Philosophie im Islam

Geschichte der Philosophie im Islam

Tjitze J. de Boer

1901

STUTTGART. FR. FROMMANNS VERLAG (E. HAUFF).

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IV. Die neuplatonischen Aristoteliker des Ostens

4. Ibn Sina

1. Zu Efschene, in der Nähe Bocharas, wurde im Jahre 980 aus einer Beamtenfamilie geboren Abu Ali al-Hosain ibn Abdallah ibn Sina (Avicenna). Im elterlichen Hause, wo persische und anti-muslimische Traditionen lebendig waren, erhielt er seine weltliche und religiöse Erziehung. Dann studierte der körperlich und geistig frühreife Jüngling Philosophie und Medizin in Bochara. Siebzehn Jahre war er alt, als er den Fürsten Nuch ibn Mansur glücklich kurierte, und der Zutritt zu dessen Bibliothek ihm gestattet ward. Von jetzt ab war er, in Studium und Praxis, sein eigener Lehrer. Er verstand es, das Leben und die Bildung seiner Zeit sich zu Nutzen zu machen. Im Getriebe der Kleinstaaterei versuchte er unablässig sein Glück. Einem großen Fürsten hätte er sich wohl ebensowenig unterordnen können wie in der Wissenschaft einem Lehrer. Von Hof zu Hof wanderte er fort, bald in der Staatsverwaltung, bald als Lehrer und Schriftsteller thätig, bis er Wezir des Schems addaula in Hamadan wurde. Nach dem Tode dieses Fürsten ward er von dessen Sohne ein paar Monate auf die Festung geschickt. Darauf ging er weiter nach Ispahan zu Ala addaula. Endlich starb er noch in Hamadan, das Ala addaula erobert hatte, im Alter von 57 Jahren (1037). Sein Grab wird noch heute dort gezeigt.

2. Es ist wohl der größte Irrtum, der sich in der Geschichte der muslimischen Philosophie festgesetzt hat, Ibn Sina sei über Farabi hinaus zu einem reineren Aristotelismus vorgedrungen. Was kümmerte unser Weltmann [120]sich im Grunde um Aristoteles. Sich in den Geist irgend eines Systems zu versenken, war nicht seine Sache. Er nahm das ihm Zusagende, wo er es fand, bevorzugte aber dabei die seichten Paraphrasen des Themistius. So ward er der große Vermittlungsphilosoph des Orients, der richtige Vorläufer der Kompendienschreiber für alle Welt. Er wusste seinen von überall her zusammengeholten Stoff geschickt zu gruppieren und, wenn auch nicht ohne Spitzfindigkeit, fasslich darzustellen. Jeden Augenblick seines Lebens nutzte er aus. Am Tage besorgte er die Staatsgeschäfte oder übte seine Lehrthätigkeit aus, der Abend war den geselligen Genüssen der Freundschaft und der Liebe gewidmet, und manche Nacht fand ihn schriftstellerisch thätig, das Schreibrohr in der Hand, den Becher zur Seite, damit er nicht einschlafe. Zeit und Umstände bestimmten diese Wirksamkeit. Wenn er am fürstlichen Hofe die nötige Muße und eine Bibliothek zur Hand hatte, schrieb er seinen Kanon der Medizin oder die große philosophische Encyklopädie. Auf Reisen verfasste er Auszüge und kleinere Werke. Auf der Festung schrieb er Gedichte und fromme Betrachtungen, aber immer in gefälliger Form. Seine kleineren mystischen Schriften haben sogar einen poetischen Reiz. Auf Bestellung ward von ihm auch die Wissenschaft, Logik und Medizin versifiziert, wie das seit dem zehnten Jahrhundert immer mehr Sitte wurde. Nimmt man hinzu, dass er nach Belieben persisch oder arabisch schrieb, so bekommt man das Bild eines vielgewandten Mannes. Sein Leben war reich an Arbeit und Genuss bis zur Übersättigung. An Genialität freilich stand er seinem älteren Landsmann, dem Dichter Firdausi (940–1020), an wissenschaftlichem Talente seinem Zeitgenossen Beruni (s. unten § 9) nach. Firdausi und Beruni haben für uns noch Bedeutung. Ibn Sina aber war der Ausdruck seiner Zeit und darauf beruht seine große Wirkung, seine geschichtliche Stellung. Nicht wie Farabi zog er sich aus dem Leben zurück, sich in die Kommentatoren des Aristoteles [121]zu versenken, sondern in ihm verschmolzen sich griechische Wissenschaft und orientalische Weisheit. Kommentare zu den Alten, meinte er, waren genug geschrieben. Es war jetzt an der Zeit, eine eigene Philosophie auszubilden, d. h. alten Lehren eine moderne Form zu geben.

