Auf fernen Meeren

Auf fernen Meeren

Tagebuchfragmente und Briefe

1924 n.Chr.

Pierre Loti

Inhaltsverzeichnis

Brief Pierre Lotis an Plumkett

An Bord des »Tonnerre«.

Brest, 20. Juni 1878.

Mein lieber Plumkett!

Seitdem ich aus dem tristen Lorient heraus bin, geht es besser; der Lenz ist gekommen, die Dinge rings um mich sind weniger dunkel und ich finde vielfach ins Leben zurück.

Ich hatte zwei Geliebte. Die erste war die Gattin vom Kapitän eines Küstenschiffes; sie verließ mich, da sie in ihre Heimat fuhr. Sie war einundzwanzig Jahre alt, war verliebt, war leidenschaftlich. Der Typus der schönen bretonischen Rasse aus dem Norden. Sie weinte als sie von mir Abschied nahm, und doch, seltsamerweise, hatte sie nie aufgehört, einen zu lieben, und liebte ihn über alles in der Welt: es war ihr Gatte, der Kapitän des Küstenschiffes.

Die zweite war die kleine Yvonne, die Sie kennen. Sie teilte einige Zeit hindurch ihre Gunstbezeigungen zwischen Allain, einem Quartiermeister von den Kanonieren, und mir, Ihrem ergebenen Diener Loti; und dann hat sie sich vorgestern entschieden und hat mich verlassen, da Allain sie heiratet. Auch sie war ein echtes Kind der Bretagne, blond, rosig, mit ernstem Blick. Sie überragte die Allgemeinheit, – die Grisetten, ihresgleichen – und wenn sie durch die Straßen ging, das Haupt gesenkt unter den Flügeln ihrer weißen Haube, so waren alle Blicke auf sie gerichtet.

»Yves der Seeräuber« ist recht vernünftig geworden, wie ich Ihnen bereits sagte und betrinkt sich fast niemals. Ich bewohne mit ihm zusammen ein sauberes nettes Logis in der Vorstadt Recouvrance bei einer guten alten Bretonin. Sie sagen an Bord, ich hätte mein Eyoub in Brest nochmals gefunden (aber ach, wie anders ist es, als mein Eyoub in Stambul war!).

Wir füllen unsere freie Zeit aus, indem wir Ecarté spielen. Dabei sitzen wir ganz ernst in irgendeinem sehr anständigen Winkel. Aber trotzdem sehen wir dabei ein wenig wie zwei Seeräuber im Ruhestand aus. Manchmal besuchen wir auch Ablaßfeste und die Jahrmärkte von Finistère.

An langen Juniabenden, wenn die Nebel, grauen Schleiern gleich, den bretonischen Himmel bedecken, gehen wir durch das grüne Gras, die hochbestandenen Wiesen voll rosenroter Blumen, die nur in diesem Lande wachsen, den ländlichen Festen entgegen. Die Luft ist lau und dufterfüllt.

An den Rennen und an Seiltänzerproduktionen freuen wir uns, als wären wir Kinder des Volkes. Schlägt es aber elf Uhr, sind wir wieder in unserem bescheidenen Heim in Recouvrance. Dort erwartet uns der Schlaf, der gütige Vermittler, – der ruhige Schlaf des Gesunden, der traumlos ist und in einem Zug vom Heute zum Morgen leitet.

Im Laufe von zehn Jahren habe ich mich wohl verändert. Welch Unterschied zwischen dem »Ich« von heute und dem zarten achtzehnjährigen Knaben, der, ein sentimentaler Träumer, alle Freuden mied, sich vom Frohsinn der Jugend fernhielt und seine »poetische Traurigkeit« über dieselben Pflastersteine von Brest schleppte, über welche ich nun meine Lebensfreude spazierenführe.

Der Frühling ist eine köstliche Zeit, besonders hier in der Bretagne. Lenze des Nordens, spät im Erscheinen, ein wenig umschleiert und ungewiß zuerst. Und dann mit einemmal, nach drei Sonnentagen, ein Blütenüberfluß, belaubte Bäume, warme Abende und Vogelsang.

Es ist Überraschung und Verzauberung. Und es beut um so innigeren Genuß, als der Winter länger und finsterer war. Und man ist durchdrungen von Wohlgefühl, von Frühlingszauber, frischer Wiesenluft und dem Duft der wilden Rose. –

Seit meiner Kinderzeit drang mir kein Junimond so berauschend ins Blut als dieser; nie hat der Frühling sich mir so als physisches Erlebnis offenbart, als Erneuerung alles Lebens im Steigen des Saftes und in der mächtigen Wiederkehr aller ewigen Kräfte in der Natur.

Glauben Sie mir, mein lieber Freund, gegen alle seelischen Schmerzen gibt es kein besseres Mittel als körperliche Übungen. Gegen alle ungesunden Träumereien gibt es kein wirksameres Narkotikum als Gesundheit und Kraft. Es gibt keine gesünderen Freuden als die des Volkes. Und es gibt keine verläßlichere Zuneigung als die des rohen, ungebildeten Mannes, der rückhaltlos und unberechnet liebt.

