Brief Pierre Lotis an seinen Freund Delguet.
Annecy, 23. Juni 1873.
Lieber Freund!
Verzeihen Sie mir vor allem, daß ich Ihnen auf grauem
Papier schreibe. Es ist Hotelbriefpapier – zur Entschuldigung
sei es gesagt –, aber es hat so ziemlich die Färbung meiner
Gedanken.
Seit heute morgen bin ich in Annecy, unaufhörlicher Regen
strömt nieder, und ich kann diesem Ort keinen Zauber
abgewinnen, trotzdem er mich im letzten Jahr so schön dünkte,
als keine Wolke am Himmel stand, – und dann stürmen hier zu
hart Erinnerungen auf mich ein.
Als ich vor einem Jahr hier war, hatte ich eben einen
harten Schlag empfangen, doch war mein Innerstes noch des
Lebens voll. Heute aber bin ich tot.
Sie, der Sie Annecy auch bei Regen kennen, Sie wissen, wie
unheimlich es so wirkt. Ich habe meinen Freund Ermillet in
seiner Werkstatt aufgesucht, und ich fand ihn so elend, so
durch Krankheit verändert, daß ich ihn kaum wiedererkannte.
Ich muß gestehen, daß es mich tief bedrückte, ihn so zu sehen,
der einst ein so schmucker Matrose war. Doch ist er im Innern
der gleiche geblieben, und ich habe ihn von Herzen gern.
Ich danke Ihnen für Ihre gute Absicht, ihn um meinetwillen
kennenzulernen. Doch scheint mir dies ziemlich unmöglich, denn
mein armer Freund hat eine rauhe Außenseite, und es wäre Ihnen
bald unangenehm.
Ich habe hier Ihr kurzes trauriges Briefchen erhalten.
Meine eigenen Angelegenheiten sind auch durchweg trüber Natur.
Ich werde wohl gezwungen sein, wieder nach XImmer noch um
jener Frau willen, die P. L. in Senegal gekannt hatte. zu
reisen, wo mich zweifellos wieder Grausamstes erwartet. Ich
habe keinen Sou im Vermögen, aber Sie wissen, daß solche
Kleinigkeiten mir niemals nahegehen, und bin ich erst einmal
dort, muß ich auch wieder zurückkommen, und bisher habe ich
solche Knoten noch immer entwirrt.
Annecy, 30. Juni 1875.
An einem wundervollen Sommermorgen schlenderten wir zu
dritt das Ufer des Sees von Annecy entlang. Still und klar
blaute das Wasser zu unseren Füßen und spiegelte die hohen
Berge auf seiner Oberfläche. Das Ufer war es, von dem Töpffer
schrieb: »Es ist still, einsam, schattig und zauberhaft!«
Meine beiden Weggenossen waren mein treuer Freund Ermillet
und die kleine Fratine, die seit kurzem wieder im Lande war.
Sie trug noch immer Kleid und Hut, die sie nach meinen Angaben
in Joinville verfertigt hatte. Und sie trippelte dahin, halb
fröhlich, halb zum Weinen bereit, und auch ein wenig befangen,
mit uns beiden allein zu sein.
Es schien als hätte sie lange schon diesen Weg
vorausgeträumt, und als wäre das Wetter eigens für sie
gemacht. Um sie summten fröhlich die Mücken, und auf den
Bergwiesen glühte bunter Blumenflor ... Ich aber ahnte, was in
dem Herzen meiner kleinen Freundin vorging, und es bekümmerte
mich. Ich versuchte, ihr von Delguet zu sprechen, um ihre
Gedanken abzulenken, von Delguet, den sie liebte, und der bald
wiederkehren sollte ... Doch ihr Denken schweifte anderwärts,
sie hörte nicht auf mich ...