3. In der Medizin befleißigt Ibn Sina sich einer systematischen Darstellung, doch ist er hier kein strenger Logiker. Der Erfahrung räumt er, wenigstens theoretisch, einen großen Platz ein und ausführlich bespricht er die Bedingungen, unter denen nur z. B. die Wirksamkeit der Heilmittel erkannt werden könne. Was aber an philosophischen Prinzipien die Medizin enthält, soll diese als Lehnsätze aus der Philosophie herübernehmen.

Die eigentliche Philosophie zerfällt in Logik, Physik und Metaphysik. Als Ganzes umfasst sie die Wissenschaft alles Seienden als solchen und der Prinzipien aller Einzelwissenschaften, wodurch, soweit es menschenmöglich ist, die philosophierende Seele die höchste Vollkommenheit erreicht. Das Seiende ist nun entweder geistig, Gegenstand der Metaphysik, oder körperlich, Gegenstand der Physik, oder intellektuell, Gegenstand der Logik. Die Gegenstände der Physik können weder sein noch gedacht werden ohne Materie. Das Metaphysische aber ist ganz ohne Materie und das Logische ist von der Materie abstrahiert. Einige Ähnlichkeit hat das Logische mit dem Mathematischen, insofern nämlich die Gegenstände der Mathematik sich von der Materie abstrahieren lassen. Doch bleibt das Mathematische immer darstellbar, konstruierbar, hingegen hat das Logische als solches sein Dasein nur im Intellekte, wie z. B. Identität, Einheit und Vielheit, Allgemeinheit und Partikularität, Wesentlichkeit und Zufälligkeit u. s. w. Die Logik ist demnach die Wissenschaft der Denkbestimmungen.

In der näheren Ausführung schließt Ibn Sina sich ganz der Logik Farabis an. Wohl besser noch würde sich die Übereinstimmung uns zeigen, wenn die logischen [122]Schriften seines Vorgängers vollständiger erhalten wären. Öfter betont er die Mangelhaftigkeit der menschlichen Denknatur, die einer logischen Regel dringend bedürftig sei. Wie der Physiognomiker aus äußeren Zügen auf den Charakter des Inneren schließt, so soll der Logiker aus bekannten Vordersätzen Unbekanntes ableiten. Wie leicht schleichen sich dabei die Irrtümer der Phantasie und der Begierde ein! Eines Kampfes mit der Sinnlichkeit bedarf es, damit das Vorstellungsleben sich erhebe zu der reinen Wahrheit der Vernunft, durch die etwas als notwendig erkannt wird. Nur der göttlich inspirierte Mensch kann der Logik entbehren, ebenso wie der Beduine eine arabische Grammatik nicht braucht.

Auch die Universalienfrage wird ähnlich wie bei Farabi behandelt. Vor aller Vielheit hat jedes Ding ein Sein im Geiste Gottes und der Engel (Sphärengeister), dann geht es als materielle Form in die Vielheit ein, um endlich im menschlichen Intellekte zur Allgemeinheit des Begriffes sich zu erheben. Wie nun Aristoteles zwischen erster (individueller) und zweiter (allgemeinbegrifflicher) Substanz unterschieden hat, so macht Ibn Sina ähnlich einen Unterschied zwischen erstem und zweitem Begriff (ma’nâ, intentio). Der erste bezieht sich auf die Dinge, der zweite auf die Disposition unseres Denkens.

