Auf fernen Meeren

Auf fernen Meeren

Tagebuchfragmente und Briefe

1924 n.Chr.

Pierre Loti

Inhaltsverzeichnis

Joinville, 20. März 1875.

Ich versuche wieder Freude am Leben zu gewinnen, und es gelingt mir nicht ... Man bekommt alles satt, selbst den Schmerz, und der meine geht dahin, doch nichts rückt an seine Stelle, nur ein Gefühl der Leere und ein grenzenloser Ekel vor dem Leben ...

Das geliebte Bild der Frau, die mich verlassen, entschwindet mehr und mehr; ich füge mich in die seltsame Rolle, die mir in dieser Welt beschieden ist, und das unheimliche »Menetekel« schreckt mich nicht mehr ...

Ich bin übrigens wieder gesund geworden, meine Muskeln entwickeln sich dank fleißiger Turnübungen zu athletischer Kraft und das Leben überschäumt. –

Dem düstern klösterlichen Dasein, das ich bisher gelebt, habe ich Valet gesagt, und meine Türe hab' ich weit der Jugend und dem Leben auf getan. Und meine Stube, öde und einsam einst gleich eines Priesters Zelle, ist abends immer nun erfüllt vom frohen Lachen junger Frauen. Ich war meinen Freunden ein dunkler Punkt, ragte wie ein Rätsel in ihre Welt. Jetzt hab' ich die Rolle getauscht und bin ihr Führer geworden.

Freies Leben der Bohême. Als ich siebzehn Jahre alt war, wogte es schon einmal um mich. Das war, als ich im Quartier-Latin den Vorbereitungskurs zur Marinezöglingsschule absolvierte, und ich war der einzige, der sich fern hielt von dem munteren Treiben. Eine unbestimmte Traurigkeit, und ein Verlangen nach Luxus und Lebenskunst zwangen mich, am rechten Ufer der Seine nach Liebe zu suchen. Ich fand sie dort bei einem schönen, tieftraurigen jungen Mädchen, das von reichen Freunden ausgehalten wurde.

Was nützt es, sich mit Strenge zu umgürten! Jetzt brauch' ich all den Lärm und die Phantastereien, denn ich ertrag' es nicht, allein zu sein.

Die, für die ich meine Pforte aufgetan, verlangen nur einzutreten. Ich ward umringt und umjubelt. Denn weil ich ein düsterer Sterbender war, um den leise das Geheimnis webte, drum ist meine Wiederkehr ins Leben der Jugend gefeiert worden. Mein Seemannshandwerk und meine weiten Reisen verfehlen auch nicht ihre Wirkung auf die Menschen dieser Welt. Man drängt sich, mein Freund zu sein oder meine Geliebte.

Wohl sah ich, daß mein lieber Bruder Jean ob dieser meiner Umgebung und ob der ungewöhnlichen Art meines Lebens etwas verwundert war. Doch hat er mich verstanden und weiter nichts gesagt. Er weiß übrigens gut, daß alles dies nur Schein ist, und daß meine schier überfeinerte Selbstachtung mich immer hindern wird, ganz tief zu sinken und mich in groben Ausschweifungen zu ergehen.

Nein, dennoch, ich vergesse dich noch nicht, Geliebte mein ... noch ward mir nicht die Unbekümmertheit, die ich mir wünsche. Wohl hasche ich nach Freuden, aber das Herz in meiner Brust ist gestorben. Die Reue, die unerbittliche Reue quält mich des Nachts. Verzweifelnd ringe ich die Hände, denk' ich an sie, die mir entschwunden auf Nimmerwiederkehr. Und fürchterlicher Nacht folgt qualvolles Erwachen.

O, diese Angst, wenn der Schlummer weicht! Und warum immer diese seltsam fremde Heiterkeit, die diesen Augenblick so schrecklich macht?

Ich wohne in einem großen, häßlichen Hause, dem Bahnhof gerade gegenüber. Dieses Haus ist für jene Offiziere reserviert, die, wie ich, Kurse an der Turnschule besuchen.

Über mir wohnt ein Unteroffizier vom 57er Regiment. Seine Geliebte, sie heißt Henriette, kommt zweimal wöchentlich zu ihm, – ein schönes, kluges, ziemlich schamloses und lautes, aber immer glanzvolles Weib, das nie zweimal im gleichen Kleid erscheint. Manchmal kommt, gleichsam als Folie, ihre Freundin mit, eine gewisse Bertha, auch sehr herausgeputzt, aber häßlich ...

Mir zur Rechten wohnt ein Artillerieoffizier, aber er gehört nicht zu unserer Gesellschaft; seine Geliebte ist heimlich und unsichtbar, und er selbst ist nicht anders. Wir grüßen einander beim Begegnen, – das genügt hier und dort.

Links von mir ist die Wohnung von Mutter Julie, unserer Hausfrau, ihrer Katze und ihrer drei Hunde: Toutou, Toutoute und Titine.

Im zweiten Stock, linker Hand, wohnt Delguet, von den 30ern, einer unserer »Golos«, (dies Wort, das in der Negersprache »Affe« heißt, dient uns hier, um die Mitglieder unseres kleinen Kreises zu bezeichnen). Delguet ist sogar, nach mir, erster »Golo«. Aus Annecy, wo sein Regiment garnisoniert, brachte er sein savoyardisches Liebchen mit, eine kleine, anständige und nette Arbeiterin: La Fratine heißt sie bei uns, und wir gaben ihr damit den Namen einer alten Verkäuferin in Annecy, deren Geschichte sie uns einst erzählte. Sie ist siebzehn Jahre alt, ist graziös, fein, und gläubig wie ein Kind.