Da ich Annecy nicht verlassen wollte, ohne der armen
Kleinen Lebewohl gesagt zu haben, bat ich Ermillet am selben
Abend, mir behilflich zu sein, ihre Wohnung zu ermitteln. Und
so haben wir sie an diesem Abend von Tür zu Tür gesucht. Eine
elende Schenke im alten Stadtviertel, den Kasernen benachbart,
– das war die Residenz der Mutter der Fratine, eine unsagbar
schmutzige Behausung voll betrunkener Soldaten, und auch den
Hof füllten eine Menge zweifelhafter Gestalten. In einem
raucherfüllten Raum kauerte die arme Fratine schamglühend in
einer Ecke. Ihr Aussehen, ihre bescheidene Miene und ihre
Pariser Kleidung stachen seltsam von ihrer elenden Umgebung
ab. Hier im mütterlichen Stall mutete sie wie eine Blüte auf
einem Düngerhaufen an.
Wir beide waren wie Arbeiter verkleidet. Als sie mich
erkannte, spielte ihr Antlitz alle Farben, sie wagte weder
vorzutreten, noch die Augen aufzuschlagen.
»Wollen Sie den morgigen Tag mit uns in Sévrier
verbringen?« fragte ich sie. »Delguet erlaubt es, und mein
Freund hier wird Sie abholen kommen ...«
Heiß brannte die Sonne trotz der schattenspendenden Eichen
und Kastanienbäume, als wir in Sevrier ankamen. Wir
verbrachten dort einen schönen Tag, und allem Anschein nach
war unsere Fröhlichkeit echt. Wir tafelten in einem Landhaus
bei savoyardischen Bauern. Dann liefen wir bergan ...
Trauriger war der Rückweg. Die Fratine preßte meinen Arm,
zitterte zuweilen und hatte die Tränen sehr nahe ...
»Loti, werde ich Sie jemals wiedersehen?« fragte sie.
»Ich glaube kaum.«
Wir gingen noch weiter, bis der Weg kam, den sie
einschlagen mußte, um unbemerkt in ihren Stall
zurückzugelangen.
»Hier will ich von Ihnen Abschied nehmen, Fratine« ...
Da ließ sie sich sanft zu Boden gleiten. Wir setzten sie
auf einen Stein, ich küßte sie und wir gingen ...
Doch im Weiterschreiten konnten mein Freund und ich sie
noch lange sehen. Sie saß immer noch auf demselben Fleck, und
ihre Brust hob sich von Zeit zu Zeit, als ob sie von
Schluchzen geschüttelt würde ... Dann schob sich eine
Baumgruppe wie ein Vorhang zwischen sie und uns ...
Rochefort, Januar 1876.
Ich verdiene wohl ein wenig den Vorwurf, den man mir wegen
»nächtlicher Ruhestörung« macht, aber ich brauche notwendig
eine mich betäubende Ablenkung. In Joinville war mein Tag zu
sehr ausgefüllt, als daß mir Zeit zum Nachdenken geblieben
wäre, und ich war fast so weit gekommen, meinen Schmerz
vergessen zu können, doch hier, in meinem alten Hause, wo
jedes Ding mich an Vergangenes gemahnt, steht die furchtbare
Wirklichkeit in seiner Ganzheit vor mir auf,
Sterbensbangigkeit hält mich umfaßt, und ich fühle, daß mein
Leben hoffnungslos zerbrochen ward.
Wie sehr hat es mich in der Fremde nach meinem alten Haus
in Rochefort gezogen! Seine Stille bedrückt mich jetzt, und
wäre nicht mein liebes Mütterlein, ich wäre längst
davongezogen, um nicht wiederzukehren.
Ich male nicht mehr, musiziere auch nicht. Und habe ich in
einer gewissen Zeit meines Lebens gewähnt, ein Künstler zu
sein, und hatte ich damals sogar einige Geistesblitze, so ward
dies alles wieder sehr verdunkelt, und mehr als je empfinde
ich heute mein Unvermögen, dem Ideal nahezukommen, das mir
zuweilen noch vorschwebt...
Darum verbringe ich meine Abende in Schenken ...
Dies Übel ist weniger groß, als es vielleicht den Anschein
hat. Die Kameraden, die ich mir wählte, haben, das ist wohl
wahr, ein jedes Handwerk gelernt und sind durch viele Meere
gefahren. Doch nie haben sie gestohlen, noch gemordet. Brave
Seeleute sind es, mit einer genügend großen Dosis
Rechtschaffenheit im Herzen. Es ist eine Handvoll Männer, die
in meine Hand gegeben ist, und die bereit wäre, für mich
durchs Feuer zu gehen.