4. In der Metaphysik und der Physik unterscheidet Ibn Sina sich von Farabi hauptsächlich dadurch, dass er, indem er die Materie nicht aus Gott ableitet, das Geistige höher über alles Materielle hinausrückt, und, im Zusammenhang damit, die Bedeutung der Seele als einer Vermittlerin zwischen dem Geistigen und dem Körperlichen steigert.

Aus dem Begriffe des Möglichen und Notwendigen ergibt sich die Existenz eines notwendigen Wesens schlechthin. Nicht aus seinen Werken soll man, nach Ibn Sina, das Dasein eines Schöpfers zu erweisen suchen, sondern aus dem möglichen Charakter alles Seienden und Denklichen [123]in der Welt die Existenz eines ersten notwendig Seienden, in welchem Wesen und Dasein Eins sind, folgern.

Nicht nur alles, was unter dem Monde ist, ist möglicher Natur, sondern auch die Himmel sind an sich nur möglich. Notwendig wird ihre Existenz durch ein anderes, das über alle Möglichkeit hinaus ist, also auch über alle Vielheit und Veränderlichkeit. Das absolut Notwendige ist eine starre Einheit, aus der nichts Vielfaches hervorgehen kann. Dieses erste Eine ist Ibn Sinas Gott, dem zwar viele Prädikate, des Denkens u. s. w., beigelegt werden, aber nur im Sinne der Negation oder der Beziehung, sodass sie die Einheit des Wesens nicht berühren.

Aus dem ersten Einen kann also nur Eines hervorgehen, der erste Weltgeist. In diesem entsteht die Vielheit. Indem er nämlich seine Ursache denkt, erzeugt er einen dritten Geist, den Lenker der äußersten Sphäre; indem er sich selbst denkt, entsteht eine Seele, mittelst der der Sphärengeist seine Wirkung ausübt; und sofern er drittens ein an sich Mögliches ist, geht aus ihm ein Körper hervor, die äußerste Sphäre. Und so geht es weiter. Jeder Geist entlässt aus sich eine Dreiheit: Geist, Seele und Körper. Denn, da der Geist nicht unmittelbar den Körper bewegen kann, so bedarf er zur Ausübung seiner Wirksamkeit der Seele. Zuletzt kommt der thätige Geist (ʻaql fu-ʻʻâl) der die Materie des Irdischen, die körperlichen Formen und die menschlichen Seelen hervorbringt und lenkt.

Dieser ganze Prozess, der nicht zeitlich vorgestellt werden darf, findet statt in einem Substrate, der Materie. Die Materie ist die ewige, reine Möglichkeit alles Seienden, zugleich die Schranke für die Wirkung des Geistes. Sie ist das Prinzip aller Individualität.

Das musste nun allerdings gläubigen Muslimen als etwas Furchtbares erscheinen. Wohl hatten mutazilitische Dialektiker behauptet, Gott könne kein Böses oder nichts Vernunftwidriges thun. Jetzt aber behauptete die Philosophie, [124]dass Gott statt alles Mögliche zu können, nur das an sich Mögliche zu bewirken im Stande sei, und dass direkt von ihm nur der erste Weltgeist ausgehe.

