Auf fernen Meeren

Auf fernen Meeren

Tagebuchfragmente und Briefe

1924 n.Chr.

Pierre Loti

Inhaltsverzeichnis

Brief Pierre Lotis an seinen Freund Delguet.

Annecy, 23. Juni 1873.

Lieber Freund!

Verzeihen Sie mir vor allem, daß ich Ihnen auf grauem Papier schreibe. Es ist Hotelbriefpapier – zur Entschuldigung sei es gesagt –, aber es hat so ziemlich die Färbung meiner Gedanken.

Seit heute morgen bin ich in Annecy, unaufhörlicher Regen strömt nieder, und ich kann diesem Ort keinen Zauber abgewinnen, trotzdem er mich im letzten Jahr so schön dünkte, als keine Wolke am Himmel stand, – und dann stürmen hier zu hart Erinnerungen auf mich ein.

Als ich vor einem Jahr hier war, hatte ich eben einen harten Schlag empfangen, doch war mein Innerstes noch des Lebens voll. Heute aber bin ich tot.

Sie, der Sie Annecy auch bei Regen kennen, Sie wissen, wie unheimlich es so wirkt. Ich habe meinen Freund Ermillet in seiner Werkstatt aufgesucht, und ich fand ihn so elend, so durch Krankheit verändert, daß ich ihn kaum wiedererkannte. Ich muß gestehen, daß es mich tief bedrückte, ihn so zu sehen, der einst ein so schmucker Matrose war. Doch ist er im Innern der gleiche geblieben, und ich habe ihn von Herzen gern.

Ich danke Ihnen für Ihre gute Absicht, ihn um meinetwillen kennenzulernen. Doch scheint mir dies ziemlich unmöglich, denn mein armer Freund hat eine rauhe Außenseite, und es wäre Ihnen bald unangenehm.

Ich habe hier Ihr kurzes trauriges Briefchen erhalten. Meine eigenen Angelegenheiten sind auch durchweg trüber Natur. Ich werde wohl gezwungen sein, wieder nach XImmer noch um jener Frau willen, die P. L. in Senegal gekannt hatte. zu reisen, wo mich zweifellos wieder Grausamstes erwartet. Ich habe keinen Sou im Vermögen, aber Sie wissen, daß solche Kleinigkeiten mir niemals nahegehen, und bin ich erst einmal dort, muß ich auch wieder zurückkommen, und bisher habe ich solche Knoten noch immer entwirrt.

Annecy, 30. Juni 1875.

An einem wundervollen Sommermorgen schlenderten wir zu dritt das Ufer des Sees von Annecy entlang. Still und klar blaute das Wasser zu unseren Füßen und spiegelte die hohen Berge auf seiner Oberfläche. Das Ufer war es, von dem Töpffer schrieb: »Es ist still, einsam, schattig und zauberhaft!«

Meine beiden Weggenossen waren mein treuer Freund Ermillet und die kleine Fratine, die seit kurzem wieder im Lande war. Sie trug noch immer Kleid und Hut, die sie nach meinen Angaben in Joinville verfertigt hatte. Und sie trippelte dahin, halb fröhlich, halb zum Weinen bereit, und auch ein wenig befangen, mit uns beiden allein zu sein.

Es schien als hätte sie lange schon diesen Weg vorausgeträumt, und als wäre das Wetter eigens für sie gemacht. Um sie summten fröhlich die Mücken, und auf den Bergwiesen glühte bunter Blumenflor ... Ich aber ahnte, was in dem Herzen meiner kleinen Freundin vorging, und es bekümmerte mich. Ich versuchte, ihr von Delguet zu sprechen, um ihre Gedanken abzulenken, von Delguet, den sie liebte, und der bald wiederkehren sollte ... Doch ihr Denken schweifte anderwärts, sie hörte nicht auf mich ...

