Philosophie im Islam

Geschichte der Philosophie im Islam

Tjitze J. de Boer

1901

STUTTGART. FR. FROMMANNS VERLAG (E. HAUFF).

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VI. Die Philosophie im Westen

2. Ibn Baddscha

1. Gegen Ende des elften Jahrhunderts, als Abu Bekr Mohammed ibn Jachja ibn al-Saig ibn Baddscha in Saragossa geboren wurde, war das schöne Andalusien nahe daran, in seiner Kleinstaaterei unterzugehen. Von Norden her wurde es von den weniger gebildeten, aber kräftigen und tapferen Christenrittern bedroht. Da griff aber rettend die berberische Dynastie der Almoraviden ein, die nicht nur fester im Glauben, sondern auch klüger in der Politik war als die üppigen Herrschergeschlechter Spaniens. Jetzt schien die Zeit feiner Bildung und freien Forschens für immer dahin. Nur Traditionarier der strengsten Observanz durften öffentlich auftreten. Und die Philosophen, wenn sie sich nicht verborgen hielten, wurden verfolgt oder getötet.

2. Aber barbarische Herren haben ihre Grillen, indem sie die Bildung der von ihnen Unterworfenen, wenigstens äußerlich, sich anzueignen lieben. Also nahm sich Abu Bekr ibn Ibrahim, Schwager des Almoravidenfürsten Ali, der einige Zeit Gouverneur Saragossas war, zum großen Ärgernis seiner Faqihs und Soldaten, den Ibn Baddscha zum Vertrauten und ersten Minister. Dieser Mann nun war in den mathematischen Wissenschaften, besonders in der Astronomie und Musik, dazu in der Medizin, theoretisch und praktisch bewandert und gab sich mit logischen, naturphilosophischen und metaphysischen Spekulationen ab. Er war nach der Ansicht der Fanatiker ein ganz verrückter Atheist und unsittlicher Mensch.

Von dem äußeren Leben Ibn Baddschas wissen wir ferner nur, dass er im Jahre 1118 nach dem Falle Saragossas zu Sevilla war, wo er mehrere seiner Schriften verfasste, darauf in Granada, und dass er sich nach Fez an den Almoravidenhof begab, wo er im Jahre 1138 starb. Der Überlieferung nach fand er, auf Veranlassung eines neidischen Arztes, den Gifttod. Glücklich war, nach seinem [157]Selbstbekenntnis, sein kurzes Leben nicht gewesen. Oft hatte er sich, als letzte Zuflucht, den Tod herbeigesehnt. Materielle Not, vor allem geistige Vereinsamung mögen ihn gedrückt haben. Dass er zu seiner Zeit, in seiner Umgebung, sich nicht heimisch fühlen konnte, zeigen zur Genüge die erhaltenen Schriften.

3. Er schließt sich fast ganz an Farabi, den einsamen, stillen Mann des Orients an. Wie dieser hat er wenig systematisiert. Die Zahl seiner selbständigen Abhandlungen ist nicht groß. Aus kurzen Erläuterungen zu den aristotelischen und anderen philosophischen Schriften besteht das meiste. Seine Bemerkungen sind abgerissen, bald fängt er hier, bald dort von neuem an. Mit immer neuen Ansätzen sucht er sich dem griechischen Gedanken zu nähern, von den verschiedensten Seiten in die alte Wissenschaft einzudringen. Die Philosophie wird er nicht los, und er wird nicht fertig mit ihr. Auf den ersten Blick macht das einen verwirrenden Eindruck. Im dunklen Drange aber ist der Philosoph sich seiner Wege bewusst. Auf der Suche nach Wahrheit und Recht findet er ein anderes, Einheit und Freude seines Lebens. Gazali hat es sich, seiner Meinung nach, gar zu leicht gemacht, als er glaubte, nur im Vollbesitz der durch göttliche Erleuchtung erfassten Wahrheit glücklich sein zu können. Der Wahrheit zu liebe, die sich in den sinnlichen Bildern religiöser Mystik mehr verhüllt als aufdeckt, soll der Philosoph stark genug sein, jenem Glücke zu entsagen. Nur vom reinen Denken, das keine Sinnenlust trübt, wird die höchste Gottheit geschaut.

4. In seinen logischen Schriften hat Ibn Baddscha sich kaum von Farabi entfernt. Auch seine physischen und metaphysischen Lehren stimmen im allgemeinen zu den Ansichten des Meisters. Nur die Art und Weise, in der er die Entwicklungsgeschichte des menschlichen Geistes und die Stellung des Menschen in Wissenschaft und Leben darlegt, darf einiges Interesse beanspruchen.

Zwei Arten des Seienden gibt es ihm zufolge: ein bewegtes [158]und ein unbewegtes. Das Bewegte ist körperlich, begrenzt, aber seine ewige Bewegung lässt sich aus dem endlichen Körper nicht erklären. Es bedarf, im Gegenteil, zur Erklärung dieser unendlichen Bewegung einer unendlichen Kraft oder eines ewigen Wesens, des Geistes. Indem nun das Körperliche oder Natürliche von außen bewegt wird und der Geist, selbst unbewegt, dem Körperlichen Bewegung verleiht, steht das Seelische als das sich selbst Bewegende in der Mitte. Das Verhältnis nun zwischen dem Natürlichen und dem Seelischen macht dem Ibn Baddscha ebensowenig Mühe wie seinen Vorgängern. Das Hauptproblem aber ist dieses: Wie verhalten sich Seele und Geist zu einander, namentlich im Menschen?