Übrigens macht Ibn Sina alle Anstrengung, sich dem Volksglauben anzubequemen. Alles ist durch Gottes Bestimmung, sagt er, Gutes und Böses, aber nur ersteres mit freudiger Billigung. Das Böse ist entweder ein Nichtseiendes oder, sofern es von Gott herrührt, ein Accidentelles. Hätte Er, der notwendigen Übel wegen, diese Welt nicht hervorgehen lassen, so wäre das der Übel größtes gewesen. Die Welt könnte nicht besser und schöner sein als sie eben ist. In ihrer schönen Ordnung besteht die göttliche Vorsehung, die von den Seelen der Himmel vermittelt wird. Gott und die reinen Geister kennen nur das Allgemeine, können also nicht für Besonderes sorgen. Aber die Seelen der Himmelsphären, denen Vorstellung des Einzelnen zukommt und durch die der Geist auf den Körper wirkt, bieten die Möglichkeit, eine Fürsorge auch für das Einzelne und den Einzelnen anzunehmen, die Offenbarung zu erklären u. s. w. Auch das plötzliche Entstehen und Vergehen von Substanzen (Schöpfung und Vernichtung) im Gegensatze zu der stetigen Bewegung, d. h. dem allmählichen Übergange des Möglichen zum Wirklichen, scheint dem Ibn Sina nichts Unmögliches zu bedeuten. Überhaupt herrscht bei ihm keine Klarheit über das Verhältnis der Seinsformen, über Geist und Körper, Form und Materie, Substanz und Accidens. Dem Wunder bleibt jedenfalls ein Platz übrig. In heftigen, seelischen Erregungen, die oft plötzlich eine große Hitze oder Kälte bei uns hervorrufen, haben wir, nach Ibn Sina, Analoga zu wunderbaren Wirkungen der Weltseele, wenn diese auch gewöhnlich dem Naturlaufe folgt. Von allen diesen Möglichkeiten macht unser Philosoph selbst sehr mäßigen Gebrauch. Astrologie und Alchemie hat er aus ganz vernünftigen Gründen bekämpft. Trotzdem hat man ihm bald nach seinem Tode schon astrologische Gedichte aufgebürdet und [125]erscheint er in der türkischen Romanlitteratur, freilich an der Stelle eines alten Mystikers, als Zauberer.

Ibn Sinas Physik beruht ganz auf der Annahme, ein Körper könne nichts bewirken. Was wirkt, ist überall eine Kraft, eine Form, eine Seele und durch sie der Geist. Im Gebiete des Physischen gibt es also unzählige Kräfte, deren Hauptstufen von unten nach oben die Naturkräfte, die Vermögen der Pflanzen und der Tiere, die Menschenseelen und die Weltseelen sind.

5. Farabi war es vor allem um die reine Vernunft zu thun: er hat das Denken um seiner selbst willen geliebt. Ibn Sina aber ist überall um die Seele bemüht. Wie er in seiner Medizin den menschlichen Körper ins Auge fasst, so in seiner Philosophie die menschliche Seele. Seine große philosophische Encyklopädie heißt ja die Heilung (sc. der Seele). Die Psychologie ist der Mittelpunkt seines Systems.

Seine Anthropologie ist dualistisch. Körper und Seele gehören nicht wesentlich zusammen. Wie alle Körper unter der Einwirkung der Gestirne aus der Mischung der Elemente hervorgehen, so der menschliche Körper aus dem schönsten Gleichmaße dieser Mischung. Eine spontane Generation des Körpers, wie überhaupt ein Aussterben und Neuerstehen des Menschengeschlechtes ist deshalb möglich. Aber aus der Mischung der Elemente lässt sich die Seele nicht erklären. Sie ist nicht die untrennbare Form des Körpers, sondern diesem accidentell. Von dem Geber der Formen, d. h. dem thätigen Geiste über uns, erhält jeder Körper seine ihm und nur ihm eignende Seele. Von Anfang an ist jede Seele Individualsubstanz und sie bildet sich zeitlebens in ihrem Körper immer individueller aus. Zu der Behauptung, die Materie sei das Prinzip der Individualität, stimmt dies allerdings nicht. Aber die Seele ist das Wunderkind unseres Philosophen. Er ist nicht leichtgläubig, warnt öfter vor einem allzuleichten Hinnehmen der Geheimnisse des Seelenlebens, weiß aber doch [126]selber manches zu berichten über die vielen wunderbaren Kräfte und möglichen Wirkungen der Seele, die die vielverschlungenen Pfade des Lebens wandert und die Abgründe des Seins und Nichtseins übersteigt.