Im Verein mit ihnen gibt es manchmal wohl Lärm, das gestehe
ich, auch Plünderungen und Faustschläge. Aber unsere Schläge
fallen immer nur auf Leute, die sie verdient haben. –
Seitdem Jean nicht mehr mein Freund ist, kommt mir in jeder
Nacht der gleiche spukhafte Traum: ich träume, daß er starb.
Immer spielt dieser Traum in Magellan. Zweifellos weil dies
der Ort ist, an dem wir beide tief unglücklich waren und uns
infolgedessen brüderlich aneinandergeschlossen hatten.
Ich träume, daß man ihn im Moos ausgestreckt findet, dort
in den unheimlich schweigenden Wäldern, die wir so oft
zusammen durchstreift haben ...
Und alle Nacht kommt dieser Traum zur gleichen Stunde in
unheilvoller Regelmäßigkeit ...
Toulon, März 1876.
An einem Sonntag im Januar ist meine Einschiffungsordre in
Rochfort eingetroffen. Ich fand sie am Abend zu Hause vor, als
ich aus Rohan kam, wo ich Onkel Gustav Lebewohl gesagt hatte.
Mutter und Tante Claire, die mich im Salon erwarteten,
händigten sie mir ein.
In Rohan war ich mit meinem guten alten Onkel lange
spazieren gegangen. Und die helle Wintersonne, das blaue Meer,
der reine Himmel hatten mir Mut gegeben, so daß ich wieder
hoffte, es sei noch nicht alles für mich zu Ende, so daß leise
Lebensfreude wieder in mir zu keimen begann.
Lange noch werde ich dieses letzten Januartages gedenken.
Mehr und mehr verflog mein Schmerz, ich hatte nur mehr den
Eindruck eines seltsamen Erwecktwordenseins, ein Gefühl des
Schwindels und der Leere.
Schöne Wintertage kamen, trockenes, kaltes Wetter. Meine
Schwester war daheim, und jeder verwöhnte mich nach Kräften.
Man brachte mir Blumen, – Christrosen aus Fontbruant.
Winterzauber hüllte mich ein, Familienzauber, und der Zauber
des häuslichen Herdes. Unsere gute Nachbarin, Madame Besnard,
hatte mir nie zuvor so viel Freundschaft erwiesen. Herrlichen
Wein sandte sie mir und sogar Süßigkeiten. Es sah gewiß
komisch aus, wenn ich so viel aß und trank, und oft mußte ich
selbst darüber lachen. Dann schien mir immer, als sei ich von
langer Krankheit genesen. Es hieß nun, schleunigst
Vorbereitungen für meine Abreise zu treffen, denn mein Befehl
war befristet.
Meine Kameraden besuchten mich häufig, meine
Matrosenfreunde desgleichen. Sie alle mußten sich bald
einschiffen, und meine Schar war daran, sich über alle Meere
zu zerstreuen.
Dann kam der Tag, der mein Gepäck entführte, und eines
schönen Abends reiste ich nach Toulon.
Hier fand ich, außer der scharfen Seeluft des Mittelmeers
und dem strahlenden Himmel des Südens, eine Menge von
Freunden, die sich die Aufgabe stellten, mich zu zerstreuen.
Und so beginne ich wirklich zu leben ...
Ich ließ mich sogar für einen Verein anwerben, der
»Lyrischer Verein« heißt und unter dem Präsidium einer alten
Seemannsgattin steht. Wir geben Konzerte in den
Nachbarstädten, deren Erträgnis der Armenhilfe zufließt, und
zuweilen wird uns von den dankbaren Behörden ein
Champagnersouper geboten.
Die fröhliche Schar reist gewöhnlich in zwei Omnibussen,
die Zeit vergeht unter heiteren Spielen, die alte Dame und
ihre Tochter führen an.
Ich aber habe Freundschaft mit Clowns und Spaßmachern
geschlossen, und meine Mußestunden verbringe ich meistens im
Zirkus.