Da ich Annecy nicht verlassen wollte, ohne der armen Kleinen Lebewohl gesagt zu haben, bat ich Ermillet am selben Abend, mir behilflich zu sein, ihre Wohnung zu ermitteln. Und so haben wir sie an diesem Abend von Tür zu Tür gesucht. Eine elende Schenke im alten Stadtviertel, den Kasernen benachbart, – das war die Residenz der Mutter der Fratine, eine unsagbar schmutzige Behausung voll betrunkener Soldaten, und auch den Hof füllten eine Menge zweifelhafter Gestalten. In einem raucherfüllten Raum kauerte die arme Fratine schamglühend in einer Ecke. Ihr Aussehen, ihre bescheidene Miene und ihre Pariser Kleidung stachen seltsam von ihrer elenden Umgebung ab. Hier im mütterlichen Stall mutete sie wie eine Blüte auf einem Düngerhaufen an.

Wir beide waren wie Arbeiter verkleidet. Als sie mich erkannte, spielte ihr Antlitz alle Farben, sie wagte weder vorzutreten, noch die Augen aufzuschlagen.

»Wollen Sie den morgigen Tag mit uns in Sévrier verbringen?« fragte ich sie. »Delguet erlaubt es, und mein Freund hier wird Sie abholen kommen ...«

Heiß brannte die Sonne trotz der schattenspendenden Eichen und Kastanienbäume, als wir in Sevrier ankamen. Wir verbrachten dort einen schönen Tag, und allem Anschein nach war unsere Fröhlichkeit echt. Wir tafelten in einem Landhaus bei savoyardischen Bauern. Dann liefen wir bergan ...

Trauriger war der Rückweg. Die Fratine preßte meinen Arm, zitterte zuweilen und hatte die Tränen sehr nahe ...

»Loti, werde ich Sie jemals wiedersehen?« fragte sie.

»Ich glaube kaum.«

Wir gingen noch weiter, bis der Weg kam, den sie einschlagen mußte, um unbemerkt in ihren Stall zurückzugelangen.

»Hier will ich von Ihnen Abschied nehmen, Fratine« ...

Da ließ sie sich sanft zu Boden gleiten. Wir setzten sie auf einen Stein, ich küßte sie und wir gingen ...

Doch im Weiterschreiten konnten mein Freund und ich sie noch lange sehen. Sie saß immer noch auf demselben Fleck, und ihre Brust hob sich von Zeit zu Zeit, als ob sie von Schluchzen geschüttelt würde ... Dann schob sich eine Baumgruppe wie ein Vorhang zwischen sie und uns ...

Rochefort, Januar 1876.

Ich verdiene wohl ein wenig den Vorwurf, den man mir wegen »nächtlicher Ruhestörung« macht, aber ich brauche notwendig eine mich betäubende Ablenkung. In Joinville war mein Tag zu sehr ausgefüllt, als daß mir Zeit zum Nachdenken geblieben wäre, und ich war fast so weit gekommen, meinen Schmerz vergessen zu können, doch hier, in meinem alten Hause, wo jedes Ding mich an Vergangenes gemahnt, steht die furchtbare Wirklichkeit in seiner Ganzheit vor mir auf, Sterbensbangigkeit hält mich umfaßt, und ich fühle, daß mein Leben hoffnungslos zerbrochen ward.

Wie sehr hat es mich in der Fremde nach meinem alten Haus in Rochefort gezogen! Seine Stille bedrückt mich jetzt, und wäre nicht mein liebes Mütterlein, ich wäre längst davongezogen, um nicht wiederzukehren.

Ich male nicht mehr, musiziere auch nicht. Und habe ich in einer gewissen Zeit meines Lebens gewähnt, ein Künstler zu sein, und hatte ich damals sogar einige Geistesblitze, so ward dies alles wieder sehr verdunkelt, und mehr als je empfinde ich heute mein Unvermögen, dem Ideal nahezukommen, das mir zuweilen noch vorschwebt...

Darum verbringe ich meine Abende in Schenken ...

Dies Übel ist weniger groß, als es vielleicht den Anschein hat. Die Kameraden, die ich mir wählte, haben, das ist wohl wahr, ein jedes Handwerk gelernt und sind durch viele Meere gefahren. Doch nie haben sie gestohlen, noch gemordet. Brave Seeleute sind es, mit einer genügend großen Dosis Rechtschaffenheit im Herzen. Es ist eine Handvoll Männer, die in meine Hand gegeben ist, und die bereit wäre, für mich durchs Feuer zu gehen.