Von allen Seelenkräften sind die theoretischen Vermögen die vorzüglichsten. Äußere und innere Sinne führen der vernünftigen Seele die Kenntnis der Welt zu. Besonders die Lehre von den inneren Sinnen, den sinnlich-geistigen Vorstellungsvermögen, deren Sitz das Gehirn, wird von Ibn Sina eingehend dargestellt.

Gewöhnlich nahmen die Mediziner-Philosophen drei innere Sinne oder Stadien des Vorstellungsprozesses an: 1. die Zusammenfassung der einzelnen Sinneswahrnehmungen zu einem Gesamtbilde im Vorderhirn; 2. die Umbildung oder Bearbeitung dieser Vorstellung des Gemeinsinnes mit Hilfe schon vorhandener Vorstellungen, also die eigentliche Apperzeption, in der Mitte des Gehirns; 3. die Aufbewahrung der apperzipierten Vorstellung im Gedächtnis, das seinen Sitz im hintern Teile des Gehirns haben soll. Ibn Sina geht etwas weiter in der Analyse. Er unterscheidet im Vorderhirne vom Gemeinsinne das sinnliche Gedächtnis, die Schatzkammer der Gesamtbilder. Ferner lässt er die Apperzeption teils unbewusst, unter dem Einfluss des sinnlich-begehrenden Lebens, wie es sich auch bei den Tieren findet, von statten gehen, teils aber bewusst, unter der Mitwirkung der Vernunft, zu Stande kommen. In dem ersteren Falle behält die Vorstellung ihre Beziehung zu dem Einzelding — so kennt das Schaf die Feindschaft des Wolfes —, in dem zweiten Falle aber erweitert sie sich zum allgemeinen. Dazu kommt dann als fünftes hinzu das vorstellende Gedächtnis oder das Zeughaus der von der sinnlichen Phantasie und dem vernünftigen Nachdenken gebildeten Vorstellungen. Es entsprechen also, aber ganz anders als bei den treuen Brüdern (s. III, 2 § 8), den fünf äußeren Sinnen fünf innere. Unbeantwortet bleibt die aufgeworfene Frage, ob man nicht von dem [127]Gedächtnis noch die Erinnerung als ein besonderes Vermögen zu scheiden habe.

6. Auf dem Gipfel der theoretischen Seelenkräfte steht die Vernunft. Es gibt zwar auch eine praktische Vernunft, aber in ihrem Thun haben wir uns selbst nur mittelbar, vervielfältigt; unmittelbar dagegen in dem Selbstbewusstsein, dem reinen Erkennen unseres Wesens, darin die Einheit unserer Vernunft sich darstellt. Statt aber die niederen Kräfte der Seele herabzudrücken, zieht die Vernunft dieselben hinauf, die Sinneswahrnehmung verfeinernd, die Vorstellung verallgemeinernd. An dem ihr von den äußeren und inneren Sinnen zugeführten Materiale arbeitet sich die Vernunft, die anfangs bloße Denkfähigkeit ist, nach und nach zur vollkommenen Denkfertigkeit aus. Durch Übung wird die Anlage Wirklichkeit. Es geschieht das an der Hand der Erfahrung, aber unter der Führung und der Erleuchtung von oben, von dem Geber der Formen, der als thätiger Geist der Vernunft die Ideen mitteilt. Ein Gedächtnis aber für die reinen Vernunftideen hat die menschliche Seele nicht, denn Gedächtnis setzt immer ein körperliches Substrat voraus. So oft also die vernünftige Seele etwas erkennt, fließt ihr jedesmal von oben die Erkenntnis zu, und nicht durch Umfang und Inhalt des Erkennens unterscheiden sich die denkenden Seelen, sondern durch die Fertigkeit, sich zur Aufnahme der Erkenntnis mit dem Geiste über uns in Verbindung zu setzen.

