III. Pluralismus von Verhaltensweisen
v. Strietencron:
Wir können nun über Divergenzen und Konflikte sprechen, die
sich aus religiös bestimmten Verhaltensweisen ergeben, wenn
Menschen unterschiedlichen Glaubensbekenntnisses in einer
Gesellschaft zusammenleben. Gewöhnlich ist in der Region eine
dieser Religionen dominant; sie ist nicht nur die Religion der
Mehrheit der Bevölkerung, sondern bestimmt auch die gesamte
Kultur. Die von ihr gesetzten Werte und die daraus
abgeleiteten Normen schlagen sich nieder in Menschenbild,
Sozialordnung und Recht, in Literatur und Kunst und eben auch
in tausend Einzelheiten alltäglichen Verhaltens. Die sozial
und kulturell in bestimmter Weise geprägte Mehrheit des Volkes
reagiert empfindlich oder aggressiv, wenn sich eine
eingewanderte religionsfremde Minderheit den
gesellschaftlichen Verhaltensnormen nicht anpasst, wenn sie
sich absetzt, dadurch auffällt und stört. Es ist ja
charakteristisch für Normen, dass man ihnen allgemeine
Gültigkeit zuschreibt, dass sich jeder daran halten soll. Das
gilt auch für den Fremden, wenn er nicht nur durchreist. Die
religiösen Minderheiten hingegen, deren Verhalten sich an
anderen Werten, anderen Normen und einem anderen kulturellen
Hintergrund orientiert, sind nicht bereit, sich in allen
Punkten anzupassen. Sie wollen ihre Identität bewahren und
dies auch oft äußerlich durch Haartracht und Kopfbedeckung,
durch Kleidung und Verhalten demonstrieren. Es sind nicht nur
andere Religionen, sondern auch andere Kulturen, die hier in
die vorhandene Gesellschaft integriert werden wollen. Das
gilt, wenn Muslime oder Juden unter Christen leben, es gilt
auch, wenn Christen unter Muslimen oder Buddhisten oder
Konfuzianern leben. An der Andersartigkeit schärft sich das
Identitätsbewusstsein. Das führt bekanntlich dazu, dass
religiöse Minderheiten ihre Traditionen meist viel strikter
bewahren als ihre Glaubensgenossen im Herkunftsland, für die
historischer Wandel nicht so offensichtlich mit
Identitätsverlust verknüpft ist. Hier geht es also um
Verhaltensweisen, die sich mit Religion in fremder Kultur
verbinden, und zwar sowohl bei der religiösen Minderheit, als
auch bei der Mehrheit.
Moltmann:
Ich habe diesbezüglich zunächst eine kleine Testfrage an
die Bejahung der Pluralität und des Universalismus: Wie gehen
die Religionsgemeinschaften mit den Menschen um, die zu einer
anderen Religion übergegangen sind? Sind das Apostaten? Oder
wird es anerkannt als der Übergang zu einem anderen Weg, zu
einer anderen Wahrheit?
Unter den Voraussetzungen für den interreligiösen Dialog
ist der Umgang der Religionsgemeinschaften mit denen, die zu
einer anderen Religion übergehen, wichtig. Bisher waren das
meist Apostaten, die verurteilt wurden. So wurden die
Protestanten im Tridentinum verurteilt, und das wurde nicht
zurückgenommen, und so wurden auch die Läufer in der Confessio
Augustana verurteilt. Auch andere Religionsgemeinschaften
haben die Übergetretenen als Apostaten angesehen. Solange das
so bleibt, ist es mit dem interreligiösen Dialog schwierig.
Ich hatte eigentlich vor zu fragen - Herrn Falaturi und auch
die anderen hier - wie man in Ihren Religionsgemeinschaften
mit solchen umgeht, die zu einer anderen Religion übertreten.
Oder gibt es Religionen, bei denen man überhaupt nicht zu
einer anderen Religion übertreten darf?
Falaturi:
Die Frage ist direkt an den Islam gestellt, das weiß ich.
Sie haben das sehr geschickt gemacht, aber Ihre Frage gehört
zu den Standardfragen, die man an Muslime stellt: der Heilige
Krieg, Unterdrückung der Frauen, Hände abhacken, Apostasie.
Ja, ja, das sind ganz klare Fragen und Sie sind nicht der
erste und der letzte.
Ich sage dazu folgendes: Apostasie wird, worauf Sie auch
mit Recht hinweisen, in fast allen islamischen Rechtsschulen
mit harter Strafe belegt, und die Frage wird heute immer
wieder neu gestellt. Ich kann auf eine Antwort der Arabischen
Liga im Zusammenhang mit Menschenrechtstagungen, die einmal in
Paris und einmal in New York stattgefunden haben, hinweisen,
damit die Antwort nicht nur von mir ist. Die Antwort lautete:
Diese Anordnung ist einmal zur Zeit Muhammads ergangen und so
entstanden, ohne dass koranische Belege dafür vorhanden sind,
und zwar aus einem rein gesellschaftlichen Grunde, weil
scharenweise Araber kamen, die den Islam mit dem
Hintergedanken annahmen, aus dem Islam wieder auszutreten und
die Leute um Muhammad zu verunsichern. Das kann man historisch
wirklich belegen. Wer diese Gruppen waren, kann man heute
nicht mehr genau feststellen, obwohl manche Historiker meinen,
dies zu können. Aber das ist der Grund gewesen, und wenn
dieser Grund nicht mehr vorhanden ist, wie heute, so hat die
arabische Liga gesagt, kann man dieses Urteil nicht mehr
aufrecht halten. Sind Sie jetzt beruhigt? Aber ich möchte
meinerseits hinzufügen: Bitte schauen Sie sich die Realitäten
in den islamischen Ländern an. Wie viele Menschen sind dort
nach dem Zweiten Weltkrieg, vor allen Dingen im Namen des
Kommunismus, Atheisten geworden! Ich möchte wissen, ob jemand
gehört hätte, dass in einem islamischen Land jemand
hingerichtet worden wäre, weil er als Kommunist zum Atheismus
gekommen und damit aus dem Islam ausgetreten ist. Es gibt
keinen. Das bedeutet, dass die Verhängung der Todesstrafe für
Apostasie in der Vergangenheit keineswegs so häufig gewesen
ist. In der Geschichte allerdings kam es oft vor, dass
Politiker auf diese Weise ihre Gegner ausschalten wollten und
konnten.
