Veröffentlicht am 18.12.2005 kurz nach dem
WM-Qualifikationsspiel zwischen Türkei und Schweiz in
Istanbul.
Eigentlich
sollte Fußball ja nur ein Spiel sein. Jeweils elf Personen,
aufgeteilt in zwei farblich unterscheidbare Parteien, erhalten
insgesamt nur einen Ball und müssen zusehen, dass einerseits
jener Ball in einem viereckigen Kasten der gegnerischen Seite
landet und andererseits eine ganze Reihe von Regeln
eingehalten werden, die selbst einige Fußball-Journalisten
nicht unbedingt verstehen. Über die Einhaltung der Regeln
wachen drei schwarz gekleidete Herren, die man Schiedsrichter
nennt. Eigentlich ist es ein schönes Spiel voller Freude für
Zuschauer und Beteiligte. Aber für manche ist jener Sport
bedauerlicherweise erheblich mehr.
Für manche gibt
es einen Fußballgott, der über das Wohl so mancher Mannschaft
wacht oder sogar mitspielt. Es gibt einen Flankengott (Stan
Libuda spielt seit Jahren nicht mehr!), es gibt einen Kaiser,
Könige, die Tore schützen (Torschützenkönige), es gibt
Kapitäne und als Affen diffamierte Spieler (die mit Bananen
gefüttert werden), alles fast wie im richtigen Leben, aber vor
allem gibt es Menschen, deren größter Lebensinhalt irgendeine
Mannschaft der Welt ist. Milliarden werden umgesetzt mit jenem
Sport aus den Taschen unzähliger Armer, die sich an “ihre“
Mannschaft als Lebensinhalt klammern, und da schleichen sich
auch manchmal Bösewichte ein, die manipulieren, wie dieser
Tage deutsche Gerichte feststellen mussten. Ein “Fußballheld“,
ein Stern im Himmel der Fußballsterne, verdient in einem Jahr
mehr, als seine Anhänger im ganzen Leben verdienen werden. Und
manchmal spielen sogar ganze Nationen und Religionen
gegeneinander.
Bei
Nationalspielen gilt der ganze Stolz der eigenen Nation! Die
Nationalhymne wird gespielt, das Nationalgefühl emporgehoben
und Nationalsymbole “verteidigt“ mit der Ehre der Nation.
Am letzten
Mittwochabend, im Istanbuler Kadiköy-Stadion fand solch ein
Nationalspiel statt, das im Nachhinein nicht nur die ganze
türkische Nation beschäftigt, sondern zudem auch Europa in
Atem hält. Die Spielfakten sind leicht zusammengefasst. Die
Türkei hat nach einem grandiosen Spiel zu Recht 4:2 gewonnen.
Aber das war ein Tor zu wenig, um eine der letzten Fahrkarten
für die WM in Deutschland einzulösen, so dass die Schweizer
sich trotz Niederlage freuen konnten. Die hatten nämlich
vorher das Hinspiel hoch genug gewonnen!
Aber was war da
bereits im Hinspiel passiert? Hatte nicht das gesamte
Schweizer Volk die türkische Nationalhymne ausgepfiffen? Wäre
das nicht ein Grund, die diplomatischen Beziehungen auf Eis zu
legen? Gut, das Rückspiel verlief eigentlich “normal“, bis auf
die vielen faulen Eier, die im Vorfeld herumgeflogen waren und
die vielen Worte, die ähnlich bekömmlich waren wie die faulen
Eier. Aber dann hat die Türkei im Rückspiel eben doch
insgesamt verloren, und es kam hinterher zu ziemlich viel
Randale. Ja, so mancher Schweizer Spieler hat tatkräftig
mitgeprügelt oder sogar manche Prügelei selbst angezettelt,
und manch türkischer Spieler aus der Bundesliga hat seinem
Schweizer Arbeitskollegen sogar das Leben gerettet, aber Blut
ist dennoch geflossen. Und der FIFA-Chef, dummerweise ein
Schweizer, hat gleich die ganze Türkei verurteilt, obwohl ihm
noch gar kein Bericht vorlag und er noch nicht einmal die
Fernsehberichte gesehen hatte.