Die vernünftige Seele, die dasjenige, was unter ihr ist, beherrscht, und das Höhere durch die Erleuchtung des Weltgeistes erkennt, ist nun der eigentliche Mensch, entstanden zwar, aber als einfaches Wesen, als Individualsubstanz, unzerstörbar, unsterblich. Hier unterscheidet durch ihre Klarheit Ibn Sinas Lehre sich von derjenigen des Farabi. Seit Ibn Sina gilt im Orient die Annahme der individuellen Unsterblichkeit entstandener Menschenseelen als aristotelisch, das Gegenteil als platonisch. So versteht sich seine Philosophie besser mit der Religion. [128]Im menschlichen Körper und in der ganzen Sinnenwelt hat die Seele eine Schule, sich auszubilden. Nach dem leiblichen Tode aber, der diesem Körper für immer ein Ende macht, besteht die Seele in enger oder entfernter Verbindung mit dem Weltgeiste fort. In dieser Vereinigung (die nicht als völlige Einswerdung aufzufassen ist) mit dem Geiste über uns besteht die Seligkeit der guten, wissenden Seelen. Den anderen wird ewiges Unglück zu teil. Wie körperliche Mängel zu Krankheiten führen, so folgt notwendig aus schlechtem Seelenzustande die Strafe. In derselben Weise bemisst sich aber auch die himmlische Belohnung nach der Stufe seelischer Gesundheit oder Vernünftigkeit, die im Erdenleben erreicht wurde. Der reinen Seele bleibt in den Leiden der Zeit der Trost des Ewigen.

Freilich wird das Höchste nur von wenigen erreicht. Auf dem Gipfel der Wahrheit ist für die Masse kein Platz; nur einer nach dem andern dringt zu der auf einsamer Höhe entspringenden Quelle der Gotteserkenntnis vor.

7. Seine Ansicht von der menschlichen Vernunft auszudrücken, benutzt und deutet Ibn Sina dichterische Überlieferungen, wie das auch in der späteren persischen Litteratur sehr beliebt war. An erster Stelle interessiert uns die allegorisierte Gestalt des Hai ibn Jaqzan. Sie stellt den Aufstieg des Geistes aus den Elementen durch die Reiche der Natur, der Seele und der Geister bis zum Throne des Ewigen, Einen dar. Als ein jugendlicher Greis, seine Führerschaft anbietend, begegnet sie dem Philosophen. Dieser hat sich bemüht, mit seinen äußeren und inneren Sinnen, Erde und Himmel zu erkennen. Zwei Wege öffnen sich ihm: nach Westen der Weg der Materie und des Bösen, nach Sonnenaufgang aber der Weg der geistigen, ewigreinen Formen, auf den Hai den Wanderer führt. Zusammen gelangen sie zu der Quelle göttlicher Weisheit, dem Born ewiger Jugend, wo Schönheit der Schönheit Vorhang, Licht des Lichtes Schleier ist: das ewige Geheimnis. [129]

Hai ibn Jaqzan ist demnach der Führer der einzelnen denkenden Seelen, er ist der ewige Geist, der über der Menschheit steht und sich in ihr bethätigt.

Einen ähnlichen Sinn findet unser Philosoph in der vielfach umgebildeten spätgriechischen Legende von den Brüdern Salaman und Absal. Salaman ist ihm der Weltmensch, dessen Weib (= die sinnliche Welt) sich in Absal verliebt und diesen durch eine List in ihre Arme zu führen weiß. Vor dem entscheidenden Augenblicke fährt aber ein Blitz vom Himmel herab, entdeckt Absal den beinahe begangenen Frevel und erhebt ihn von der sinnlichen Genusswelt zu der Welt reingeistiger Betrachtung.