Im Verein mit ihnen gibt es manchmal wohl Lärm, das gestehe ich, auch Plünderungen und Faustschläge. Aber unsere Schläge fallen immer nur auf Leute, die sie verdient haben. –

Seitdem Jean nicht mehr mein Freund ist, kommt mir in jeder Nacht der gleiche spukhafte Traum: ich träume, daß er starb. Immer spielt dieser Traum in Magellan. Zweifellos weil dies der Ort ist, an dem wir beide tief unglücklich waren und uns infolgedessen brüderlich aneinandergeschlossen hatten.

Ich träume, daß man ihn im Moos ausgestreckt findet, dort in den unheimlich schweigenden Wäldern, die wir so oft zusammen durchstreift haben ...

Und alle Nacht kommt dieser Traum zur gleichen Stunde in unheilvoller Regelmäßigkeit ...

Toulon, März 1876.

An einem Sonntag im Januar ist meine Einschiffungsordre in Rochfort eingetroffen. Ich fand sie am Abend zu Hause vor, als ich aus Rohan kam, wo ich Onkel Gustav Lebewohl gesagt hatte. Mutter und Tante Claire, die mich im Salon erwarteten, händigten sie mir ein.

In Rohan war ich mit meinem guten alten Onkel lange spazieren gegangen. Und die helle Wintersonne, das blaue Meer, der reine Himmel hatten mir Mut gegeben, so daß ich wieder hoffte, es sei noch nicht alles für mich zu Ende, so daß leise Lebensfreude wieder in mir zu keimen begann.

Lange noch werde ich dieses letzten Januartages gedenken. Mehr und mehr verflog mein Schmerz, ich hatte nur mehr den Eindruck eines seltsamen Erwecktwordenseins, ein Gefühl des Schwindels und der Leere.

Schöne Wintertage kamen, trockenes, kaltes Wetter. Meine Schwester war daheim, und jeder verwöhnte mich nach Kräften. Man brachte mir Blumen, – Christrosen aus Fontbruant. Winterzauber hüllte mich ein, Familienzauber, und der Zauber des häuslichen Herdes. Unsere gute Nachbarin, Madame Besnard, hatte mir nie zuvor so viel Freundschaft erwiesen. Herrlichen Wein sandte sie mir und sogar Süßigkeiten. Es sah gewiß komisch aus, wenn ich so viel aß und trank, und oft mußte ich selbst darüber lachen. Dann schien mir immer, als sei ich von langer Krankheit genesen. Es hieß nun, schleunigst Vorbereitungen für meine Abreise zu treffen, denn mein Befehl war befristet.

Meine Kameraden besuchten mich häufig, meine Matrosenfreunde desgleichen. Sie alle mußten sich bald einschiffen, und meine Schar war daran, sich über alle Meere zu zerstreuen.

Dann kam der Tag, der mein Gepäck entführte, und eines schönen Abends reiste ich nach Toulon.

Hier fand ich, außer der scharfen Seeluft des Mittelmeers und dem strahlenden Himmel des Südens, eine Menge von Freunden, die sich die Aufgabe stellten, mich zu zerstreuen. Und so beginne ich wirklich zu leben ...

Ich ließ mich sogar für einen Verein anwerben, der »Lyrischer Verein« heißt und unter dem Präsidium einer alten Seemannsgattin steht. Wir geben Konzerte in den Nachbarstädten, deren Erträgnis der Armenhilfe zufließt, und zuweilen wird uns von den dankbaren Behörden ein Champagnersouper geboten.

Die fröhliche Schar reist gewöhnlich in zwei Omnibussen, die Zeit vergeht unter heiteren Spielen, die alte Dame und ihre Tochter führen an.

Ich aber habe Freundschaft mit Clowns und Spaßmachern geschlossen, und meine Mußestunden verbringe ich meistens im Zirkus.

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