5. Ibn Baddscha geht von der Voraussetzung aus, dass der Stoff nicht ohne irgend eine Form sein kann, wohl aber die Form rein für sich ohne Stoff. Sonst nämlich ließe sich überhaupt keine Veränderung denken, denn dieselbe ist nur möglich durch das Kommen und Gehen der substantiellen Formen.

Diese Formen nun, vom Hylischen bis zum rein Geistigen, bilden eine Reihe, der die Entwicklung des menschlichen Geistes entspricht, sofern nämlich er das Vernunftideal verwirklicht.1 Des Menschen Aufgabe ist es, sämtliche geistigen Formen zu erfassen, zunächst die intelligibelen Formen alles Körperlichen, dann die sinnlich-geistigen Vorstellungen der Seele, darauf den Menschengeist selbst und den thätigen Geist über ihn, endlich die reinen Geister der Himmelsphären. Durch successive Erhebung aus dem Individuellen, Sinnlichen, dessen Vorstellung den Stoff des Geistes bildet, gelangt der Mensch zum Übermenschlichen und Göttlichen. Dazu führt ihn nun die Philosophie oder die Erkenntnis des Allgemeinen, die durch Studium und Nachdenken aus der Erkenntnis des Individuellen, aber mit Hilfe des erleuchtenden Geistes von oben hervorgeht. [159]Gegenüber dieser Erkenntnis des Allgemeinen oder Unendlichen, in dem Sein und Gedachtwerden zusammenfallen, erweist sich alles Wahrnehmen und Vorstellen als trüglich. In der Vernunfterkenntnis also und nicht in mystisch-religiösen Träumereien, denen immer Sinnliches anhaftet, erreicht der menschliche Geist seine Vollkommenheit. Denken ist die höchste Seligkeit, denn alles Intelligibele ist seiner selbst Zweck. Da es aber das Allgemeine ist, so lässt sich ein Fortbestehen individueller Menschengeister über dieses Leben hinaus nicht annehmen. Es möge die Seele, die im sinnlich-geistigen Vorstellungsleben das Individuelle erfasst und in einzelnen Begierden und Handlungen sich kund gibt, nach dem Tode weiter bestehen können und Strafe oder Belohnung erhalten, der Geist aber oder der vernünftige Teil der Seele ist in allen eins. Ewig ist nur der Geist der ganzen Menschheit in seiner Vereinigung mit dem thätigen Geiste über ihm. Diese Lehre, unter dem Namen des Averroes in das christliche Mittelalter eingedrungen, findet sich also schon bei Ibn Baddscha, wenn nicht ganz scharf gefasst, doch klarer als bei Farabi.

6. Nicht jeder Mensch erhebt sich zu solcher Höhe der Betrachtung. Die meisten tasten immer im Dunkeln herum, nur Schattenrisse der Dinge sehen sie und wie Schatten werden sie vergehen. Einige sehen das Licht zwar und die farbige Welt der Dinge, aber ganz wenige erkennen das Wesen dessen, was sie gesehen. Nur die letzteren, die Seligen, erreichen das ewige Leben, in dem sie selbst zu Licht werden.

Wie gerät nun aber der Einzelne zu dieser Stufe des Erkennens und seligen Seins? Durch vernünftiges Handeln und freie Ausbildung seiner intellektuellen Kräfte. Vernünftiges Handeln ist freies d. h. zweckbewusstes Handeln. Wenn einer z. B. einen Stein zerschlägt, weil er sich daran gestoßen, so handelt er zwecklos wie ein Tier oder ein Kind; thut er es aber, damit sich andere nicht [160]daran stoßen werden, so ist seine That menschlich, vernünftig zu nennen.

Um menschlich leben, vernünftig handeln zu können, muss unter Umständen der Einzelne sich aus der Gesellschaft zurückziehen. Ibn Baddschas Ethik heißt “die Leitung des Einsamen”. Zur Selbsterziehung fordert sie auf. In der Regel aber kann man sich der Vorteile menschlichen Zusammenlebens bedienen, ohne die Nachteile mit in den Kauf zu nehmen. Zu kleineren oder größeren Verbänden können die Weisen sich zusammenschließen, ja das ist sogar ihre Pflicht, wenn sie sich treffen. Sie bilden dann einen Staat im Staate. Naturgemäß versuchen sie zu leben, sodass unter ihnen weder Arzt noch Richter nötig ist. Wie Pflanzen in freier Luft wachsen sie auf und brauchen die Kunst der Gärtner nicht. Von den niederen Genüssen und Gesinnungen der Menge halten sie sich fern. Sie sind Fremdlinge in dem weltlichen Treiben der Gesellschaft. Und da sie Freunde unter einander sind, wird dieses Leben ganz von der Liebe bestimmt. Und als Freunde Gottes, der die Wahrheit ist, finden sie ihre Ruhe in der Vereinigung mit dem übermenschlichen Geiste der Erkenntnis.

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