Der Maßstab der modernen Theologie
Worin besteht das "Moderne" in der Theologie? Wir wollen
nicht über den Begriff streiten, sondern nur einen Vorschlag
machen: Wenn sich der Maßstab "das Moderne gegenüber dem
Früheren" oder "der Modernismus gegenüber der Tradition" auf
die Zeit bezieht, kann es sein, dass es in naher oder ferner
Zukunft eine "modernere" Theologie geben wird. Bis wann, bis
zu welcher Periode, bis zu welchem Jahr nennen wir sie
"modern"? Wenn der Maßstab fur das "Modern-Sein" drei andere
Komponenten sein sollte: neue Inhalte, neue Grundlagen, neue
Methoden, dann kann man nie sicher gehen, ob es nicht in der
Zukunft neue Fragen, neue Grundlagen und neue Methoden geben
kann, die dann mit "postmodern" bezeichnet wurden. Dies ist
neu, jenes wird neu, anderes ist alt. Dies wird keine gute
Grundlage sein. Angemessener wäre es, den Weg der Großen in
der islamischen Rechtslehre (fiqh) und den Grundlagen zu
beschreiten. Sie wissen, dass in der Rechtslehre nicht nur
verschiedene Lehrmeinungen zwischen den herausragenden
Persönlichkeiten und der Masse der Gelehrten existieren, was
die Fundamente, Grundlagen und allgemeinen Regeln betrifft,
sondern auch was die Auswahl der Quellen angeht. Wenn Sie eine
rechtliche Abhandlung verfassen wollen, führen sie eine
rechtliche Frage auf eine Grundlage, ein Gesetz und
Fundament zurück (asl).
Wenn man Sie fragt: Woher haben Sie diese Grundlagen
genommen, sagen Sie: ich habe sie den Quellen entnommen. Ihre
Quellen jedoch sind: Der Koran, die Sunna, die Ratio und der
Konsens (der Gelehrten). Weil der Konsens jedoch in den
Bereich der Sunna fällt, stellt er keine eigene Quelle dar.
Also kann man die Quellen der Rechtsfindung in drei Bereiche
unterteilen: die Ratio, die Sunna und den Koran.
Die unterschiedlichen Lehrmeinungen der ersten
Rechtsgelehrten (Spitze der Rechtsgelehrten) und ihrer
Nachfahren beziehen sich nicht nur auf die verschiedenen
Fragen, sondern auch auf die Grundlagen und hier wiederum
bestehen die Meinungsverschiedenheiten nicht nur in den
Grundlagen, sondern auch in den Quellen. Es ist nicht nur so,
dass die Vorgänger viele Fragen nicht erörtert haben, sie
setzten in ihren Methoden die Grundlagen (asl/usul) und die
Indizien (amara) auf eine Stufe und verliehen beiden
Beweiskraft. Große "Fundamentaltheologen" wie der verstorbene
Scheich und Autor des "Kifaya" und andere sagten: Es ist
nicht zu bezweifeln, dass Grundlagen und Indizien nicht gleich
sind. Warum erwähnt ihr Grundlagen und Indizien nebeneinander?
Sie trennten diese Dinge voneinander.
In den Quellen gelangte einer zu der Überzeugung, dass der
ehrwürdige Koran - möge Gott dies verhüten - verändert wurde
und lehnte ihn als Quelle der Rechtsfindung ab. Einer wie Ibn
Idris war überzeugt, dass eine Tradition, die nur von einem
glaubwürdigen Überlieferer verzeichnet wurde (habar wahid),
keine Autorität besitzt. Er akzeptierte eine solch wichtige
Quelle nicht. Außerdem erkannte er die Ratio, die eine reiche
und starke Quelle darstellt, nicht als solche an. Also gibt es
in der islamischen Rechtslehre sowohl in den Quellen als auch
in den Grundlagen und den Nebenzweigen
Meinungsverschiedenheiten. Niemand von den Gelehrten sagte
jedoch, dass es eine alte, eine moderne oder eine postmoderne
Theologie gäbe. Sie unterteilten nur die Rechtsgelehrten in
die Frühesten, die Früheren, die Zeitgenössischen und die
"Zeitgenossen unter den Zeitgenossen". Rechtslehre ist
Rechtslehre und bleibt es auch. Vergleichen Sie die Grundlagen
des Scheichs - Wohlgefallen Gottes auf ihm - mit denen des
Scheich Tusi. Sie werden große Unterschiede finden. Wenn ich
auf dem Kongress zum Gedenken des Scheich Mufid vorgeschlagen
habe, man müsse ihn an den Theologischen Hochschulen als den
ersten Lehrer der Theologie vorstellen, warum habe ich das
getan? Weil er Bücher geschrieben hat? Nein! Das ist nicht
wichtig. Er vermittelte die Themen so ausführlich, dass er in
den Schulen alle Strömungen unter seinen Einfluss bringen
konnte. Er war die Autorität (der Herr). So war Scheich Mufid.
Schiiten wie Sunniten, Gelehrte von außen wie von innen
brachten ihm Respekt entgegen. Nicht nur Sayyid Murtaza und
Scheich Tusi verneigten sich vor ihm sondern sogar Fuzuli, ein
sunnitischer Gelehrter akzeptierte seine Autorität, und das
nicht nur in der Rechtslehre, sondern sogar in der
spekulativen Theologie. Ein solch namhafter Gelehrter, der die
Gegner am Ende in die Knie zwang, ist der erste Lehrer der
Theologie.
Scheich Tusi (Gott erbarme sich seiner) gelangte zu einer
Einsicht, die ihn in unseren Augen noch größer erscheinen
lässt. Scheich Mufid (möge Gott ihm vergeben) schrieb ein Werk
namens "Maqnaa", in dessen erstem Teil er sich mit
spekulativer Theologie und in dessen zweitem Teil er sich mit
Rechtslehre auseinandersetzt. Scheich Tusi sagte bezüglich
dieses Werkes: "Den ersten Teil, der von der Theologie
handelt, zu kommentieren, ist äußerst schwer. Ich werde nicht
die nötige Zeit dazu haben." Er kommentierte den Teil über
Rechtslehre, den er zu einem Buch machte, das er "tahzib"nannte.
Er hatte Recht. Schauen Sie sich einmal den theologischen Teil
des "Maqnaa" an. Scheich Mufid spricht hier mit
undurchdringlicher Autorität. Scheich Tusi gestand sich dies
ein und sagte. "Wenn ich den theologischen Teil kommentieren
sollte, würde die Zeit nicht ausreichen." Deshalb begann er
mit dem Kommentar des rechtlichen Teils. Das Ergebnis dieser
Arbeit ist genau dieses Buch tazhîb, das zu unseren vier
Hauptquellen gehört. Es steht irgendwo im "Schawàriq" - ich
weiß nicht mehr wo - , dass man die Rechtsgelehrten zeitlich
unterteilt und nicht die Rechtslehre selbst. Es empfiehlt sich
mit der Theologie auch so zu verfahren. Theologie ist
Theologie, nur ihre Fragen und Themen andern sich. Eine ganze
Generation (von Gelehrten) - mit Ausnahme Muhammad Baschrawîs
und seiner Schüler - blieb lange Jahre bei dem Urteil, dass
Brunnenwasser rituell unrein (nadschis) sei und der Reinigung
bedürfe bzw. dass dessen Reinigung obligatorisch (wadschib) sei.
Später wurde diese Entscheidung völlig umgekehrt. All dies ist
doch keine neue Rechtslehre, obwohl es eine tiefe Veränderung
war.