I. Zur Einleitung
2. Orientalische Weisheit
1. Vor seiner Berührung mit dem Hellenismus hat der
semitische Geist, in philosophischer Hinsicht, es nie
[14]weiter als zu Rätselfragen und Spruchweisheit gebracht.
Einzelbeobachtungen aus der Natur, hauptsächlich aber aus
Leben und Schicksal des Menschen, liegen zu Grunde, und wo das
Verständnis aufhört, stellt sich leicht die Ergebung in den
allmächtigen und unergründlichen Willen Gottes ein. Wir kennen
diese Weisheit aus dem Alten Testament. Dass sie sich ähnlich
bei den Arabern ausbildete, zeigen uns die biblische
Geschichte der Königin von Saba und die Gestalt des weisen
Loqman in der arabischen Überlieferung.
Neben solcher Weisheit gab es überall die Magie des
Zauberers, ein Wissen, das sich in der Herrschaft über die
Dinge bewährte. Aber nur in den priesterlichen Kreisen
Alt-Babyloniens, unter welchen Einflüssen und in welchem
Umfange wissen wir nicht genau, erhob man sich zu einer
wissenschaftlicheren Betrachtung der Welt. Vom Wirrsal des
Erdendaseins wandte dort das Auge sich der himmlischen Ordnung
zu. Nicht wie der Hebräer, der über ein gewisses Staunen nicht
hinwegkam2 oder in den unzähligen Gestirnen nur ein Sinnbild
eigener Nachkommenschaft sah3, sondern ähnlich dem Griechen,
der das Viele und Mannigfaltige unter dem Monde erst verstehen
lernte, nachdem er in der Einheit und Stetigkeit der
Himmelsbewegung die Harmonie des Alls gefunden hatte. Nur dass
sich mit dem Guten, wie es denn im Hellenismus nicht anders
war, viel mythologisches Spiel und astrologisches Afterwissen
verschlangen.
Diese chaldäische Weisheit wurde in Babylonien und Syrien
seit den Tagen Alexanders des Großen mit hellenistischen,
später mit hellenistisch-christlichen Ideen durchsetzt oder
davon verdrängt. Nur in der syrischen Stadt Harran hielt sich
bis in die Zeit des Islam das alte Heidentum, von christlichen
Einflüssen wenig berührt. (Vgl. I, 3 § 4.) [15]
2. Bedeutender als etwaige semitische Überlieferung war es,
was dem Islam von persischer und indischer Weisheit zugeführt
wurde. Auf die Frage, ob die orientalische Weisheit von
griechischer Philosophie, oder diese von jener ursprünglich
beeinflusst sei, brauchen wir hier nicht einzugehen. Was der
Islam graden Weges Persern und Indern entnommen hat, lässt
sich aus den arabischen Quellen mit ziemlicher Sicherheit
ersehen, und auf dieses dürfen wir uns beschränken.
Persien ist das Land des Dualismus, und es ist nicht
unwahrscheinlich, dass seine dualistische Religionslehre, sei
es direkt, sei es durch Vermittelung des Manichäismus oder
anderer gnostischer Sekten, auf die theologischen
Streitigkeiten im Islam eingewirkt habe. Viel größer aber ist
in weltlichen Kreisen der Einfluss desjenigen Systems gewesen,
das der Überlieferung nach unter dem Sasaniden Jezdegerd II.
(438/9–457) sogar zur öffentlichen Anerkennung kam, des
Zrwanismus (vgl. III, 1 § 6). In diesem System war die
dualistische Weltansicht dadurch aufgehoben, dass als oberstes
Prinzip die endlose Zeit (zrwan, arab. dahr) aufgestellt und
mit dem Geschick, der äußersten Himmelssphäre oder der
Bewegung des Himmels identifiziert wurde. Diese Lehre, die
philosophischen Köpfen zusagte, hat sich, mit oder ohne die
Maske des Islam, in der persischen Litteratur und bis auf
unsere Zeit in den volkstümlichen Anschauungen einen großen
Platz zu erhalten gewusst. Von den Theologen aber und nicht
weniger von der idealistischen Schulphilosophie wurde sie als
Materialismus, Atheismus u. s. w. abgewiesen.