Falaturi:
Beim Judentum handelt es sich historisch gesehen natürlich
um eine Minderheit, die nicht nur angegriffen wurde, sondern
zum Teil aus theologischen Gründen von den Christen zur wahren
Religion gezwungen werden sollte. So kam es dazu, dass Juden
zum Christentum übertraten, wo sie sich dann in Disputationen
gegen die Juden betätigten um zu zeigen, wie falsch das
Judentum war. Das verursachte natürlich anderen Juden großen
Schmerz, und die meisten Juden reagierten mit Verachtung gegen
solche Konvertiten. Wenn wir uns aber etwa die Verhältnisse im
Spanien des 15. Jahrhunderts anschauen, so ist klar, dass die
Konversionen erzwungen wurden. Wenn dann ein zum Christentum
konvertierter Jude aus Spanien auswanderte und z.B. in Holland
wieder mit einer jüdischen Gemeinde Kontakt aufnahm, wurde er
sofort wieder in die Gemeinde hineingenommen und anerkannt.
Man berief sich darauf, dass im Judentum in den Lehren und
Gesetzen der Rabbiner das Wort gilt, dass niemand angeklagt
werden konnte, wenn er einst aus dem Judentum ausgetreten sei;
wenn er wieder zurückkäme, würde er sofort wieder angenommen.
Wenn man weiter daran denkt, wie viele Menschen in der
Sowjetunion ihr Judentum verschwiegen oder die Bräuche nicht
gepflegt haben, weil dies Repressalien in ihrem Alltag
bedeutet hätte, so gibt es von anderen Juden keine Kritik. Das
wird einfach verstanden. Eigentlich war es nach den Gesetzen
auch möglich, dass man konvertieren konnte, um sein Leben zu
retten - nur Rabbiner nicht, denn die mussten Zeugen für die
anderen sein, so dass ihr Übertritt zu einer anderen Religion
der gesamten Gemeinde geschadet hätte. Es gab immer
Anerkennung der Umstände, sich von dem Judentum zu trennen und
auch wieder zum Judentum zurückzukehren. Und genauso gibt es
keine Mission innerhalb des Judentums. Viele Christen, die zum
Teil zum Judentum aus sozialen Gründen konvertieren und ohne
Schwierigkeiten angenommen werden, würde man nicht mit Zorn
verfolgen, wenn sie sich vom Judentum wieder abwenden wollten.
von Brück:
Wir gebrauchen hier den Religionsbegriff in verschiedener
Weise, und um das zu klären, möchte ich anknüpfen an das, was
Sie vorhin sagten, Herr Falaturi. Sie sagten, Sie hätten
aufgrund Ihres Dialoges mit den Christen den Islam besser
erkannt. Was genau haben Sie da erkannt? Und was heißt hier
„Islam"? Das trifft im übrigen genauso auf das Christentum zu.
Ich könnte von mir auch sagen, ich habe das Christentum für
mich durch den Dialog mit anderen Religionen viel besser
erkannt. Klar und deutlich ist aber, und das wurde bei Ihnen
auch deutlich mit Ihrem Verweis auf die historische
Relativierung eines bestimmten Gesetzes, dass dieses Erkennen
mich auch von der eigenen Gemeinschaft, der ich mich zugehörig
zähle, entfernen kann. Möglicherweise erkenne ich dann den
Islam oder das Christentum anders als die Gruppe oder
Gesellschaft, in der ich religiös beheimatet bin. Eventuell
bekommt hier also der Sozialisierungsprozess, der mit Religion
ja auch verbunden ist, einen Riss. Ich habe zwar - und diese
verschiedenen Ebenen hat Religion - in meiner eigenen
Verwirklichung von Wahrheit, religiösem Wert, angeleitet durch
die Tradition, in der ich stehe und in der Begegnung mit
anderen, einen Erkenntnis-, Lebens- und Motivationsgewinn
bekommen, gleichzeitig aber unter Umständen einen Verlust an
Akzeptanz in meiner sozial-religiösen Gruppe erlitten. Wir
können auf der einen Seite sagen: Alles hängt an der religiös
begründeten persönlichen Motivation. Aber das ist nur die eine
Ebene. Auf der anderen Ebene - und das ist die Tragik in der
Geschichte der Religionen - sind religiöse Gruppen oder ganze
Konfessionen oder Religionen eben auch dazu da, dass sich
Menschen mit ihnen identifizieren, auch ihre Projektionen
darauf werfen. Solche Phänomene werden dann unter Umständen
auch von einer machtpolitisch interessierten Gruppe
ausgenutzt. Dadurch kommt der Kreislauf von Identifikation,
Abgrenzung, Hass, Selbstbestätigung und Gewalt zustande. Wie
ein Zirkel, der sich in sich selbst schließen kann, und von
dem ja die Geschichte unserer Religionen ganz stark geprägt
ist. Ich glaube, dies sind zwei Gesichtspunkte, die zwar
miteinander zusammenhängen aber keineswegs identisch sind.
