Schuhe ausziehen

Lasst uns unsere Schuhe ausziehen - um den Hass zu überwinden

Dr. Yavuz Özoguz

 

Inhaltsverzeichnis

Kaiser Kaptalis neue Kleider

Veröffentlicht 15.12.2005 im Zuge der Kapitalismusdiskussion

Vor vielen, vielen Jahren lebte ein Kaiser mit dem Namen Kaptalis in der Mittelwelt. Eigentlich war sein Name noch etwas länger, aber er endete mit “mus“, und da ein Kaiser nie etwas muss, hat er seinen Namen etwas kürzen lassen. Der Kaiser hielt so ungeheuer viel von neuen Kleidern, insbesondere wenn er sie verkaufen konnte, selbst wenn niemand sie brauchte! So gab er sein ganzes Geld dafür aus, neue Kleider schneidern zu lassen, die niemand brauchte, und er gab noch mehr Geld dafür aus, die Leute zu überreden, dass sie diese unnützen Kleider kauften. Und er selbst zog sie immer zuerst an, damit es Pflicht für jeden Bürger wurde, solche Kleider zu kaufen. Seine Hofdiener berichteten ihm zwar, dass die ganzen Wälder des Kaiserreiches geschwind abgeholzt sein würden, weil seine Schneider so viel kochendes Wasser brauchten beim Färben der Kleider, und dass seine Flüsse alle verschmutzt waren durch die Farben, die er nicht mehr brauchte. Sie berichteten ihm auch, dass seine Schatzkammer bald bis auf die Spinnen leer sein würde, da er mehr Kleider kaufte als er verkaufen konnte. Seine Bauern hungerten schon. Aber der Kaiser schickte seine Soldaten, und dann schwiegen sie wieder.

Und wenn es kein Holz in seinem Kaiserreich gab, dann schickte er seine Soldaten in andere Länder, und er hatte wieder genug Holz, und seine Schatzkammern konnte er auch füllen. Manchmal blieben seine Soldaten Jahrzehnte an einem fernen Ort, manchmal kamen sie auch früher wieder und waren böse auf den Kaiser für die unlösbaren Aufgaben, die er ihnen gab. Aber der Kaiser war so mächtig und so stark, dass alle sich vor ihm fürchteten. Dabei kümmerte sich der Kaiser nicht um seine Soldaten, kümmerte sich nicht um den Wald oder die Flüsse und schon gar nicht um die Bauern. Er brauchte sie nur, um ihnen seine neuen Kleider zu zeigen, die sie dann kaufen sollten. Er hatte einen Rock für jede Stunde des Tages, und ebenso wie man von einem König sagte, er ist im Rat, so sagte man hier immer: „Der Kaiser ist in der Garderobe!“ Damals benannte man die Garderobe allerdings mit dem eigentümlichen Namen “Börse“.

Immer wieder kamen viele Fremde in das Reich von Kaiser Kapitalis an, denn sie dachten, dass es dort nicht nur Kleider gab, sondern noch viel mehr. So ruhmreich war der Kaiser in der ganzen Welt. Und eines Tages kamen auch zwei Betrüger, die gaben sich als Weber aus und sagten, dass sie das schönste Kleid, was man sich denken könne, zu weben verstünden. Es bestünde aus einem Zeug, dass sie “Freihokratie“ nannten. Die Farben und das Muster seien nicht allein ungewöhnlich schön, sondern die Kleider, die aus dem Stoff genäht würden, sollten die wunderbare Eigenschaft besitzen, dass sie für jeden Menschen unsichtbar seien, der nicht für sein Amt tauge oder der unverzeihlich dumm sei. „Das wären ja prächtige Kleider“, dachte der Kaiser „wenn ich solche hätte, könnte ich ja dahinter kommen, welche Männer in meinem Reiche zu dem Amte, das sie haben, nicht taugen, ich könnte die Klugen von den Dummen unterscheiden! Ja, das Zeug muss sogleich für mich gewebt werden!“ Er gab den beiden Betrügern viele Schätze, damit sie ihre Arbeit beginnen sollten. Sie stellten auch zwei Webstühle auf, taten, als ob sie arbeiteten, aber sie hatten nicht das Geringste auf dem Stuhle.