3. Als das wahre Land der Weisheit galt Indien. Vielfach
findet sich bei den arabischen Schriftstellern die Anschauung,
dort sei die Geburtsstätte der Philosophie zu finden. Durch
friedlichen Handelsverkehr, dessen Vermittler zwischen Indien
und dem Abendlande hauptsächlich Perser waren, dann infolge
der muslimischen Eroberung [16]verbreitete sich die Kenntnis
indischer Weisheit. Unter Mansur (754–775) und Harun (786–809)
wurde vieles davon, teils durch die Mittelstufe des Persischen
(Pahlawi) hindurch, teils direkt aus dem Sanskrit übersetzt.
Von der ethischen und politischen Spruchweisheit, aus Fabel
und Erzählung der Inder, ward manches herübergenommen, so die
von Ibn al-Moqaffa zu Mansurs Zeit aus dem Pahlawi übersetzten
Erzählungen des Pantschatantra u. A. An erster Stelle aber
wirkten indische Mathematik und Astrologie, letztere in
Verbindung mit praktischer Medizin und Zauberkunst, auf die
Anfänge der Weltweisheit im Islam. Die Astrologie des
Siddhanta von Brahmagupta, unter Mansur mit Hilfe indischer
Gelehrten von Fazari aus dem Sanskrit übersetzt, war noch vor
des Ptolemäus Almagest bekannt. Eine weite Welt, in
Vergangenheit und Zukunft, that sich da auf. Die hohen Zahlen,
mit denen der Inder operierte, erzeugten auf die nüchternen
muslimischen Annalisten einen gewaltigen, verwirrenden
Eindruck, wie andererseits der arabische Kaufmann, der in
Indien und China das Alter unserer erschaffenen Welt auf
einige Tausend Jahre ansetzte, sich im höchsten Grade
lächerlich machte.
Auch die logischen und metaphysischen Spekulationen der
Inder sind den Muslimen nicht unbekannt geblieben, aber viel
weniger als Mathematik und Astrologie haben diese die
wissenschaftliche Entwicklung beeinflusst. Die Grübeleien der
Inder, an ihre heiligen Bücher anknüpfend und durchaus
religiös bestimmt, haben gewiss auf persisches Sufitum und
islamische Mystik nachhaltig eingewirkt. Aber Philosophie ist
nun einmal ein griechischer Begriff und es geht nicht an,
einem Tagesgeschmack zu liebe, in unserer Darstellung den
Kuhmilchgedanken frommer Inder allzuviel Platz einzuräumen.
Was jene sinnigen Büßer über den täuschenden Schein alles
Sinnlichen vorgebracht haben, mag oft einen poetischen Reiz
besitzen, stimmt auch wohl zu dem, was dem Osten aus
neupythagoreischen und neuplatonischen [17]Quellen an
Betrachtungen über die Vergänglichkeit alles Irdischen
zugänglich war, hat aber, ebensowenig wie dieses, etwas
Erhebliches zur Erklärung der Erscheinungen, zur Erweckung
wissenschaftlichen Sinnes beigetragen. Nicht indischer
Phantasie, sondern griechischen Geistes bedurfte es dazu, das
Nachdenken auf die Erkenntnis des Wirklichen zu richten. Das
beste Beispiel dafür ist die arabische Mathematik. Nach dem
Urteile ihrer besten Kenner ist indisch darin fast nur die
Rechenkunst, griechisch, wenn auch nicht ausschließlich, doch
vorwiegend, die Algebra und die Geometrie. Zum Begriffe reiner
Mathematik ist wohl kaum ein Inder durchgedrungen. Die Zahl,
auch die höchste, blieb doch immer eine konkrete. Und in der
indischen Philosophie blieb das Wissen überhaupt ein Mittel.
Zweck war die Erlösung vom Übel des Daseins, die Philosophie
Anleitung zum seligen Leben. Daher die Monotonie dieser auf
das einheitliche Wesen aller Dinge gerichteten Weisheit, der
gegenüber die reichgegliederte Wissenschaft der Hellenen die
Wirkungen der Natur und des Geistes allseitig zu erfassen
bestrebt war.
Orientalische Weisheit, Astrologie und Kosmologie, hat den
muslimischen Denkern mancherlei Stoff geliefert, aber die
Form, das bildende Prinzip, kam ihnen von den Griechen her.
Überall, wo es sich nicht um bloßes Aufzählen oder zufälliges
Zusammenreihen handelt, sondern nach sachlichen oder logischen
Gesichtspunkten eine Anordnung des Mannigfaltigen versucht
wird, darf mit Wahrscheinlichkeit auf griechischen Einfluss
geschlossen werden.