Falaturi:
Vielleicht kurz zu Ihrer ersten Bemerkung. Was habe ich
gelernt durch Gespräche mit den Christen? Erstens habe ich
versucht zu verstehen, wie die Christen sich selbst verstehen,
und aus diesem Verständnis heraus habe ich es erst verstanden,
wie weit der Islam nicht Christentum sein kann. Ich habe mich
nicht von meiner Gemeinschaft getrennt oder entfernt. Im
Gegenteil, ich bin zu der Überzeugung gekommen, dass wir mit
dem Christentum und dem Islam zwei verschiedene
Religionssysteme haben. Und solange die Christen das
islamische System nicht begreifen und umgekehrt, reden die
beiden aneinander vorbei. Das habe ich von den Christen
gelernt. Die Ursachen für die Verschiedenheit liegen in den
Unterschiedlichkeiten der Christologie. Die islamische
Christologie ist ganz anders als die christliche Christologie,
und jede ist in sich konsequent. Das ist ja das Interessante.
Deswegen soll jeder seine behalten. Der Christ kann seine
Christologie nicht aufgeben und die islamische annehmen, dann
hätte er sein Christentum aufgegeben. Auch der Muslim kann die
christliche Christologie nicht annehmen, sonst ist der Koran
hinfällig. Und das ist es, was ich an Einsicht gewonnen habe
und worauf ich weitere Werte aufgebaut habe. Wenn ich dies
unter Muslimen erzähle, wird es mit Verwunderung aufgenommen.
Und so lege ich den Muslimen immer nahe: Lernt, was die
Christen überhaupt meinen und wie sie sich verstehen. Denn
das, was man in islamischer Tradition vom Christentum weiß und
womit man es bewenden lässt - die Christen haben Jesus als
Gottes Sohn oder fleischgewordenen Gott, und das ist falsch -
das ist zu wenig. Das bringt überhaupt nicht die Möglichkeit,
miteinander zu reden. Ich bin sehr froh, dass ich von den
Christen gelernt habe, wie sie denken, und dann habe ich
deutlicher gesehen, wie der Islam denkt.
v. Strietencron:
Vielleicht sollte man auch unterscheiden zwischen
unterschiedlichen Sozialisierungen innerhalb der Religionen.
Da gibt es ja Religionen, welche gemeindebildend sind und in
denen sich das religiöse Verhalten in der Gemeinde vollzieht;
und andere, die viel stärker individualistisch orientiert sind
und in denen sich das religiöse Verhalten im einzelnen, in der
einzelnen Familie realisiert. Diese haben dann natürlich auch
unterschiedlich gesellschaftsformende Funktionen. Diejenigen,
die stärker gemeindebildend sind, üben auch einen größeren
Druck auf gemeinsames Verhalten aus und bringen eine
Gesellschaft hervor, die möglichst gleichförmig ist und bei
der abweichendes Verhalten auch als größere Sünde oder
größerer Affront gewertet wird. Um ein Beispiel zu geben: In
Indien, das in weiten Teilen keine gemeinschaftsbildende
Religiosität, sondern eine auf das Individuum orientierte
Religiosität hat, sind die Normen des Verhaltens weniger
einheitlich. Es ist ein größerer Pluralismus da. Natürlich
besteht für jede einzelne Gruppe eine Normierung, aber die
Religion hat von vorneherein unterschiedliche mögliche
Verhaltensweisen vorgesehen. So ist beispielsweise für eine
bestimmte Gruppe der Vegetarismus vorgeschrieben und
notwendig, aber für die anderen keineswegs. Und ob einer in
den Tempel geht oder nicht, ist ziemlich irrelevant. Bei uns
hingegen hat es eine Zeit gegeben, da eine Familie oder ein
Mitglied einer Familie, das am Sonntagmorgen nicht in die
Kirche ging, als abwesend auffiel. Solche und ähnliche
Unterschiede drücken sich in allem aus: in der Kleidung, im
täglichen Verhalten, in den Umgangsformen usw. Wir haben also
unterschiedliche Typen von Religionen. Wenn wir sie
vergleichen oder wenn wir uns jetzt auch in Dialogen damit
befassen, dann sollten wir vielleicht Gleiches mit Gleichem,
gleiche Typen mit gleichen Typen in Verbindung bringen.
Daneben gibt es natürlich die Möglichkeit, mit ganz
unterschiedlichen Grundtypen in Beziehung zu treten, wie Herr
Moltmann vorhin sagte, beispielsweise mit bestimmten
Naturreligionen. Man bestaunt das ganz andere, das man dann
vor sich hat. Vielleicht kommt man nicht in einen
Gesprächsdialog mit ihnen, wie Herr Yagi vorhin in bezug auf
den Schintoismus beklagte. Wohl aber berührt einen das ganz
andere, sozusagen als Selbstaussage, die neue Perspektiven
eröffnet.
Falaturi:
Darf ich eine Frage an die Christen richten? Wer ist heute
ein Christ? Denn wenn jemand einst sagte, ich bin Christ, dann
war das schon ein Wort der Überzeugung und eine
Glaubensaussage. Man nahm an Gottesdiensten usw. teil.
Heutzutage ist es mehr eine Beschreibung, dass er sich in der
Church of England eingeschrieben hat, aber das heißt nicht,
dass er mehr wäre als ein „sozialer Christ". Umgekehrt kenne
ich christliche Nonnen, die jetzt in modischen Kleidern
herumgehen und kaum als Nonnen identifizierbar sind. Und
trotzdem finde ich bei ihnen einen tiefen ernsten Glauben,
besonders, weil sie sich mehr dem Dialog stellen. Ich meine z.
B. die Zionsschwestern. Aber trotzdem: Wenn Sie sagen, man
identifiziert sich innerhalb einer Gesellschaft, einer
Gemeinschaft, was ist dann im Westen heute eigentlich eine
christliche Gemeinschaft?
Moltmann:
Die Antwort ist ja an sich einfach: Wer glaubt und getauft
wird, der ist ein Christ. Wir stehen aber in der westlichen
Gesellschaft in einer bestimmten Geschichte des Christentums,
und darum ist der Vergleich mit Religionen, die in anderen
Regionen oder in anderen Zeiten leben, nicht so ganz einfach.
