Joinville, 20. März 1875.
Ich versuche wieder Freude am Leben zu gewinnen, und es
gelingt mir nicht ... Man bekommt alles satt, selbst den
Schmerz, und der meine geht dahin, doch nichts rückt an seine
Stelle, nur ein Gefühl der Leere und ein grenzenloser Ekel vor
dem Leben ...
Das geliebte Bild der Frau, die mich verlassen,
entschwindet mehr und mehr; ich füge mich in die seltsame
Rolle, die mir in dieser Welt beschieden ist, und das
unheimliche »Menetekel« schreckt mich nicht mehr ...
Ich bin übrigens wieder gesund geworden, meine Muskeln
entwickeln sich dank fleißiger Turnübungen zu athletischer
Kraft und das Leben überschäumt. –
Dem düstern klösterlichen Dasein, das ich bisher gelebt,
habe ich Valet gesagt, und meine Türe hab' ich weit der Jugend
und dem Leben auf getan. Und meine Stube, öde und einsam einst
gleich eines Priesters Zelle, ist abends immer nun erfüllt vom
frohen Lachen junger Frauen. Ich war meinen Freunden ein
dunkler Punkt, ragte wie ein Rätsel in ihre Welt. Jetzt hab'
ich die Rolle getauscht und bin ihr Führer geworden.
Freies Leben der Bohême. Als ich siebzehn Jahre alt war,
wogte es schon einmal um mich. Das war, als ich im
Quartier-Latin den Vorbereitungskurs zur Marinezöglingsschule
absolvierte, und ich war der einzige, der sich fern hielt von
dem munteren Treiben. Eine unbestimmte Traurigkeit, und ein
Verlangen nach Luxus und Lebenskunst zwangen mich, am rechten
Ufer der Seine nach Liebe zu suchen. Ich fand sie dort bei
einem schönen, tieftraurigen jungen Mädchen, das von reichen
Freunden ausgehalten wurde.
Was nützt es, sich mit Strenge zu umgürten! Jetzt brauch'
ich all den Lärm und die Phantastereien, denn ich ertrag' es
nicht, allein zu sein.
Die, für die ich meine Pforte aufgetan, verlangen nur
einzutreten. Ich ward umringt und umjubelt. Denn weil ich ein
düsterer Sterbender war, um den leise das Geheimnis webte,
drum ist meine Wiederkehr ins Leben der Jugend gefeiert
worden. Mein Seemannshandwerk und meine weiten Reisen
verfehlen auch nicht ihre Wirkung auf die Menschen dieser
Welt. Man drängt sich, mein Freund zu sein oder meine
Geliebte.
Wohl sah ich, daß mein lieber Bruder Jean ob dieser meiner
Umgebung und ob der ungewöhnlichen Art meines Lebens etwas
verwundert war. Doch hat er mich verstanden und weiter nichts
gesagt. Er weiß übrigens gut, daß alles dies nur Schein ist,
und daß meine schier überfeinerte Selbstachtung mich immer
hindern wird, ganz tief zu sinken und mich in groben
Ausschweifungen zu ergehen.
Nein, dennoch, ich vergesse dich noch nicht, Geliebte mein
... noch ward mir nicht die Unbekümmertheit, die ich mir
wünsche. Wohl hasche ich nach Freuden, aber das Herz in meiner
Brust ist gestorben. Die Reue, die unerbittliche Reue quält
mich des Nachts. Verzweifelnd ringe ich die Hände, denk' ich
an sie, die mir entschwunden auf Nimmerwiederkehr. Und
fürchterlicher Nacht folgt qualvolles Erwachen.
O, diese Angst, wenn der Schlummer weicht! Und warum immer
diese seltsam fremde Heiterkeit, die diesen Augenblick so
schrecklich macht?
Ich wohne in einem großen, häßlichen Hause, dem Bahnhof
gerade gegenüber. Dieses Haus ist für jene Offiziere
reserviert, die, wie ich, Kurse an der Turnschule besuchen.
Über mir wohnt ein Unteroffizier vom 57er Regiment. Seine
Geliebte, sie heißt Henriette, kommt zweimal wöchentlich zu
ihm, – ein schönes, kluges, ziemlich schamloses und lautes,
aber immer glanzvolles Weib, das nie zweimal im gleichen Kleid
erscheint. Manchmal kommt, gleichsam als Folie, ihre Freundin
mit, eine gewisse Bertha, auch sehr herausgeputzt, aber
häßlich ...
Mir zur Rechten wohnt ein Artillerieoffizier, aber er
gehört nicht zu unserer Gesellschaft; seine Geliebte ist
heimlich und unsichtbar, und er selbst ist nicht anders. Wir
grüßen einander beim Begegnen, – das genügt hier und dort.
Links von mir ist die Wohnung von Mutter Julie, unserer
Hausfrau, ihrer Katze und ihrer drei Hunde: Toutou, Toutoute
und Titine.
Im zweiten Stock, linker Hand, wohnt Delguet, von den
30ern, einer unserer »Golos«, (dies Wort, das in der
Negersprache »Affe« heißt, dient uns hier, um die Mitglieder
unseres kleinen Kreises zu bezeichnen). Delguet ist sogar,
nach mir, erster »Golo«. Aus Annecy, wo sein Regiment
garnisoniert, brachte er sein savoyardisches Liebchen mit,
eine kleine, anständige und nette Arbeiterin: La Fratine heißt
sie bei uns, und wir gaben ihr damit den Namen einer alten
Verkäuferin in Annecy, deren Geschichte sie uns einst
erzählte. Sie ist siebzehn Jahre alt, ist graziös, fein, und
gläubig wie ein Kind.