Trotzdem verlangten sie die feinste Seide und das prächtigste Gold, das steckten sie aber in ihre eigene Tasche und arbeiteten an den leeren Stühlen bis spät in die Nacht hinein. Die Gauner verlangten so viel, dass der Kaiser wieder seine Soldaten los senden musste, um immer neue Schätze zu bringen.

„Nun möchte ich doch wissen, wie weit sie mit dem Zeuge sind!“, dachte der Kaiser, aber es war ihm beklommen zumute, wenn er daran dachte, dass keiner, der dumm sei oder schlecht zu seinem Amte tauge, es sehen könne. Er glaubte zwar, dass er für sich selbst nichts zu fürchten brauche, aber er wollte doch erst einen andern senden, um zu sehen, wie es damit stehe.

Alle Menschen in der ganzen Stadt hatten inzwischen gehört, welche besondere Kraft das Zeug habe, und alle waren begierig zu sehen, wie schlecht oder dumm ihr Nachbar sei. „Ich will meinen alten, eitlen Minister zu den Webern senden“, dachte der Kaiser, „er kann am besten beurteilen, wie der Stoff sich ausnimmt, denn er hat Verstand, und keiner versieht sein Amt besser als er! Er hat an allen Universitäten des Landes gelehrt, kennt alle Bibliotheken und alle Bücher, er ist der größte und beste Gelehrte in meinem Hof, er ist zwar ein wenig eitel, aber er wird es schon erkennen“. Nun ging der alte, eitle Minister in den Saal hinein, wo die zwei Betrüger saßen und an den leeren Webstühlen arbeiteten. „Gott behüte uns!“ dachte der alte Minister und riss die Augen auf. „Ich kann ja nichts erblicken!“ Aber das sagte er nicht. Beide Betrüger baten ihn näher zu treten und fragten, ob es nicht ein hübsches Muster und schöne Farben seien.

Dann zeigten sie auf den leeren Stuhl, und der arme alte Minister fuhr fort, die Augen aufzureißen, aber er konnte nichts sehen, denn es war nichts da. “Herr Gott“, dachte er, „sollte ich dumm sein? Das habe ich nie geglaubt, und das darf kein Mensch wissen! Sollte ich nicht zu meinem Amte taugen? Nein, es geht nicht an, dass ich erzähle, ich könne das Zeug nicht sehen!“„Nun, Sie sagen nichts dazu?“ fragte der eine der Weber. „Oh, es ist niedlich, ganz allerliebst!“ antwortete der alte Minister und sah durch seine Brille. „Dieses Muster und diese Farben! – Ja, ich werde dem Kaiser sagen, dass es mir sehr gefällt!“„Nun, das freut uns!“ sagten beide Weber, und darauf benannten sie die Farben mit Namen und erklärten das seltsame Muster. Solcherart war eben Freihokratie.

Der alte Minister merkte gut auf, damit er dasselbe sagen könne, wenn er zum Kaiser zurückkomme, und das tat er auch. Er lobt das Zeug namens Freihokratie in den höchsten Tönen, um ja nicht als “Dummkopf“ dazustehen. Nun verlangten die Betrüger mehr Geld, mehr Seide und mehr Gold zum Weben. Sie steckten alles in ihre eigenen Taschen, auf den Webstuhl kam kein Faden, aber sie fuhren fort, wie bisher an den leeren Stühlen zu arbeiten. Der Kaiser sandte bald wieder einen anderen tüchtigen Staatsmann und großen Gelehrten hin, um zu sehen, wie es mit dem Weben stehe und ob das Zeug bald fertig sei; es ging ihm aber gerade wie dem ersten, er guckte und guckte; weil aber außer dem Webstuhl nichts da war, so konnte er nichts sehen. „Ist das nicht ein ganz besonders prächtiges und hübsches Stück Zeug?“ fragten die beiden Betrüger und zeigten und erklärten das prächtige Muster, das gar nicht da war. „Dumm bin ich nicht“, dachte der Mann; „es ist also mein dummes Amt, zu dem ich nicht tauge! Das wäre seltsam genug, aber das muss man sich nicht merken lassen!“ Daher lobte er das Zeug, das er nicht sah, und versicherte ihnen seine Freude über die schönen Farben und das herrliche Muster. „Ja, es ist ganz allerliebst!“ sagte er zum Kaiser. Alle Menschen in der Stadt sprachen von dem prächtigen Zeuge.