Man muss das dann auch geschichtlich sehen. Wir haben eine
Geschichte der Trennung von Kirche und Staat hinter uns. Das
haben andere Religionen nicht in dem Maße durchgemacht wie wir
in der europäischen und amerikanischen Geschichte. Wir haben
weiter die Geschichte der Privatisierung der Religion:
Religion ist Privatsache, ist individuelles Menschenrecht,
man hat das Recht, sich für oder gegen eine Religion zu
entscheiden oder zu gar keiner. Das hat zu diesem Pluralismus
in den westlichen Gesellschaften geführt und auch zur
Pluralität der verschiedenen Gruppen, so dass diese alten
Gemeinschaftsreligionen - man gehört dazu, weil man in dieser
Stadt geboren ist - nicht mehr existiert. Unser Problem ist,
wie man christliche Identität in dieser pluralistischen,
liberalistischen Gesellschaft glaubhaft leben kann. Und darum
ist weniger der Streit mit anderen das Problem, sondern die
Auseinandersetzung mit diesem Pluralismus, der zur
Beliebigkeit führt. Wenn sich eine Religion darauf einlässt,
macht sie sich eigentlich selber überflüssig, jedenfalls zu
einem Gegenstand, den man nicht so besonders ernst nehmen
muss. Auf der anderen Seite gibt diese moderne liberale,
pluralistische Gesellschaft Freiheitsräume und persönliche
Verantwortung auf.
von Brück:
Auch andere Religionen sind heute durch ein neues
Verhältnis von Religion, Politik und Staat auf den Prüfstand
gestellt.
Dagyab:
Ich kann ein Beispiel geben. Momentan gibt es in Kaschmir
Unruhen, nicht nur im Tal von Srinagar zwischen Hindus und
Muslimen, sondern auch im buddhistischen Ladakh. Früher gab es
dort keine Buddhistische Partei, aber als zwischen der
islamischen und der buddhistischen Bevölkerung dieser
Unruhezustand politisch immer unerträglicher wurde, haben sie
eine Buddhistische Partei gegründet, was für uns unglaublich
zu hören ist. Das ist keineswegs eine richtige Konsequenz aus
den Lehren des Buddha, es ist ein politischer Akt und hat
nichts mit Buddhismus zu tun.
Auf der anderen Seite leben wir jetzt in einer modernen
Gesellschaft, wo sehr viele unterschiedliche soziale Ordnungen
und Glaubensformen zusammentreffen. Deshalb sollten wir
durchaus versuchen, die Präsentation der Religionen zu
modernisieren, so dass wir einander tolerieren können. Ich
kann nur von der buddhistischen Theorie her sprechen.
Natürlich hat der historische Buddha Sakyamuni seine Lehre
präzise dargelegt. Aber er hat auch sehr viel Freiheit
gelassen, so dass letztendlich Entscheidendes mit logischen
Argumenten vereinbart werden kann. Seine Aussage ist nicht das
letzte Wort, sondern das letzte Wort hat die jeweilige
Situation. Wenn Lehrinhalte neueren Erkenntnissen
widersprechen, sind die Lehrinhalte entsprechend anzupassen.
Das ist die eigene Aussage des Buddha, sein Vermächtnis, das
wir sehr hoch schätzen. Deshalb gibt es im Buddhismus viel
Spielraum. Was beispielsweise das Verständnis und die
gedankliche Darstellung der Welt betrifft, so gibt es vom
kulturellen Hintergrund her Gemeinsamkeiten mit dem
Hinduismus. Aber wir müssen nicht unbedingt an den
Einzelheiten festhalten, nur weil es der Buddha so gesagt hat.
Das ist überhaupt nicht nötig. Wir können daher zum Beispiel
im Gegensatz zu den überlieferten Texten ohne weiteres die
Kugelgestalt der Erde akzeptieren. Auch andere kosmologische
Anschauungen, die sich nicht in den kanonischen Schriften
finden, sind für uns kein Problem. Wenn diese Anpassung auch
in anderen Religionen möglich wäre, so dass wir mit anderen
Menschen in neue Räume des Gesprächs und der Verständigung
eintreten können, wenn wir uns alle den veränderten
Lebensumständen ohne Dogmatismus anpassen könnten, gäbe es
keine größeren Probleme mehr, und es wäre viel gewonnen.
Jedenfalls müsste es doch möglich sein, darüber ins Gespräch
zu kommen.
von Brück:
Ich möchte an Herrn v. Stietencron und Dagyab Rinpoche
anknüpfen. Natürlich kann man jetzt versuchen, und das müsste
der wissenschaftliche Vergleich der Religionen natürlich
leisten, zunächst einmal Vergleichbares zusammenzutragen. Aber
das Problem des Dialogs ist ein anderes als in der
Vergleichenden Religionswissenschaft, - nämlich dies, dass
hier ganz Heterogenes aufeinander trifft, wie etwa im Kashmir.
Dass die Menschen dort eine Buddhistische Partei gründen,
liegt nicht nur daran, dass sie schlechte Buddhisten wären,
sondern es ist der Druck der Situation. Sie möchten ihre
Identität bewahren, die dort durch Überfremdung gefährdet ist,
weil ihnen der buddhistische Glaube, die buddhistische
Tradition, die Identifikation mit dieser Tradition wertvoll
ist. Und so bleibt ihnen nichts anderes übrig, als das
politische Spiel mitzuspielen, mit allen Folgen, die das dann
hat.
Man kann natürlich sagen: Ich muss mich dem aussetzen und
mein Leben und meine Identität und alles zur Verfügung
stellen. Das kann sicherlich der hochdurchgeistigte, wirklich
übende individuelle Buddhist, der sich in diesem Sinne der
Ich-Aufgabe geübt hat. Aber die Massen in unseren Religionen
können das nicht. Im Christentum orientieren sich die meisten
Menschen auch nicht an der Bergpredigt, sondern sie suchen
nach Identität, nach einer gewissen Sicherheit in ihrer
Sprache, in der Geborgenheit ihres Ritus usw. Da ergeben sich
dann aber die Konflikte.
Jetzt wäre meine Frage so - und jeder meiner Kollegen
sollte nun vielleicht sagen, wie er sich das vorstellt: Was
könnte denn in unserer heutigen Welt, die ja nicht die des 15.
oder 16. Jahrhunderts in Europa und auch nicht die des 8. oder
5. Jahrhunderts vor Christus in Indien ist, sondern die eben
durch die schwer zu fassende Situation gekennzeichnet ist, die
wir unter dem Stichwort Pluralität und Pluralismus
zusammengefasst haben, was könnten denn die Religionen hier
und jetzt leisten? Nicht nur in bezug auf die Frage: Wie kann
ich eine tiefere Motivation, ein tieferes geistiges Leben
finden? Das ist klar, da hat jede Tradition ihre eigene
Geschichte und ihre eigenen Möglichkeiten. Sondern was kann
jede Tradition in dieser heutigen Situation leisten, wo
Hetorogenes aufeinander trifft, und zwar in dem Sinne, dass
Verhaltensformen gefunden werden auch für den Umgang mit
Gruppen und Gruppen untereinander, die weniger aggressiv,
weniger destruktiv und weniger im Sinne dieser vorher
kolportierten Identitätsfindung durch Abgrenzung bis hin zur
Verteufelung des anderen verlaufen?
Vielleicht könnte man einmal von Japan hören, wie unter den
Bedingungen der säkularisierten Modernität, die ja dort auch
vorherrscht, buddhistische Gruppen, vielleicht auch schon
buddhistisch-christliche Dialoggruppen, in irgendeiner Form
auf diese Situation reagieren?
Yagi:
Das ist eine schwer zu beantwortende Frage. Denn viele
verhalten sich als anonyme religiöse Menschen. Sie sind sich
oft dessen nicht bewusst, dass ihr Denken und Verhalten
religiöse Hintergründe hat, die im langen Ablauf der
Geschichte zu Momenten allgemeiner japanischer Kulturtradition
geworden sind. In Japan besteht, wie gesagt, die faktische
Pluralität der Religionen, und jede Religion hat auf eigene
Weise, sei es positiv, sei es negativ, zur Bildung der
Kulturtradition beigetragen, so dass die Pluralität der
Religionen bei den gewöhnlichen Japanern kein Ärgernis mehr
erregt. Das hat auch zur Folge, dass Japaner oft ganz
unbefangen an verschiedenen religiösen Bräuchen teilnehmen:
Ein Mensch besucht am 1. Januar einen Schinto-Schrein, wobei
er sich als Schintoist verhält. Aber wenn seine Tochter einen
jungen Mann heiratet, gehen sie gemeinsam zur Hochzeit in eine
christliche Kirche. Wenn er stirbt, wird er wohl im
buddhistischen Ritus beerdigt usw. Es ist nicht immer so, dass
ein Mensch sich eindeutig mit einer bestimmten religiösen
Gruppe bzw. Gemeinschaft identifiziert. Solche Menschen gibt
es gewiss auch, vor allem in den sogenannten neuen Religionen,
die bewusst Mission treiben. Aber die Statistik zeigt, dass
die Summe der japanischen Buddhisten, Schintoisten und
Christen mindestens das Doppelte der gesamten Bevölkerung
beträgt. Viele identifizieren sich also mit mehreren
Traditionen gleichzeitig, und das ist eine besondere Art von
Pluralität der Religionen in Japan. Nach einer anderen
Statistik sind beinahe die Hälfte der Japaner Atheisten".
Dieser Tatbestand macht es äußerst schwierig, auf Ihre Frage
eine klare Antwort zu geben, Herr von Brück.
von Brück:
Ich möchte gern weiter fragen. Was Sie sagten, ist ja
bekannt. Aber was bedeutet es? Bedeutet es, dass keiner den
Anspruch der jeweiligen Religion wirklich ernst nimmt, oder
gibt es andere Interpretationen dieser faktischen Pluralität?
Oder bedeutet es, dass eine solche Symbiose nur in Zeiten des
allgemeinen Laisser-faire möglich ist? Dass aber dort, wo es
um harte Entscheidungen geht, dann vielleicht doch Konflikte
aufbrechen können? Ich denke an den Konflikt zwischen
Schintoismus und Buddhismus in der verfassten institutionellen
Form seit der Meiji-Zeit, seit die Regierung versuchte, den
Staatsschinto einzuführen und damit den Einfluß des Buddhismus
beschnitt. Oder bedeutet es, dass ethische Werte, die der eine
in einer gewissen Situation aus dem Buddhismus zieht, der
andere in einer anderen Situation aus dem Christentum oder aus
dem Schintoismus zieht, jeweils der Situation entsprechend
angewendet werden? Oder bedeutet es, dass überhaupt keine
Werte angewendet werden?
Yagi:
Bei der Pluralität der Religionen besteht natürlich zu
jeder Zeit die Möglichkeit des Zusammenstoßes der Religionen.
Es ist auch in unserer Geschichte tatsächlich passiert, dass
die Regierung eine bestimmte Religion bevorzugte, was mehr
oder weniger die Unterdrückung anderer Religionen bedeutete.
Es ist auch nicht zu übersehen, dass der geistliche Stand -
seien es schintoistische Priester oder buddhistische Mönche,
also die Träger bestimmter Traditionen - sich in der Regel mit
einer bestimmten religiösen Gemeinschaft eindeutig
identifizierte und identifiziert. Es sind also überwiegend die
Laien, die unbefangen an verschiedenen religiösen Bräuchen
teilnehmen. Kulturgeschichtlich betrachtet hat das jedoch
nicht die Spaltung oder Zerstörung der kulturellen oder
wertmäßigen Integration bedeutet, und die Wahl, welches
Wertesystem jeweils aufgegriffen wird, scheint mir
situationsbedingt zu sein. Mit anderen Worten, es sieht fast
ganz so aus natürlich nicht immer und nicht bei jeder Person
-‚ als ob im Kern des Lebensgefühls eine gewisse Integration
verschiedener Werte hervorgerufen worden ist, ein
Lebensgefühl, das seinen reinsten Ausdruck jeweils in der
buddhistischen, schintoistischen und christlichen Gemeinde
findet.
von Brück:
Haben die klassischen Religionen, also die verschiedenen
buddhistischen Schulen und vielleicht auch die christlichen
Kirchen, nach Ihrem Eindruck irgendeine Relevanz für die
gesellschaftliche und politische Wirklichkeit in Japan?