Eigentlich ging
es schon gar nicht mehr um die WM-Teilnahme allein. War da
nicht das unwürdige Gezerre der EU vor dem Start der
Beitrittsverhandlungen mit der Türkei? Es spielt doch keine
Rolle, dass die Schweiz gar nicht in der EU ist! Und waren da
nicht die Vorfälle in Frankreichs Vorstädten? Zugegeben,
Letzteres hat wenig mit der Türkei zu tun, aber das sind ja
auch Muslime, oder? Und hatte nicht jüngst ein europäisches
Gericht das türkische – pardon islamische – Kopftuch verboten?
Selbst die Kopftuchgegner in der Türkei lassen sich das
Kopftuch ungern von einem Nichtmuslim verbieten, das ist
schließlich eine Frage der Ehre!
Und bei der
Ehre kennen “die Türken“ ohnehin keinen Spaß, oder? Wer hat
noch nicht von den “Ehrenmorden“ gehört. Und erst vor einem
Monat wurde in der Türkei ein 30-Jähriger vor Gericht
gestellt, weil er eine Büste des Republikgründers Atatürk mit
Farbe beschmiert hatte. Er erhielt sage und schreibe 22 Jahre
Haft! Und bei einem UEFA-Cup-Spiel in Istanbul vor fünf Jahren
hatten britische Fans von Leeds United in einer Bar sich
öffentlich mit einer türkischen Fahne den nackten Hintern
abgewischt; es gab anschließend zwei Tote!
Ja, hat nicht
letztendlich das Schweizer Kreuz gegen den türkischen Halbmond
gespielt? Und haben nicht beide Flaggen einen roten
Hintergrund, die Farbe des Blutes? Ging es hier nicht um viel
mehr als Fußball, sondern sogar um die Türken vor Wien?
Zugegeben, Wien liegt nicht ganz in der Schweiz, das Spiel
fand in der Türkei statt und die meisten Spieler auf dem Feld
spielen ohnehin nicht in Vereinen ihrer Heimat, aber sie waren
wohl nah dran am Martyrium – zumindest mit dem dazugehörigen
Lohn vom Fußballgott.
Dieses
fürchterliche Gebräu aus fanatischem Nationalismus, gepaart
mit vorgeschobenen religiösen Elementen, einer chaotischen
Weltpolitik, falschen Ehrgefühlen und einer zunehmend
problematischeren Weltwirtschaftslage unterhalb der
Konzernleitungsebenen stink derart zum Himmel, dass man den
Gestank nicht ertragen kann!
Was haben jene
türkischen Spieler mit Islam zu tun, wo nur die Frau eines der
Spieler ein Kopftuch trägt und der Rest sich lieber in Bars
vergnügt als in Moscheen? Was haben die Schweizer Spieler mit
dem Christentum zu tun? Was haben fanatisierte Fußballfans auf
allen Seiten, die im Alkoholrausch Verbrechen begehen, mit
Islam oder Christentum zu tun? Wie kommt es, dass solch eine
Nachricht selbst in diversen Muslim-Foren für mehr Emotionen
sorgt als die Tatsache, dass in den letzten zwei Tagen wieder
einige hundert Menschen im Irak unter den Augen einer brutalen
Besatzungsmacht geradezu hingerichtet wurden?
Ja, merken denn
jene Beteiligten nicht, wie sie ausgenutzt werden für ein
fürchterliches Spiel der Ablenkung und Verdummung?
Sie zünden
ein Feuer an und gießen dann jedes Öl hinein, dass sie finden,
nur und nur um Eskalationen zu erzeugen und von den
eigentlichen Problemen und Ungerechtigkeiten der Welt
abzulenken. Viele europäische Journalisten gießen Öl ins
Feuer, viele türkische auch. Viele europäische
Sportverantwortliche gießen Öl ins Feuer, viele türkische
auch, und bei den Fans ist es nicht anders! Und es brennt und
brennt und brennt immer lichterloher und zerstört und zerstört
und zerstört – vor allem das eigene Herz!
Wir wollen hier
einige Fragen an die türkischen und europäischen Fußballfans
stellen, damit sie sich selbst prüfen und ihre eigenen
Wertemaßstäbe läutern können. Es sind fiktive Fragen, die mit
der Realität wenig zu tun haben, und doch können sie für jeden
Einzelnen hilfreich sein, den eigenen Zustand zu erkennen und
welche Gefängnisse ihn umgeben: