Unser neuer Mardscha
Viele von uns, durch die
Islamische Revolution im Iran motivierten Muslime im
deutschsprachigen Raum hatten zwar erst seit einigen Jahren
die Wahrheit der Schia erkannt (z.B. sind meine eigene
Eltern Hanefiten) und uns zu der Anhängerschaft der
Ahl-ul-bait bekannt, aber eines wussten wir seither mit
großer Gewissheit: Unser Imam, unser Vorbild, die
Führungspersönlichkeit der islamischen Weltgemeinschaft,
unser Mudschtahid, muss jemand sein, der am Leben ist, der
ansprechbar ist, der bei uns auf der Erde weilt. Wenn wir
einen abwesenden Imam wählen könnten, dann wäre sicherlich
Imam Mahdi (a.) unser Imam, aber zu ihm habe zumindest ich
keinen direkten Zugang, und wenn ein Verstorbener unser
Imam sein könnte, dann sicherlich der Prophet (s.) selbst.
Unser Imam muss unter uns leben, damit wir ihn fragen
können, damit wir seine aktuelle auf die Zeit bezogene
Interpretation des Islam erfahren können. Das Prinzip des
lebendigen Mardscha-ul-Taqlid (Vorbild der Nachahmung)
musste weiterleben, auch nach dem Ableben einer der größten
Mardschas unserer Zeit.
In dieser so schwierigen
Situation, in der alle möglichen Gelehrten von
verschiedenen Seiten als Nachfolger der Mardschaiya von
Imam Khomeini (r.) genannt wurden, erklärte unser
islamischer Lehrer klipp und klar, dass es ja wohl
selbstverständlich sei, unseren neuen Imam-ul-Umma als
Mardscha zu wählen. Sicherlich war es die beste Wahl. Musste
nicht religiöse und politische Führung in einer Hand sein
und bleiben? Unsere Absicht war gefasst, und wir
beschlossen gemeinsam, in Zukunft Imam Khamene'is Fatwas zu
folgen.
Sicherlich war dies in der
Anfangszeit der Führung von Imam Khamene'i eine bei manchen
umstrittene Entscheidung. Aber heute im Nachhinein weiß ich,
dass unser Lehrer uns zur richtigsten Entscheidung geführt
hat.
Wahrscheinlich haben einige
Muslime die eigenen Aussagen von Imam Khamene'i, die er in
seiner besonderen Bescheidenheit damals gesagt hat, nicht
richtig deuten können. Und sie haben ihn anfänglich nur
deshalb nicht zum Mardscha gewählt, weil sie dachten, er
selbst möchte dieses nicht. Sicher hatten sie recht, wenn sie
den Eindruck erhielten, dass Imam Khamene'i dies von sich aus
nicht möchte. Aber auch Imam Khomeini (r.) wollte von sich
aus nie "Anführer" oder dergleichen sein. Es waren immer seine
Anhänger, die ihn zu der Übernahme der Verantwortung gedrängt
haben. Einer von Imam Khomeinis (r.) größten Anhängern,
nämlich Imam Khamene'i, erzählte: "Nach dem Tod (1962)
von Ayatollah-ul-Uzma Borudscherdi (der größte Gelehrte
vor Imam Khomeini (r.)) hat der ehrwürdige Imam
(Khomeini), auf dem, wie ihr selbst gesehen habt, die
Aufmerksamkeit der ganzen Welt ruhte, und der so mächtig war,
dass er die ganze Welt in einer Hand hätte halten können,
keine Risala (islamisches Regelwerk) veröffentlicht.
Die Gläubigen haben ihn gedrängt, aber er gab keine Risala
heraus. Ich selbst war damals unter denen, die ihn darum
baten. Aber er meinte, dass es andere Gelehrte gab, die dafür
zur Verfügung standen".