Yagi:
Auf eine ganz kurze Formel gebracht: Der Schintoismus hat
das Herz der Japaner mit seinem Reinheitsideal geprägt, wobei
es sich nicht nur um äußere, sondern auch um innere Reinheit,
Herzensreinheit handelt. Er hat weiter mit seinen gemeinsam
gefeierten Festen den Sinn für Gemeinschaftlichkeit gepflegt.
Das hat aber auch seinen negativsten Ausdruck vor und im
Zweiten Weltkrieg gefunden, indem er - allerdings in einer
Zeit, da die westlichen Weltmächte asiatische Länder
kolonisierten - die Bildung eines extrem totalitären,
nationalistischen Staates ideologisch unterstützte.
Der Buddhismus hingegen ist individualistisch-
existentiell. Er hat den Sinn für die Innerlichkeit und
Existentialität gepflegt, indem er die Japaner Freiheit,
Egolosigkeit und Erbarmen gelehrt hat. In der buddhistischen
Tradition hat sich auch Religionsphilosophie entwickelt. Die
Buddhisten im Ganzen haben aber, von einzelnen Fällen einmal
abgesehen, nicht sozial aktiv gehandelt.
Der Konfuzianismus hat, wenn wir ihn als Religion
betrachten können, den Sinn für die Pflicht gepflegt, und zwar
vor allem in der Edo-Zeit, in der sich die Arbeitsethik
herausgebildet hat. Schließlich kommt das Christentum, und wir
sind noch nicht imstande zu sagen, welche Rolle es bei uns in
Japan spielt. Aber Anfang des 20. Jahrhunderts hat Kanzo
Uchimura, damals ein führender Christ, den unbedingten
Pazifismus vertreten und an einem Bergbau, der für erhebliche
Umweltverschmutzung verantwortlich war, scharfe Kritik geübt.
Das ist heute nicht das Anliegen der Christen allein. So
dürfen wir erwarten, dass das Christentum den Sinn für soziale
Gerechtigkeit pflegt und pflegen wird.
Vielleicht habe ich hier nur auf die positive Seite der
Pluralität der Religionen hingewiesen. Aber jede Religion hat
tatsächlich auf ihre eigene Weise zur Bildung der
Kulturtradition Japans beigetragen. Die europäischen Menschen
haben meines Wissens wenigstens eine gewisse Analogie dazu in
dem spannungsvollen Zusammenwirken von Christentum und
Griechentum zur Bildung der europäischen Kulturtradition.
Falaturi:
Um es vielleicht etwas in die Gesellschaft selbst zu
stellen, wie wir es bei uns in England beobachten, muss ich
sagen, dass trotz schwieriger Beziehungen in bezug auf die
politischen Fragen der Islam, d. h. die muslimische Gruppe und
die jüdische Gruppe in Großbritannien auf gewissen Gebieten
jetzt sehr viel zusammenarbeiten. Und das wohl, weil eben
beide Minoritäten sind. Wir bekommen Anfragen von muslimischen
Gruppen: Wie habt ihr Juden es geschafft, jüdische Schulen zu
bekommen usw.? Auch in der Diskussion um Blasphemie arbeiten
wir auf unserer Weltkonferenz der Religionen für Frieden, wo
ich der Vorsitzende bin, mit den muslimischen Mitgliedern
zusammen, z. B. um etwas zu sagen, was auf die
Gewaltherrschaft der christlichen Religionen in England zu
beziehen war, um zu versuchen eine Erkenntnisbrücke zu
schlagen, damit man im Parlament und anderswo versteht, was
innerhalb einer muslimischen Gemeinde jetzt vorgeht.
Hinsichtlich der Zusammenarbeit mit christlichen Gruppen
finden wir als Juden vor allem Interesse an Fragen der
sozialen Gerechtigkeit. Vor einigen Tagen war ich mit Dorothee
Sölle in Coventry anläßlich des 50. Jahrestages der Zerstörung
dieser Stadt. Morgen treffen dort Richard v. Weizsäcker und
die Königinmutter zusammen, um in der alten und neuen Kapelle
der Kathedrale für Frieden zu beten. Was meine Gegenwart dort
betrifft, so war dies eben auch ein Zeichen, dass Christen und
Juden, besonders in dieser Zeit, das Problem von sozialer
Gerechtigkeit als gemeinsame Aufgabe betrachten. Davon
ausgehend kann man dann tiefere Fragen stellen, und ein
solcher religiöser Dialog wird etwas Wirkliches zu sagen
haben, weil er auf konkrete Realität aufbaut. Bürgerrechte und
Friedensarbeit - das sind Aufgaben, wo Religionen
zusammenkommen können, um zusammenzuarbeiten, ohne etwas von
ihrer Identität preiszugeben.
v. Strietencron:
Die Zusammenarbeit zwecks Verwirklichung von
Menschenrechten, Stärkung des Friedens und Förderung
gemeinsamer Anliegen ist gewiss wichtig, und es ist
erfreulich, wenn es in England zu solcher Kooperation kommt.
Aber schon bei den Menschenrechten treten auch Differenzen
auf. Wir brauchen nur auf Israel und seine Nachbarn zu blicken
um zu sehen, dass hier jeder die Rechte des anderen leugnet,
nur die eigenen gelten lassen will und von
Kompromissbereitschaft keine Rede sein kann.
