
Meine erste Reise nach Paris, die ich als Studiosus und auf
Kosten des Königs Friedrich Wil helm IV. antrat, gewährte mir
die außerordentlichsten Eindrücke, wie sie die Weltstadt an
der Seine noch heutigen Tages darbietet und die auf mich um so
tiefer einwirken mußten, als ich niemals aus den vier Mauern
meiner elterlichen Wohnung herausgetreten war, um in fremden
Ländern und unter ausländischen Völkern einen länger dauernden
Aufenthalt zu nehmen. Mir schlug das Herz, als ich das
preußische Schwarz-Weiß auf den Grenzpfählen verschwinden sah,
die Laute meiner deutschen Muttersprache nicht mehr hörte und
ein französischer Sergeant de ville mit langem spitzen
Knebelbart und dem schiefen Dreimaster auf dem Haupte nach
meinem Passe-port verlangte. In den Restaurants an den
Hauptstationen der Eisenbahn mit ihrem glänzenden,
spiegelreichen Aufputz des Buffetts und der höflichen und
gewandten Bedienung fiel mir der Gegensatz zwischen der
französischen Eleganz und der deutschen Derbheit zum
erstenmale in die Augen, aber dennoch suchte ich vergeblich
nach einem deutschen belegten Butterbrote, um meinen bellenden
Magen zu beschwichtigen. Nicht einmal den Ausdruck dafür bot
mir mein Wörterbuch im Kopfe von den Zeiten meines
französischen Gymnasialunterrichts her. Die guten Leute,
welche zu mir in die dritte Wagenklasse einstiegen und deren
Anzüge mir das Fremde nach einer anderen Richtung hin
verrieten, redeten eine mir überhaupt unverständliche Zunge;
von zehn Wörtern verstand ich nur eines, und ich bin
überzeugt, auch dies war von mir falsch verstanden. Der und
jener wandte sich mit irgend einer Bemerkung an mich und meine
beständige Erwiderung ertönte als ein langgezogenes Oui! Ich
war in Verzweiflung und malte mir mit allen Schrecken der
Einbildung meinen Einzug in Paris und meine Vorstellung bei
den berühmten Gelehrten des Instituts aus.