Scheindialoge
Die hier explizit ausgeführten Anforderungen scheinen kaum
in der Praxis bewusst berücksichtigt zu werden.
Erfahrungsgemäß handelt es sich oft um eine belastende
Atmosphäre, worunter die religiösen Zwiegespräche leiden. Das
liegt daran, dass sie von Motivationen getragen werden, wofür
der Ausdruck Dialog lediglich als ein legitimierendes
Instrumentarium verwendet wird. Man hat es somit mit
Scheindialogen zu tun.
Es sind die Fälle, wo von vorneherein eine gegenseitige
Skepsis unter den am Dialog Beteiligten herrscht:
- die Fälle, wo eine negative Einschätzung des Glaubens des
Partners Ansatz für Fragestellungen liefert;
- die Fälle, wo die Überheblichkeit, bezogen auf die eigene
Sache, von vornherein die Wahrnehmung des Partners und seiner
Überzeugung unmöglich macht;
- die Fälle, wo die Geringschätzung des Partners nie
zulässt, von ihm etwas Positives zu lernen;
- die Fälle, wo die Gespräche dazu dienen sollen, die
bereits bestehenden Voreingenommenheiten und Vorurteile zu
bestätigen; ganz besonders durch die Engpässe, die man dem
Partner in den Weg stellt.
- die Fälle, wie die als negativ zu bewertenden
Erscheinungen (Gewalt, Frau) im Überzeugungsbereich des
Partners zum Dialogausgangspunkt gewählt werden;
- die Fälle, wo das Festhalten an den herkömmlichen
Feindbildern die Sicht für die Aufarbeitung der Vergangenheit
zugunsten einer hoffnungsvollen Gegenwart und Zukunft sperrt;
- die Fälle, wo die Absicht besteht, den Gesprächspartner
auf die Anklagebank zu setzen und ihn zu verurteilen, um sich
auf seine Kosten zu profilieren;
- die Fälle, wo die Gesprächspartner nicht bereit sind,
selbstkritisch über die eigene Religion, über die eigene
Religionsgemeinschaft und über die Entwicklung der eigenen
Geschichte zu reflektieren;
- die Fälle, wo die versteckten Absichten wie zum Beispiel
Missionierungsgedanken die Gespräche tragen, bei denen de
facto der Dialog als ein apologetisches Werkzeug unter
Anwendung aller missionarischer Künste (latente Diffamierung
der Religion des Partners und unauffällige Hervorhebung der
Vorzüge der eigenen Überzeugung) benutzt wird; und schließlich
die Fälle, wo extreme Gründe, wie aktuelle politische Anlässe
– und diese beherrschen leider heute sogar die Dialogszene der
Gesprächspartner – seit der islamischen Revolution im Iran und
ganz besonders im Zusammenhang mit dem Golfkrieg – eine
Dialogveranstaltung nach der anderen heraufbeschwören lassen,
bei denen der Dialog bestimmte aktuelle Erscheinungen aus dem
Kontext der Lehre, der Geschichte und dem Überzeugungsfeld
herausgreift und ein wahrlich verzerrtes und zu verurteilendes
Bild von der Religion und der Kultur des anderen (das
geschieht besonders zum Nachteil des Islam) konstruiert. Der
Dialog wird lediglich als ein politisches Mittel zur
Herabwürdigung des Partners missbraucht, und die
Dialogveranstalter als bewusste oder unbewusste Mitläufer der
unberechenbaren Politik eingesetzt.
Dialogthemen sind in solchen Fällen Schlagwörter, die im
Zuge der langwierigen politischen Auseinandersetzungen
zwischen dem Westen und den orientalischen, insbesondere den
muslimischen Ländern entstanden sind und nie aufhören werden
zu entstehen, solange es herrschende und beherrschte Länder
gibt. Bei den Schlagwörtern, so alt ihre Ursprünge auch sein
mögen und so unterschiedlich sie auch formuliert werden,
handelt es sich um ein und dasselbe Ziel. Sie sollen stets
eine Gefahr, eine mysteriöse Gefahr für den Westen
signalisieren, um das Spannungsfeld zwischen den beherrschten
und herrschenden Ländern anzuheizen, um dementsprechende
Aktionen und Unternehmungen vor der Weltöffentlichkeit zu
legitimieren.
Wir wissen alle, dass unser Leben heute mehr als je zuvor
von einer gewissen Politik vorgeplant und durch die Medien
programmiert wird. Es ist eine Gewissensfrage, ob die für den
christlichen und islamischen Glauben Verantwortlichen sich in
diesen Strudel hineinziehen lassen dürfen. Sollten wir zusehen
– und sogar mitmachen -, dass die Religion mit allen neuen
technologischen Mitteln ein neues verfeinertes Instrument zur
Erreichung eines skrupellosen und politischen Eigennutzes
diffamiert wird?
Wäre der Gott der Bibel und der Gott des Korans als Gott
der Armen und Unterdrückten mit uns, die im Namen dieser
Religion operieren, einverstanden? Ich weiß es nicht. Das ist
eine Mahnung, die ich in erster Linie an mich und an sie alle
richte. Wenn ich hier ausführlicher auf dieses Phänomen
eingehe, so liegt es einfach in der Tatsache, dass ich kaum in
den letzten Jahren, ganz besonders nach dem Untergang der
UdSSR, ein Gespräch erlebt habe, bei dem dieser extreme
Anlass, der weltpolitische, nicht dominierend gewesen ist. Das
zerschlägt alle Friedenshoffnung mittels der Religionen und
widerspricht ganz und gar dem Thema unserer Veranstaltung. Es
bleibt in solchen Fällen kein Platz dafür, über die
Hermeneutik der Religionen nachzudenken.
Es geht hier nicht - und kann auch nicht - darum, die
Scheindialoge zu verurteilen und sie zu unterbinden. Hier geht
es um Hermeneutik des Dialogs. Das kann nur erreicht werden,
wenn von vorneherein klargestellt ist, was und mit welcher
latenten oder offenen Zielsetzung unter dem Deckmantel des
Dialoges verfolgt wird.
Dialog im oben genannten Sinne und unter der geschilderten
Rahmenbedingung soll heute die Anhänger verschiedener
Religionen in die Lage versetzen können, je in seinem eigenen
Glauben ein neues Identitätsbewusstsein zu erlangen. Auch die
Theologie kann daraus profitieren. Diese - ob christlich oder
islamisch - basierte bislang in der Hauptsache auf
apologetischen Grundlagen: auf dem Negativen bei dem Anderen
und auf dem Positiven bei sich. Eine neue Ära der Theologie
kann - und soll - jeweils auf der Grundlage des
Selbstverständnisses des anderen eingeleitet werden. Es lässt
sich vorausahnen, wie viele neue Ansätze, Anregungen, Thesen,
Theorien und sogar im nachhinein neue Interpretationen eigener
Religionsgeschichte daraus hervorgehen können; eine
gegenseitige positive Befruchtung ist die kleinste Folge
daraus.