Das Paar Delguet-Fratine ist das ärmste von uns allen, und
das reizendste außerdem.
La Fratine, die ursprünglich recht wild und ungebärdig war,
sieht nun in mir ihren besten Freund und betrachtet mein
Zimmer als das ihre. Seitdem ich ihr volles Vertrauen genieße,
schätze ich auch die Eigenschaften ihres Herzens.
Sie arbeitet tagtäglich in Paris, bei sehr minderen Leuten,
gegen die ich einige Male, nur ihretwegen, glaubte, leutselig
sein zu müssen. (Sie verfertigen Krawatten für die Magasins du
Louvre.)
La Fratine erscheint allabendlich mit dem Zug um 7 Uhr wie
eine kleine Ausgehungerte, und immer bringt sie einen großen
Haufen Arbeit für die Nacht, und stets verhindern wir sie,
auch nur daran zu rühren. Delguet und ich belauern ihr Kommen
auf meinem Balkon. Übrigens kennen wir all die Ankömmlinge des
7-Uhr-Zuges und hatten ihnen schon manchen Streich gespielt.
Unsere kleine Freundin sitzt gewöhnlich in ihrem oder in
meinem Zimmer und verzehrt, aus Sparsamkeit, Delguets
Abendbrot, der seinerseits darauf verzichtet.
Die Fratine besitzt, wie einst Mimi Pinson, nur ein
einziges Gewand. Sie trägt es am Sonntag, wenn wir mit ihr im
Wald von Vincennes lustwandeln. Doch da das Kleid aus Leinen
ist, bleibt man zu Hause, wenn es regnet. Ich werde regelmäßig
befragt, wenn es sich um Hüte handelt, oder um Reise- und
Arbeitskleidung. Das alles wird bei mir verfertigt, während
unsere Freundin uns mit verblüffender Unschuldsmiene
Schauergeschichten aus dem Atelier erzählt.
Tür an Tür mit Delguet, rechts von ihm, wohnt ein vierter
Unterleutnant der Dreißiger; er lebt in gemeinsamem Haushalt
mit seiner »Dame von Welt«, der pyramidalen Liline, die immer
höchst geheimnisvoll erscheint. Eines Tages kam Liline
herunter und hat bei mir gefrühstückt. Wir halten sie aber
doch in ziemlicher Entfernung.
Mutter Juliens Haus besitzt noch eine andere Stiege. Dort
lebt im ersten Stock linker Hand der Schiffsfähnrich Roger,
mein besonderer Freund, der Fürchterliche, der seinen Gegner
im Säbelduell erstochen hat. Nun haben wir einen gemeinsamen
Diener und eine gemeinsame Kasse.
Dann gibt's dort noch die Zimmer der beiden
Kavallerieoffiziere. Der erste, dessen Charakter zuweilen
nicht ganz einwandfrei ist, ist der Geliebte der kleinen
Maria. Diese ist Geschäftsfräulein im Louvre – hübsch,
blutjung, mit einem Anflug von Kindlichkeit, ein wenig
übertrieben vielleicht, aber niedlich.
Der zweite, mit vielleicht noch unerträglicherem Charakter
als der erste, ist dafür seelensgut. Er bringt es zuwege, den
um Verzeihung zu bitten und unter Tränen zu umarmen, der ihn
in Zorn gebracht hat. Seine Geliebte heißt Louise und ist eine
brave Näherin aus der Rue Molière in Paris. (Sie schneidet
zuweilen eine recht komische Fratze und nennt diese Leistung
»Golo ist froh«. Das ist aber auch alles, was sie kann.)
Im Hause gegenüber wohnt ein Offizier vom 3ten
Marine-Infanterie-Regiment, ein alter Senegalfahrer und ein
entzückender Bursche obendrein. Er war vier Jahre lang
Kommandant an der guineischen Küste, und er ist es auch, der
die Negersprache im Dialekt bei uns eingeführt hat. Sein
Verhältnis, die lange Victoria, ist gleichfalls ein Nähmädchen
aus der Rue Molière, aber sie zeigt sich nie. Ihr Gesicht wäre
nicht übel, wenn sie nicht gar so viel Sommersprossen hätte.
Victorias Zimmer in Paris steht mir zur Verfügung, wenn ich
mich einmal verkleiden will.
Ein wenig weiter, in der Brauerei, wohnt der letzte »Golo«,
ein Jägerleutnant: gut erzogen, sehr nett, aber eng liiert mit
Armandine, einem Ladenfräulein, das uns nicht gefällt. Wer von
all meinen Nachbarn mich am meisten stört? Zweifellos
Henriette und ihr Freund. Henriette vor allem, die mich
verfolgt, sowohl mit Blumensträußen als mit Liebe, und dann
ihr Freund, der nichts bemerkt. Sowie ich auf dem Balkon
erscheine, erhalte ich Blumen an den Kopf, Rosensträuße,
Maiglöckchensträuße, und zuweilen sie selbst, denn sie liebt
es, sich mit Hilfe ihrer Decken auf meinen Balkon
herabzulassen. Schließe ich meine Türe, so kommt sie bestimmt
durch ein Fenster herein ... Sie und Berthe sind einmal auf
diesem Weg nächtlicherweise in mein Zimmer gedrungen, worüber
ich nicht wenig erschrocken war. Und obwohl ich sie mit
Faustschlägen empfing, haben sie mir es doch nicht
nachgetragen. –
Doch ist es nutzlos, vor zwei Uhr morgens einschlafen zu
wollen, wenn Henriette die Nacht in Joinville verbringt.