Dakar, Juli 1874.
Gestern bin ich hierher gekommen, an den Fuß des großen
Baumes hier mitten in den Dünen, von wo aus ich die Abfahrt
des »Petrel« verfolgte, der meinen lieben Bruder Jean nach
Saint-Louis brachte.
Dieser hohe Baum mitten in den Dünen ist ein alter Freund,
– von drei Jahren und länger her. Als der »Vaudreuil« im Jahr
1871 im Senegal verankert lag, war dies das Ziel all unserer
Ausflüge geworden. Wir hatten das einsame schattige Stückchen
Land stillschweigend zu eigen genommen.
Und dann, als Afrikas Küste mehr und mehr zurückwich,
konnten unsere Blicke sich nicht von ihm wenden ... Wir fuhren
damals in die Gewässer der Südsee, froheren Mutes als heute
und jünger an Jahren. Damals war alles neu und fremd für
unsere Phantasie. Die Sonne schien uns lichter zu sein und die
Tropennatur noch schöner. Wir kamen des Morgens an den Fuß
dieses Baumes, und zu dieser frühen Zeit wimmelte es hier von
blauen Eidechsen, Vöglein und Insekten.
Ich entsinne mich auch noch eines gewissen eigentümlichen
Tieres, das in der Nähe hauste und uns vielfach beunruhigte.
Doch trotzdem wir oft auf der Lauer im Hinterhalt lagen,
gelang es uns nie, seiner habhaft zu werden.
Wir waren alle noch Kinder in unserer
Begeisterungsfähigkeit für Reisen und Abenteuer, und das
geheimnisvolle Zentral-Afrika versetzte uns manchmal in das
Land der Träume, wenn wir in des hohen Baumes Schatten, das
Auge dem Innern des Landes zugekehrt, den weiten
Wüstenhorizont mit den Blicken absuchten.
Aber es ist weniger die Erinnerung an dich, die mich hier
äfft, mein lieber Bruder, als der Gedanke an sie, die du nicht
kennst ... An dieser Stelle ist es auch gewesen, daß ich dem
schnellen Schiff nachblickte, auf dem meine Liebste nach
Frankreich fuhr. An jenem Tag bog wilder Sturm über meinem
Haupt den Riesenbaum, der heulte und stöhnte, und zu meinen
Füßen hob er ungeheuere schäumende Wogen ins Meer hinaus, auf
dem ihr Schiff davonfloh.
Das war in der mittäglichen Erschlaffungszeit. Die Sonne
sengte meine Stirn und grub sich glühend in meine Schultern,
doch ich fühlte nichts davon, denn mein Sinn war weit, weit in
der Ferne ...
Heute abend komme ich zum letztenmal hierher, denn ich
verlasse dieses Land.
Dieser Abend, er dünkt mich die verkörperte Traurigkeit der
Dämmerstunden, mitten in trostloser Einsamkeit ...
Vor mir ragt die hohe Masse des dunklen Baumes, und tiefe
Dunkelheit steigt aus jeder Falte der Sandhügel empor, und
rankt sich um die steifen Stämme der Affenbrotbäume, die fern
verschwommen auf den Gipfeln stehen. Mit der Dunkelheit
zugleich erwachen die ungesunden Dünste der Nacht, der weiße
Stechapfel sendet den schweren Duft aus, der mir so sonderbar
zu Kopfe steigt ... Die Luft wird drückend wie in einer
schwülen Stube, in der zu viele Blumen zu lange Zeit
eingesperrt gewesen sind. –
Bald wird der riesengroße Mond, nur unscharf umrissen, aus
den Nebeln steigen und dann beginnt ganz nahe, im Friedhof von
Dghioloff das Nachtkonzert der wilden Tiere.
Die Zeit vermag nichts in einem so trostlosen Land. Seit
zehn Jahrhunderten steht bereits der alte Baum in den Dünen
und in abermals zehn Jahrhunderten wird sich seine mächtige
Krone vielleicht ein wenig mehr ausgebreitet haben. Aber diese
unverrückbare Wüste ist mir jetzt gleichgültig, denn all mein
Denken gehört nur unserer Liebe, Geliebte. Wir, deren Dasein
nur nach Jahren zählt, wohin wird das nächste Jahrzehnt uns
verschlagen?
Vielleicht gelingt es uns, der flüchtigen Zeit noch einige
Stunden zu stehlen, nur einige flüchtige Liebesstunden, ehe es
ans Sterben geht ... Noch einige Jahre und wir sind nicht mehr
... Doch hier im fernen Afrika blüht der Stechapfel weiter mit
all seinem betäubenden Duft, und so wie sonst hebt auch dann
der hohe Baum in den Dünen sein finsteres Haupt aus den
Abendstunden hervor ...