Leisner:
Die Frage von Herrn von Brück war: Was können die
Religionen beitragen, was können sie tun, um die Konflikte
oder großen Probleme anzugehen oder zu lösen? Es gibt eine
Antwort, die ich geben kann, als Extrakt aus Hunderten von
Gesprächen mit Leuten, die durch unser buddhistisches Zentrum
gegangen sind. Die Antwort heißt: nicht mehr sehr viel. Die
Glaubwürdigkeit der Religionen insgesamt scheint nicht mehr
groß zu sein, und die Erwartung, dass von den Religionen
großartige Antworten kommen oder handhabbare Instrumente
präsentiert werden, um die Probleme zu bewältigen, ist relativ
gering. Das Zutrauen zu den Religionen ist auch nicht sehr
groß. Die Leute, die zu uns kommen, entstammen den
verschiedensten Schichten, sie kommen aus unterschiedlichsten
Gruppierungen und Altersstufen. Sehr oft stellen sie eine
ähnliche Frage, die man so zusammenfassen könnte: „Welche
Antwort habt ihr Buddhisten jetzt für das Problem der
Ökologie, welche Hilfsmittel habt ihr für die Erhaltung des
Friedens, was tut ihr, um die Frauen in eine bessere Position
zu bringen? Aber ansonsten - eure religiösen Ideen und Riten
könnt ihr für euch behalten." Ich habe von Freunden in der
christlichen Religion gehört, dass an sie in ähnlicher Weise
Fragen herangetragen werden. Allgemein scheint es also eine
Strömung zu geben, die dahin geht, dass es jedenfalls eine
zunehmende Anzahl von Menschen gibt, die sagen, die Antworten
der Religionen als Religionen interessieren uns nicht mehr
sehr. Sie hatten Zeit genug, und sie haben versagt. Worauf
viele jetzt warten, das ist sozusagen ein postreligiöses
Zeitalter, wo die Religionen vielleicht noch irgendwo im
privaten Bereich ein Schattendasein führen, wo aber ihre
Essenz an Wissen, das einmal dagewesen sein muss und von
bestimmten Leuten auch tradiert worden ist, neu formuliert
werden muss. Dann kann man es den Menschen auch neu
präsentieren und als Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen,
aber nicht mehr unter dem Begriff irgendeiner Religion. Es
scheint so eine Strömung zu geben.
v. Strietencron:
Bessere Situationen in sozialen Beziehungen und in der
Umwelt zu fördern, aber den religiösen Überbau wegzulassen?
Leisner:
Der wichtigste Aspekt dabei scheint zu sein, wenn ich diese
Leute richtig interpretiere, dass der spirituelle Inhalt oder
das spirituelle Wissen den Religionen geglaubt wird. Man nimmt
an, dass es vorhanden ist, aber befrachtet mit all den
theologischen Konzepten, die, die Religionen über die
Jahrtausende unnötigerweise mitschleppen. Dieses spirituelle
Wissen ist nach wie vor interessant und wird dringendst
gewünscht und auch gebraucht, aber nicht mehr mit dem ganzen
Überbau verbunden.
Moltmann:
Ich sehe das nicht ganz auf die gleiche Weise. Die
Unterschätzung der Religion hat Jimmy Carters Sturz
herbeigeführt. Er hatte den Islam und den Ajatollah Khomeini
unterschätzt. Die Unterschätzung der Religion hat den
Kommunismus in Osteuropa zum Ende gebracht. Es gibt diese
Strömung, die Sie beschreiben, das ist richtig, aber man soll
die Kraft der Religionen nicht zu sehr unterschätzen, denn
dazu ist sie einerseits zu gefährlich, anderseits aber auch zu
positiv motivierend. Ich wollte auch zu Herrn Yagi etwas
sagen. Wenn man aus Japan oder Taiwan zurückkommt, fragt man
sich ja wirklich: Warum haben wir so ein monogames Verhältnis
zur Religion? Entweder Jude oder Muslim oder Christ oder
Buddhist. Warum machen wir das nicht auch so, dass wir von
allem das Beste nehmen und uns damit begnügen. Wir haben immer
das entweder oder, und das macht unsere Glaubensgemeinschaften
vielleicht auch zu etwas Besonderem. Man fragt sich, durch
welche Religion dieses einmalige Verhältnis zu einem
Glaubensinhalt in die Welt gekommen ist. Denn früher war es
nicht so: Es gab nicht nur Synkretismus sondern auch die
Praxis, dass man zu den mächtigeren Göttern der Sieger
übergehen konnte und dabei keine inneren Identitätsprobleme
hatte. Ich kann darauf keine Antwort geben, aber wir müssen
damit fertig werden, dass wir in verschiedenen
Glaubensgemeinschaften existieren und nun sehen müssen, wie
diese Gemeinschaften miteinander umgehen und eine größere
Gemeinschaft bilden können, ohne sich gegenseitig zu
verletzen; und dazu hilft sicher diese Art indirekter Ökumene,
von der Herr Friedlander gesprochen hat: dass man gemeinsame
Sozialarbeit anstrebt und ähnliche Dinge. Aber das ist
indirekt. Von Anfang an hat es eine direkte Beeinflussung des
Christentums durch das Judentum gegeben: Wir beten die
gleichen Psalmen und lesen das gleiche Buch. So wird es auch
eine weitere Beeinflussung vom Islam her geben, wenn einmal -
und das halte ich in Deutschland für die wichtigste Aufgabe -
der Islam als die dritte Religionsgemeinschaft anerkannt ist
und man es akzeptiert, dass hier nicht muslimische
Gastarbeiter sind, sondern muslimische Mitbürger. Und dann
muss man sich über den Islam informieren, und zwar mit mehr
Interesse als bisher, und man muss das auch in das
theologische Studium mit aufnehmen, damit dann zwischen den
christlichen Gemeinschaften und der islamischen Gemeinschaft
langsam Gemeinschaft entsteht. Aber das dauert eben lange. Das
war auch zwischen Protestanten und Katholiken so. Es gibt ja
übrigens auch keine Möglichkeit, dass man eine
Kirchenmitgliedschaft sowohl in der evangelischen Kirche als
auch in der katholischen Kirche hat. Es gibt nur einen Roger
Schutz, der das versucht hat, sonst niemanden, während die
gegenseitige Beeinflussung in der Theologie, auch in der
Spiritualität, - bis hin zu den orthodoxen Kirchen -, sehr
fluktuiert. Und dennoch haben wir dieses monogame Verhältnis.