Wie ein Vogel, heißt es an anderer Stelle, ist die Seele des Philosophen. Mit großer Mühe entkommt sie irdischen Stricken und durchfliegt die Weltenräume, bis der Engel des Todes ihr die letzten Fesseln löst.

Das ist Ibn Sinas Mystik. Seine Seele hat Bedürfnisse, für die seine Apotheke keine Mittel, das höfische Leben keine Befriedigung darbietet.

8. Ethik und Politik theoretisch auszubilden bleibe den Lehrern des Fiqh überlassen. Unser Philosoph fühlt sich auf der Stufe eines Erleuchteten wie ein Gott über alle menschlichen Gesetze hinausgehoben. Nur für die Menge ist das Gesetz der Religion und des Staates verpflichtend. Mohammeds Zweck war, die Beduinen zu zivilisieren; zu dem Zwecke predigte er u. a. eine Auferstehung des Fleisches. Was reingeistige Seligkeit bedeutet, hätten sie nicht verstanden, er musste sie also mit der Aussicht auf körperliche Leiden oder Freuden erziehen. Mit dieser sinnlichen Menge, deren Gottesdienst in der Beobachtung äußerer Formen besteht, stimmen insofern die Asketen, obgleich sie ganz der Welt und der Sinne entsagen wollen, überein, dass auch sie mit Rücksicht auf eine himmlische Belohnung ihre frommen Werke ausüben. Höher als die Menge und die Frommen stehen die wahren Gottesverehrer in geistiger Liebe, die nichts wollen als [130]Gott selbst, ohne Hoffnung, ohne Furcht. Ihr Eigentum ist die Freiheit des Geistes.

Dieses Geheimnis aber soll man der Menge nicht offenbaren. Nur seinen liebsten Schülern vertraut es der Philosoph.

9. Ibn Sina kam auf seinen Reisen mit vielen gelehrten Zeitgenossen zusammen. Dauernde Verbindungen waren, wie es scheint, nicht davon die Folge. Wie er sich von seinen Vorgängern allein dem Farabi verpflichtet fühlt, so dankt er der Mitwelt nur in seinen fürstlichen Gönnern. Den Ibn Maskawaih (s. IV 3), mit dem er noch öfter zusammenkam, hat er ungünstig beurteilt. Mit dem ihm als Forscher überlegenen Beruni führte er eine Korrespondenz, die aber bald abgebrochen wurde.

Beruni (973–1048), wenn er auch Kindi und Masudi eher als Farabi und den jüngeren Ibn Sina seine Meister nennen darf, verdient hier zur Charakteristik der Zeit einer kurzen Erwähnung. Vorzüglich beschäftigten ihn Mathematik, Astronomie, Länder- und Völkerkunde. Er war ein scharfer Beobachter und guter Kritiker. Aber er verdankte der Philosophie manche Aufklärung und widmete ihr als Kulturerscheinung fortwährend seine Aufmerksamkeit.

Treffend hebt Beruni die Übereinstimmung zwischen pythagoreisch-platonischer Philosophie, indischer Weisheit und vielen sufischen Anschauungen hervor. Nicht weniger treffend erkennt er die Überlegenheit griechischer Wissenschaft gegenüber den Versuchen und Leistungen der Araber und Inder. Indien, sagt er, von Arabien ganz zu schweigen, hat keinen Sokrates hervorgebracht. Keine logische Methode hat dort die Phantasie aus der Wissenschaft vertrieben. Doch will er einzelnen Indern gerecht werden. Zustimmend führt er als die Lehre der Anhänger Aryabhatas folgendes an: “Es genügt uns, das zu erkennen, was von den Strahlen der Sonne beleuchtet wird; was darüber hinausgeht, wenn auch von unermesslicher Ausdehnung, [131]brauchen wir nicht. Was der Sonnenstrahl nicht erreicht, können die Sinne nicht wahrnehmen, und was der Sinn nicht wahrnimmt, können wir nicht erkennen.”

