Philosophie im Islam

Geschichte der Philosophie im Islam

Tjitze J. de Boer

1901

STUTTGART. FR. FROMMANNS VERLAG (E. HAUFF).

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V. Der Ausgang der Philosophie im Osten

2. Die Kompendienschreiber

1. In einer Geschichte des gelehrten Unterrichtes bei den muslimischen Völkern müsste dieser Gegenstand einen größeren Raum einnehmen; wir werden ihn hier mit wenigen Worten abthun.

Dass Gazali die Philosophie für alle Folgezeit vernichtet habe, ist eine oft wiederholte, aber ganz irrige Behauptung, die weder von geschichtlichem Wissen noch von Verständnis zeugt. Die Philosophie hat im Osten nach ihm ihre Lehrer und Schüler zu Hunderten und Tausenden gezählt. Ebensowenig wie die Pflichtenlehrer ihre spitzfindige Kasuistik, haben die Glaubenslehrer ihre dialektischen Argumente zur Stütze des Dogmas aufgegeben. Und die allgemeine Bildung hat einen Bestandteil philosophischer Gelehrsamkeit in sich aufgenommen.

Freilich, eine hervorragende Stellung hat die Philosophie sich nicht zu erobern, ihr früheres Ansehen nicht zu erhalten gewusst. Nach einer arabischen Anekdote soll ein Philosoph, der in Gefangenschaft geraten war und von einem Manne, der ihn als Sklaven kaufen wollte, befragt wurde, wozu er tauge, die Antwort gegeben haben: Zur [151]Freiheit. Philosophie braucht Freiheit. Und wo gab es diese im Orient? Freiheit von materiellen Sorgen, Freiheit zur Bethätigung uninteressierten Denkens schwanden immer mehr dahin, wo keine aufgeklärten Despoten im Stande waren, sie zu gewähren und zu schützen. Als glaubens- und staatsgefährlich wurden die Philosophen an manchen Orten verfolgt. Es ist das nur ein Zeichen des allgemeinen Kulturverfalles. Wenn auch abendländische Reisende des zwölften Jahrhunderts die Kultur des Ostens höchlich preisen, so war sie doch, mit früheren Zeiten verglichen, im Niedergang begriffen. Auf keinem Gebiete ging man über das alte hinaus, dazu waren die Geister zu schwach. Die litterarische Produktion stockte und den Vielschreibern der folgenden Jahrhunderte gebührt nur das Verdienst der schönen Auswahl. Die Pflichten- und die Glaubenslehre mit der Mystik hatten ihren Abschluss gefunden. Ebenso die Philosophie. Nach Ibn Sina, ihrem Fürsten, mit selbständigen Ansichten hervorzutreten, fühlte keiner sich berufen. Es war die Zeit gekommen der Kompendien, der Kommentare, der Glossen und Superglossen. Damit vertrieb die gelehrte Welt sich in der Schule die Zeit, während die gläubige Menge sich immer mehr der Führung der Derwischorden unterstellte.

2. Die allgemeine Bildung entnahm am meisten der philosophischen Propädeutik, etwas Mathematik u. s. w., in der Regel natürlich höchst elementar. Von Sektierern und Mystikern wurde vieles der pythagoreisch-platonischen Weisheit entlehnt. Besonders den Heiligen- und Wunderglauben zu stützen, mussten jene Lehren herhalten. Eine wüste, synkretistische Theosophie schmückte sich damit. Sie nahm auch den Aristoteles, natürlich den unechten, unter ihre Lehrer auf, machte ihn aber zum Schüler des Agathodaemon und Hermes.

Die nüchternen Geister dagegen hielten sich an dem Aristotelismus, soweit er sich mit ihren eigenen Ansichten oder dem orthodoxen Glauben vertrug. Fast allgemein [152]folgte man dem System des Ibn Sina, nur wenige gingen auf Farabi zurück oder suchten beide zu vereinigen. Von den physischen und metaphysischen Lehren nahm man weniger Notiz; Ethik und Politik wurden schon mehr gepflegt; allgemein studiert aber nur die Logik. Diese ließ sich trefflich in schulmäßige Form bringen, als reine Formallogik war sie ein Werkzeug, dessen sich jeder bedienen konnte. Mit den Mitteln der Logik ließ sich ja alles beweisen. Und wenn einmal ein Beweis als fehlerhaft erkannt wurde, so tröstete man sich damit, dass die Behauptung doch richtig sein könnte, wenn auch der Beweis dafür nicht richtig geführt worden war.

Schon in der Encyklopädie des Abu Abdallah al-Chwarizmi aus dem letzten Viertel des zehnten Jahrhunderts war der Logik ein größerer Raum zugemessen als der Physik und Metaphysik. Ebenso machten es viele spätere Encyklopädien und Sammelwerke. Auch die Dogmatiker fingen ihr System an mit logischen und erkenntnistheoretischen Betrachtungen, in denen dem “Wissen” ein traditionelles Lob gespendet wurde. Und seit dem zwölften Jahrhundert entstand eine ganze Menge Einzelbearbeitungen des aristotelischen Organons. Als vielgebraucht, kommentiert u. s. w. seien hier nur genannt die Werke des Abhari (gest. 1264), der unter dem Titel Isagudschi (εἰσαγωγή) eine kurze Übersicht der ganzen Logik gab, und des Qazwini (gest. 1276).

An der größten Universität der muslimischen Welt, in Kairo, werden heutzutage noch die Kompendien des 13. und 14. Jahrhunderts gebraucht. Dort heißt es noch, wie lange Zeit bei uns: Zuerst Collegium logicum! Selbstverständlich mit keinem besseren Erfolge. Man lässt sich, innerhalb der Schranken des Gesetzes, die von den alten Philosophen aufgefundenen Regeln des Denkens gefallen, lächelt aber dabei über jene Männer und über die mutazilitischen Dialektiker, die “an die Vernunft geglaubt”. [153]

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