Divan der persischen Poesie
Divan der persischen Poesie

Blütenlese aus der persischen Poesie, mit einer litterarhistorischen Einleitung, biographischen Notizen und erläuternden Anmerkungen.

Herausgegeben von Julius Hart.

1887 n.Chr.

Inhaltsverzeichnis

Divan der persischen Poesie

Sadi

Aus dem Bostan. Neunte Abteilung: Von der Bekehrung.

Der tote Feind

Zwei Männer lebten einst in Haß und Streit,
Wie Tiger stolz das Haupt und kampfbereit;
So scheute jeder, daß den Feind er schaue,
Zu eng war's ihnen unterm Himmelsbaue.
Den einen traf aufs Haupt des Todes Schlag,
Und unter ging des Lebens schöner Tag.
Das Herz des Feindes war erfreut darüber.
Nach ein'ger Zeit ging er am Grab vorüber.
Die Lagerstatt sah er mit Lehm verschmiert,
Statt daß die Wohnung einst mit Gold verziert.
Ihn trieb der Haß, daß mit gewalt'gen Händen
Ein Brett er wegriß, um das Grab zu schänden.
Da sah das stolze Haupt er tiefgebückt,
Voll Staub das Auge, das so weit geblickt,
Den Leib im Grabeskerker hin zum Preise
Dem Wurm geworfen, der Ameisen Speise,
Den Vollmond des Gesichts, wie Neumonds Spur,
Ein Strohhalm der Gestalt Cypresse nur,
Der kräft'gen Hand, der Faust mit mächt'gem Schlage
Gelöst die Sehnen durch die Macht der Tage.
So sehr ergriff sein Herz das Mitleid dann,
Daß auf den Staub ein Strom von Thränen rann;
Mit Reu' erfüllt ihn sein gehäss'ges Treiben,
Und auf den Stein des Grabes ließ er schreiben:
»Sei nicht ob eines Menschen Tod erfreut,
Denn lange bleibt nach ihm für dich nicht Zeit.«

Karl Heinrich Graf

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