Daraus ergibt sich uns Berunis Philosophie. Nur die Wahrnehmungen der Sinne, von einem logischen Geiste verknüpft, gewähren sichere Erkenntnis. Und zum Leben brauchen wir eine praktische Philosophie, die uns vom Freunde den Feind unterscheiden lässt. Er glaubte selbst wohl nicht, damit alles und das letzte Wort gesagt zu haben.

10. Aus der Schule Ibn Sinas sind uns mehr Namen überliefert als Schriften erhalten. Dschuzdschani hat, im Anschluss an eine Selbstbiographie, das Leben des Meisters beschrieben. Und von Abu-l-Hasan Behmenjar ibn al-Marzuban haben wir noch ein paar kleinere metaphysische Abhandlungen, die sich fast ganz in Übereinstimmung mit dem Systeme seines Lehrers befinden. Nur scheint die Materie etwas von ihrer Substantialität einzubüßen: als Seinsmöglichkeit wird sie zu einer Relation oder Beziehung des Denkens.

Gott ist, nach Behmenjar, die reine, ursachlose Einheit notwendigen Seins, nicht der lebendige, alles wirkende Schöpfer. Er ist zwar Ursache der Welt, aber die Folge ist mit der Ursache zugleich und notwendig gegeben, sonst wäre die Ursache nicht vollkommen, weil der Veränderung fähig. Wesenhaft, nicht zeitlich, geht Gottes Dasein dem der Welt voran. Drei Bestimmungen kommen demnach dem höchsten Sein zu: dass es wesentlich zuerst, sich selbst genügend und notwendig sei, m. a. W. Gottes Wesen ist die Seinsnotwendigkeit. Diesem absolut-notwendigen Sein verdankt alles möglicherweise Existierende sein Dasein.

Das stimmt nun wohl zu den Lehren Ibn Sinas. Und ebenso verhält es sich mit dem Weltbilde und der Seelenlehre des Schülers. Was einmal zur vollen Wirklichkeit [132]gelangt ist, die der Art nach verschiedenen Sphärengeister, die Urmaterie und die individuell verschiedenen menschlichen Seelen, besteht alles ewig fort. Vollwirkliches, weil ohne jede Möglichkeit, kann nicht vergehen.

Die Eigenart alles Geistigen ist die Erkenntnis des eigenen Wesens. Wille heißt, nach Behmenjar, nichts anderes als Erkenntnis dessen, was notwendig aus dem Wesen folgt. In der Selbsterkenntnis besteht auch das Leben und die Lust der vernünftigen Seele.

11. Ibn Sina hat eine weitgehende Wirkung erzielt. Nach seinem Kanon der Medizin, der auch im Abendlande vom 13. bis 16. Jahrhundert hohes Ansehen genoss, werden heutigen Tages noch die Perser kuriert. Sein Einfluss auf die christliche Scholastik war bedeutend. Dante setzte ihn zwischen Hippokrat und Galen, und Scaliger behauptete, er sei in der Medizin dem Galen gleich, in der Philosophie diesem sogar weit überlegen.

Dem Orient galt und gilt er als der Fürst der Philosophie. Der neuplatonische Aristotelismus ist dort bekannt geblieben in der Form, die ihm Ibn Sina gegeben. Zahlreich sind die Handschriften seiner Werke, ein Zeugnis seiner Popularität, unzählig aber die Kompendien und Kommentare zu seinen Schriften. Mediziner und Staatsmänner, aber auch Theologen studierten ihn. Nur wenige gingen über ihn zu den Quellen zurück.

Der Feinde gab es freilich von Anfang an viele und sie äußerten sich lauter als die Freunde. Dichter verfluchten ihn, Theologen stimmten mit ein oder versuchten es, ihn zu widerlegen. Und der Chalif Mustandschid ließ im Jahre 1150 unter der philosophischen Bibliothek eines Richters auch die Schriften Ibn Sinas zu Bagdad dem Feuer übergeben. [133]

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