Falaturi:
Ich möchte noch einmal zum Thema Pluralismus innerhalb der
Individuen zurückkommen, also von individueller Pluralität
reden. In der Tat, jeder Mensch ist in einem Kulturraum von
unheimlich vielen geistigen Strömungen geprägt, von denen die
Religion nur eine ist. Wir stellen hier die Frage, glaube ich,
nicht ganz richtig. Wir gehen von einer individuellen
Pluralität aus, aber dabei sehen wir praktisch den Grund der
Vielheiten nur in der Religion. In einem Kulturraum spielt die
Religion nur eine kleine Rolle, vielleicht ein Zehntel der
beeinflussenden Faktoren. Und dann begehen wir einen weiteren
Fehler, indem wir sagen, dass alles, was in einem Kulturraum -
sei es ein christlicher oder muslimischer oder jüdischer -‚
dass alles, was hier durch Individuen geschieht, mit der
jeweiligen prägenden Religion zu tun hat. Wir identifizieren
das, was die Juden in Israel tun, mit dem Judentum, das, was
im Iran geschieht, gilt als Islam. Das ist der zweite Fehler.
Daraus entsteht der dritte Fehler, und das ist die Frage:
Was kann die Religion für uns tun? Die Religion ist nicht
fähig, etwas zu tun. Was ist die Religion, die fähig ist oder
nicht? Das sind wir. Wir sind es, die nicht fähig sind, die
Ideale aus der Religion zu verwirklichen. Warum suchen wir
einen Sündenbock, um unsere Unzulänglichkeit auf den
Sündenbock zu übertragen? Wir denken nicht richtig. Wie kann
das Christentum kommen und sagen: Tue dies oder das? Ich bin
nicht der, der sich danach richtet. Daraus entsteht ein
weiteres Problem, dass nämlich unsere Kulturräume heute mehr
von wirtschaftlichen und politischen Interessen gelenkt werden
als von religiösen. Religionen und Theologen sind viel mehr
von Politik und Wirtschaft abhängig als sie selbst glauben.
Denken Sie an die Kirchensteuer - wo bleibt die Kirche, wo
bleibt der Christ, wenn es die nicht gäbe? Ich glaube, wir
denken falsch. Wir übersehen alle anderen Strömungen, die wir
tagtäglich mosaikartig zusammenfließen sehen. Ich möchte meine
Aggression abbauen und fragen, wie wird ein Christ im
praktischen Leben als Christ erkannt? Was ist sein Merkmal im
praktischen Leben? Ein Muslim kann etwas sagen, ein Jude auch,
aber was zeichnet einen Katholiken aus? Dass der Katholik vor
dem Essen oder beim Gebet ein Kreuzeszeichen macht? Was ist
das Christliche im Alltag der Europäer? Ich weiß es nicht, ich
habe es noch nie gesehen.
von Brück:
Auf diese Frage muss man auf verschiedenen Ebenen
antworten. Die theologische Antwort, die dann aber auch sehr
existentiell sein kann, sein soll und wohl auch sehr häufig
ist, ist diese: die wirkliche Nachfolge Jesu.
Falaturi:
Das ist zu wenig. An praktischen Dingen muss man es sehen.
von Brück:
Das ist sehr viel, wenn diese Nachfolge praktisch vollzogen
wird. Aber wie messe
ich das? Das kann ich von außen her schwer sagen, denn ich
kann z. B. - um Ihnen etwas zu zeigen - äußerst karitativ
tätig sein, aber mit einer ganz tief egozentrischen Haltung.
Das wäre wenig Nachfolge, obwohl es äußerlich außerordentlich
christlich aussieht. Ich kann sehr fromm tun aber ein Schuft
sein. Es würde letztlich auf diese innere Motivation ankommen,
die aber keiner beurteilen kann, außer Gott selbst. Das ist
nur die eine Ebene. Die andere Ebene ist die der Zugehörigkeit
zu bestimmten Werten und Normen, die eine religiöse Gruppe
vermittelt. Und das wäre jetzt wieder konfessionell
verschieden. Aber da sind wir schon bei der nächsten Frage:
Was ist die innere Motivation, und was baut diese innere
Motivation des Menschen auf? Bevor wir das fragen, möchte ich
noch einmal einen Punkt herausheben, den Herr Moltmann genannt
hat. Das war sehr konkret zu unserer Frage nach
interkulturellen Verhaltensformen. Herr Moltmann hat gefordert
oder zumindest gehofft oder gewünscht, dass der Islam - und
warum nur der Islam, es gibt noch weitere Religionen in
Deutschland, man sollte da nicht nur nach
Mehrheitsverhältnissen gehen - als offizielle
Religionsgemeinschaft anerkannt wird. Was bedeutet es für das
Studium, vielleicht nicht nur das theologische Studium, diese
Religion oder Religionen entsprechend zu vermitteln, dass man
sie kennenlernt, um falsche Bilder und Vorurteile abzubauen?
Warum erst im Studium, warum nicht schon im Schulbereich? Das
wäre etwas ganz Konkretes, wo man mit viel Intensität
nachdenken könnte. Kann interkulterelles Verhalten,
Feindbildabbau geleistet werden durch eine entsprechende
Pädagogik? Das ist wichtig, und wichtig ist auch, dass wir das
hier aussprechen und durch unseren Konsens vielleicht weiter
diskussionsfähig machen. Ich wollte Herrn Moltmanns Anregung
aber nur bewusst machen und unterstreichen, ohne dass wir dies
jetzt im Detail diskutieren können.