Sehr interessant in diesem
Zusammenhang ist sicherlich auch eine Situation, die sich
sechs Jahre nach der Ernennung von Imam Khamene'i bei ihm
ereignete. Unser Lehrer war zum ersten Mal mit einigen
Muslimen am 16. Januar 1995 (14. Schaban 1415), kurz nach dem
Ableben des damals ältesten Mardscha Ayatollah Araki (r.), bei
Imam Khamene'i eingeladen. Nach einer kurzen Begrüßung und
einigen Worten von Imam Khamene'i an die Anwesenden bat unser
Lehrer mit allem Respekt Imam Khamene'i darum, einen Traum
erzählen zu dürfen, den er einige Nächte vorher gehabt hatte,
da dieser ihn beträfe. Imam Khamene'i erlaubte es ihm, und so
erzählte er:
"Ich sah in meinem Traum wie
Imam Khomeini (r.) in unser Haus kam und sich neben mich
setzte, und ich fragte ihn: 'Sie haben uns damals Imam
Khamene'i empfohlen. Wenn Sie nun nach fünf, sechs Jahren
urteilen sollten, würden Sie ihn dann immer noch empfehlen?'.
Imam Khomeini antwortete unmissverständlich:
'Selbstverständlich! Selbst wenn ich weitere 100 Mal jemanden
empfehlen sollte, ich wüsste keinen Geeigneteren, um ihn euch
vorzustellen'. Daraufhin bedankte ich mich, und er sagte:
'Hast Du noch eine Frage?'. Ich sprach:' Ist Imam Khamene'i
wirklich unser Imam und der Vertreter von Imam Mahdi? ',
worauf Imam Khomeini entschieden antwortete:
'Selbstverständlich und ganz sicher! Was willst Du mich noch
fragen?' Nun fragte ich Imam Khomeini, ob wir jedem Befehl und
jeder Aussage von Imam Khamene'i gehorchen müssen, worauf er
zurückfragte: 'Was meinst Du damit?'. Ich erläuterte, ob wir
Imam Khamene'i auch in Bezug auf seine eigenen bescheidenen
Aussagen über seine eigene Mardschaiya befolgen sollen (da er
immer wieder darauf hinweist, wie geeignet doch andere für
diese Aufgabe seien). Nun antwortete Imam Khomeini mit einem
deutlichen Schmunzeln im Gesicht: 'Nein, in diesem Punkt
nicht' (was so viel hieß wie, dass man Imam Khamene'i als
Mardscha annehmen und ihm folgen sollte). Voller Freude
bedankte ich mich bei ihm, worauf er fragte: 'War das alles,
was Du fragen wolltest?'. Als ich dies nun bejahte, klopfte er
mir auf den Rücken und forderte mich auf: 'Stehe nun auf, und
führe Deine Arbeit fort'."
Die Anwesenden bei Imam
Khamene'i freuten sich über diese Erzählung, und nachdem unser
Lehrer von Imam Khamene'i verabschiedet worden war, sammelten
sich die Anwesenden um unseren Lehrer und erkundigten sich
wiederholt nach seinem Traum.
Es sei nebenbei noch darauf
hingewiesen, dass es keine Voraussetzung für die Auswahl
eines Mardscha ist, dass dieser vorher eine Risala
(islamisches Regelwerk) herausgebracht haben muss, wie manche
fälschlicherweise vermuten. Und noch weniger ist es
Voraussetzung, dass der Erwählte selber von sich behauptet,
ein Mardscha zu sein. Imam Khamene'i hat nach seiner späteren
öffentlichen Annahme der Mardschaiyah
in seiner eigenen Risala (islamisches Regelwerk) für die
Zukunft diesen Aspekt deutlich klargestellt. Die Frage an Imam
Khamene'i lautete: Darf man einen Mudschtahid
(islamischer Gelehrter mit der Fähigkeit zur selbständigen
Rechtsfindung) nachahmen, auch wenn er keine Risala
herausgegeben hat und nicht von sich behauptet,
Mardscha-ul-Taqlid (Vorbild der Nachahmung) zu sein.
Imam Khamene'is Antwort lautete: Wenn derjenige, der die
Nachahmung beabsichtigt, feststellt, dass er (der
Nachzuahmende) ein Mudschtahid ist, der alle
Voraussetzungen erfüllt, dann ist es zweifellos möglich
(siehe Fatwa Nr. 9 in [6]).
Hier stark verkürzt wiedergegeben
Siehe hierzu Kap.: Der höchste Gelehrte