Zuallerletzt sandte der Kaiser einen besonders klugen alten Mann, der sein Leibarzt war und als einziger ihm manchmal widersprach, wenn es um die Arztkunst und die Medizin ging, mit der Kaiser Kapitalis von seinen andauernden Krankheiten geheilt werden sollte. Der alte Arzt stand im Brot des Kaisers, und der Kaiser versorgte ihn immer sehr reichlich. Jener alte Arzt erkannte sofort den Betrug der Betrüger. Aber er überlegte sich, welche Konsequenzen es für ihn haben würde, wenn er die Wahrheit aussprach. Und er dachte, dass niemand die Wahrheit hören wollte. Er selbst wollte auch nicht derjenige sein, der auf sein vergoldetes Brot verzichten musste. Also spielte auch er das Spiel mit.

Nun wollte der Kaiser es selbst sehen, während es noch auf dem Webstuhl sei. Mit einer ganzen Schar auserwählter Männer, unter denen auch die beiden ehrlichen Staatsmänner und sein Arzt waren, die schon früher da gewesen, ging er zu den beiden listigen Betrügern hin, die nun aus allen Kräften webten, aber ohne Faser oder Faden. „Ja, ist das nicht prächtig?“ sagten die beiden ersten Staatsmänner. „Wollen Eure Majestät sehen, welches Muster, welche Farben?“ und dann zeigten sie auf den leeren Webstuhl, denn sie glaubten, dass die andern das Zeug wohl sehen könnten. Und der Arzt schwieg, aber das war normal, denn er galt als besonders Weise. „Was!“ dachte der Kaiser; „ich sehe gar nichts! Das ist ja erschrecklich! Bin ich dumm? Tauge ich nicht dazu, Kaiser zu sein? Das wäre das Schrecklichste, was mir begegnen könnte.“„Oh, es ist sehr hübsch“, sagte er; „es hat meinen allerhöchsten Beifall!“ und er nickte zufrieden und betrachtete den leeren Webstuhl; er wollte nicht sagen, dass er nichts sehen könne.

Das ganze Gefolge, was er mit sich hatte, sah und sah, aber es bekam nicht mehr heraus als alle die andern, aber sie sagten gleich wie der Kaiser: „Oh, das ist hübsch!“, und sie rieten ihm, diese neuen prächtigen Kleider aus dem Zeug Freihokratie das erste Mal bei dem großen Feste, das bevorstand, zu tragen. „Es ist herrlich, niedlich, ausgezeichnet!“ ging es von Mund zu Mund, und man schien allerseits innig erfreut darüber. Der Kaiser verlieh jedem der Betrüger ein Ritterkreuz, um es in das Knopfloch zu hängen, und den Titel Hofweber. Die ganze Nacht vor dem Morgen, an dem das Fest stattfinden sollte, waren die Betrüger auf und hatten sechzehn Lichter angezündet, damit man sie auch recht gut bei ihrer Arbeit beobachten konnte. Überall in der Stadt ließen sie durch Hofschreier verkünden, wie schön das Kleid sei. Die Leute kamen und konnten sehen, dass sie stark beschäftigt waren, des Kaisers neue Kleider fertig zu machen. Sie taten, als ob sie das Zeug aus dem Webstuhl nähmen, sie schnitten in die Luft mit großen Scheren, sie nähten mit Nähnadeln ohne Faden und sagten zuletzt: „Sieh, nun sind die Kleider fertig!“ Der Kaiser mit seinen vornehmsten Beamten kam selbst, und beide Betrüger hoben den einen Arm in die Höhe, gerade, als ob sie etwas hielten, und sagten: „Seht, hier sind die Beinkleider, hier ist das Kleid, hier ist der Mantel!“ und so weiter. „Es ist so leicht wie Spinnwebe; man sollte glauben, man habe nichts auf dem Körper, aber das ist gerade die Schönheit dabei!“„Ja!“ sagten alle Beamten, aber sie konnten nichts sehen, denn es war nichts da. „Belieben Eure Kaiserliche Majestät Ihre Kleider abzulegen“, sagten die Betrüger, „so wollen wir Ihnen die neuen hier vor dem großen Spiegel anziehen!“

Der Kaiser legte seine Kleider ab, und die Betrüger stellten sich, als ob sie ihm ein jedes Stück der neuen Kleider anzogen, die fertig genäht sein sollten, und der Kaiser wendete und drehte sich vor dem Spiegel. „Ei, wie gut sie kleiden, wie herrlich sie sitzen!“ sagten alle. „Welches Muster, welche Farben! Das ist ein kostbarer Anzug!“„Draußen stehen sie mit dem Thronhimmel, der über Eurer Majestät getragen werden soll!“ meldete der Oberzeremonienmeister. „Seht, ich bin ja fertig!“ sagte der Kaiser. „Sitzt es nicht gut?“ und dann wendete er sich nochmals zu dem Spiegel; denn es sollte scheinen, als ob er seine Kleider recht betrachte. Die Kammerherren, die das Recht hatten, die Schleppe zu tragen, griffen mit den Händen gegen den Fußboden, als ob sie die Schleppe aufhöben, sie gingen und taten, als hielten sie etwas in der Luft; sie wagten es nicht, es sich merken zu lassen, dass sie nichts sehen konnten. So ging der Kaiser unter dem prächtigen Thronhimmel, und alle Menschen auf der Straße und in den Fenstern sprachen: „Wie sind des Kaisers neue Kleider unvergleichlich! Welche Schleppe er am Kleide hat! Wie schön sie sitzt!“ Keiner wollte es sich merken lassen, dass er nichts sah; denn dann hätte er ja nicht zu seinem Amte getaugt oder wäre sehr dumm gewesen. Keine Kleider des Kaisers hatten solches Glück gemacht wie diese.

„Aber er hat ja gar nichts an!“ schrie ein kleines Kind laut auf. Aber sein Vater schlug ihm eine solch deftige Ohrfeige, dass sein Mund blutete. Der kleine Junge war aber sehr, sehr mutig und schrie erneut: „Er ist nackt“. Wieder verspürte er eine Ohrfeige, diese Mal von seiner Mutter. Und als er beim dritten Mal laut schrie: „Der Kaiser ist nackt“, stürzte sich die Horde auf ihn und wollte ihn töten. Doch da hörte man vom anderen Ende des Platzes einen anderen kleinen Jungen schreien: „Der Kaiser ist nackt!“. Der Kaiser ließ seine Soldaten rufen, doch auch unter den Soldaten rief einer: „Hört die Stimme der Unschuld!“, und nun zischelte der eine dem andern zu, was die Kinder gesagt hatten. „Aber er hat ja gar nichts an!“ rief zuletzt das ganze Volk. Das ergriff den Kaiser, denn das Volk schien recht zu haben und so lief er weg. Und die Kammerherren liefen mit ihm und trugen die Schleppe, die gar nicht da war. Und man hat nie wieder von dem Kaiser Kapitalis mit dem Zeug Freihokratie gehört.

Danach lebte das Volk in Freiheit, Gerechtigkeit und unter der Leitung kundiger Menschen, die sie selbst unter sich auswählten und die ihnen viele gute Dinge taten, die Wälder retteten, die Flüsse reinigten, und fortan gab es viel Glück in dem Reich, das zum Vorbild für die Menschheit wurde.

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

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