Das Paar Delguet-Fratine ist das ärmste von uns allen, und das reizendste außerdem.

La Fratine, die ursprünglich recht wild und ungebärdig war, sieht nun in mir ihren besten Freund und betrachtet mein Zimmer als das ihre. Seitdem ich ihr volles Vertrauen genieße, schätze ich auch die Eigenschaften ihres Herzens.

Sie arbeitet tagtäglich in Paris, bei sehr minderen Leuten, gegen die ich einige Male, nur ihretwegen, glaubte, leutselig sein zu müssen. (Sie verfertigen Krawatten für die Magasins du Louvre.)

La Fratine erscheint allabendlich mit dem Zug um 7 Uhr wie eine kleine Ausgehungerte, und immer bringt sie einen großen Haufen Arbeit für die Nacht, und stets verhindern wir sie, auch nur daran zu rühren. Delguet und ich belauern ihr Kommen auf meinem Balkon. Übrigens kennen wir all die Ankömmlinge des 7-Uhr-Zuges und hatten ihnen schon manchen Streich gespielt.

Unsere kleine Freundin sitzt gewöhnlich in ihrem oder in meinem Zimmer und verzehrt, aus Sparsamkeit, Delguets Abendbrot, der seinerseits darauf verzichtet.

Die Fratine besitzt, wie einst Mimi Pinson, nur ein einziges Gewand. Sie trägt es am Sonntag, wenn wir mit ihr im Wald von Vincennes lustwandeln. Doch da das Kleid aus Leinen ist, bleibt man zu Hause, wenn es regnet. Ich werde regelmäßig befragt, wenn es sich um Hüte handelt, oder um Reise- und Arbeitskleidung. Das alles wird bei mir verfertigt, während unsere Freundin uns mit verblüffender Unschuldsmiene Schauergeschichten aus dem Atelier erzählt.

Tür an Tür mit Delguet, rechts von ihm, wohnt ein vierter Unterleutnant der Dreißiger; er lebt in gemeinsamem Haushalt mit seiner »Dame von Welt«, der pyramidalen Liline, die immer höchst geheimnisvoll erscheint. Eines Tages kam Liline herunter und hat bei mir gefrühstückt. Wir halten sie aber doch in ziemlicher Entfernung.

Mutter Juliens Haus besitzt noch eine andere Stiege. Dort lebt im ersten Stock linker Hand der Schiffsfähnrich Roger, mein besonderer Freund, der Fürchterliche, der seinen Gegner im Säbelduell erstochen hat. Nun haben wir einen gemeinsamen Diener und eine gemeinsame Kasse.

Dann gibt's dort noch die Zimmer der beiden Kavallerieoffiziere. Der erste, dessen Charakter zuweilen nicht ganz einwandfrei ist, ist der Geliebte der kleinen Maria. Diese ist Geschäftsfräulein im Louvre – hübsch, blutjung, mit einem Anflug von Kindlichkeit, ein wenig übertrieben vielleicht, aber niedlich.

Der zweite, mit vielleicht noch unerträglicherem Charakter als der erste, ist dafür seelensgut. Er bringt es zuwege, den um Verzeihung zu bitten und unter Tränen zu umarmen, der ihn in Zorn gebracht hat. Seine Geliebte heißt Louise und ist eine brave Näherin aus der Rue Molière in Paris. (Sie schneidet zuweilen eine recht komische Fratze und nennt diese Leistung »Golo ist froh«. Das ist aber auch alles, was sie kann.)

Im Hause gegenüber wohnt ein Offizier vom 3ten Marine-Infanterie-Regiment, ein alter Senegalfahrer und ein entzückender Bursche obendrein. Er war vier Jahre lang Kommandant an der guineischen Küste, und er ist es auch, der die Negersprache im Dialekt bei uns eingeführt hat. Sein Verhältnis, die lange Victoria, ist gleichfalls ein Nähmädchen aus der Rue Molière, aber sie zeigt sich nie. Ihr Gesicht wäre nicht übel, wenn sie nicht gar so viel Sommersprossen hätte.

Victorias Zimmer in Paris steht mir zur Verfügung, wenn ich mich einmal verkleiden will.

Ein wenig weiter, in der Brauerei, wohnt der letzte »Golo«, ein Jägerleutnant: gut erzogen, sehr nett, aber eng liiert mit Armandine, einem Ladenfräulein, das uns nicht gefällt. Wer von all meinen Nachbarn mich am meisten stört? Zweifellos Henriette und ihr Freund. Henriette vor allem, die mich verfolgt, sowohl mit Blumensträußen als mit Liebe, und dann ihr Freund, der nichts bemerkt. Sowie ich auf dem Balkon erscheine, erhalte ich Blumen an den Kopf, Rosensträuße, Maiglöckchensträuße, und zuweilen sie selbst, denn sie liebt es, sich mit Hilfe ihrer Decken auf meinen Balkon herabzulassen. Schließe ich meine Türe, so kommt sie bestimmt durch ein Fenster herein ... Sie und Berthe sind einmal auf diesem Weg nächtlicherweise in mein Zimmer gedrungen, worüber ich nicht wenig erschrocken war. Und obwohl ich sie mit Faustschlägen empfing, haben sie mir es doch nicht nachgetragen. –

Doch ist es nutzlos, vor zwei Uhr morgens einschlafen zu wollen, wenn Henriette die Nacht in Joinville verbringt.

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