»Intellektuelle Freundschaft« gibt es nicht, dieser Begriff ist das Gespinst kranker Hirne. Freundschaft ist einfach Freundschaft, – etwas, das der Liebe gleich, die Herzen füllt und nicht zu definieren ist.

Sie und ich, wir werden nie vollkommene Freunde sein, denn wir sind wandelbar, ohne jede Konsistenz und ohne Überzeugung. Bauen wir nicht zu fest einer auf den andern; denn nur zu sehr sind wir Kinder unseres Jahrhunderts, zu raffiniert, zu skeptisch. – außerdem aber kennen wir uns zu genau, wir sehen zu hell, unser Blick reicht zu weit. Und finden wir Freude daran, tiefinnere Gedanken zu tauschen, so ist das aber auch alles. Auch gleichen wir ein wenig jenen Auguren, die, ohne lachen zu müssen, einander nicht ins Gesicht sehen konnten. Was könnten wir uns gegenseitig zu erzählen haben, mein Lieber, ohne es wohlbekannt, verbraucht und abgeschmackt zu finden?

Aber noch ist das Leben schön, und Gesundheit und Jugend sind die höchsten Güter dieser Erde.

Brest (Recouvrance), Juni 1878.

An einem schönen Frühlingstage saß ich, zwei Uhr mochte es gerade sein, in trägem Halbschlummer in einem Lehnstuhl meines lichten Zimmers und wartete auf Yves, der von Bord kommen sollte.

Plötzlich ließ eine Stimme, die von der Straße heraufdrang, mich jäh aufschrecken. Ein Bettler war es, der mit leisem Laut einige trübe Töne sang, so trüb, daß sie in die Seele drangen. Was aber daran so seltsam war: Dies Lied rief mir ein anderes wach, ein anderes, das ich vergessen hatte ...

Fern dort, im Orient, in Pera, wo ich wohnte, wanderte in den heißesten Stunden des Tages oft ein Bettler an meinen Fenstern vorüber, der so wie dieser sang. In gleicher Klangfarbe, mit fast denselben traurigen Tönen. Nur war er, der dort sang, ein Jüngling asiatischen Blutes, ein Blinder, mit mageren, regelmäßigen und melancholischen Zügen, aus welchen zwei weitaufgetane, weiße Augen blicklos ins Leere schauten ...

An jedem Punkte des Bosporus, in Beiros, in Skutari, in Therapis, hörte ich später dann dies gleiche klagende Lied. Und sah denselben Jüngling, wie er, in seinen weißen Burnus gehüllt, durch Nacht und Tag vor sich hin wanderte, mit regelmäßigem, unbeirrbarem Schritt. Sein Stock suchte den Boden ab, und seine Stimme sang die schwermütige Weise.

Noch später, als der Winter kam und als Aziyadé bei mir weilte, hörten wir den blinden Bettler an unseren Fenstern in Eyoub vorübergehen. Am Abend war's, beim Sinken der Nacht, und wir schauerten beim Klang seiner Stimme.

»Loti,« hatte Aziyadé gesagt, »versprich mir, daß Du ihn stets beschenkst, wo immer Du ihn findest. Es brächte uns Unglück, ließen wir ihn vorüberziehen, ohne ihm eine Gabe zu reichen!«

Und sie selbst brachte mir oft ihre Spenden für ihn; kleine weiße Münzen, die sie ihm zugedacht hatte. Dann ging ich hinab, um sie in seine Hand zu legen. (Im Orient wirft man ein Almosen nicht hin, sondern gibt es.)

Eines Morgens hatte sie große Angst. Es war im Februar, noch ein wenig vor Tag, die Stunde, wo das Lied der Muezzin erschallt, da ging sie allein fort, in ihren grauen Féredjé eingehüllt. Hoch lag leichter, lichter Schnee auf dem Grund, es schien, als sei ein blendend weißes Tuch über Eyoub gebreitet.

Am schmalen Ausgang der Moschee, wo sonst nie jemand zu sehen war zu dieser schweigsamen Stunde, ragte einsam ein menschlicher Schatten.

Und in der fahlen Dämmerung, wie sie dem Wintermorgen vorausgeht, erkannte sie den Bettler, der ohne Regung stand, das Haupt zum Himmel erhoben, wie wenn ein Mensch still im Gebet verweilt.

Um zu ihrer Betbank zu gelangen, war sie gezwungen, den Burnus des Blinden zu streifen und an dem leeren Blick seiner weißen Augen vorbeizugehen ...

Jener jedoch, der unter meinen Fenstern in Recouvrance gesungen hat, war ein alter Bretone in der Tracht der Bauern von Plouegastel ... Und ein Zufall hat es gefügt, daß diesen beiden Männern, dem Bretagner wie dem Tataren, an beiden Enden Europas, von tiefer Not das gleiche Singen eingegeben ward ...

Brest, 10. Juni 1878.

Heute morgen hielt ich auf der großen Brücke von Brest Gildas Kermadec, Yves' Bruder, eine lange Standpauke, denn er hatte mir gestern seinen Bruder totbetrunken heimgeschickt. Ich war sehr erbost gegen den langen Seeräuber und habe ihn sogar ein wenig gezaust.

Aber er hat es fertig gebracht, daß ich plötzlich alle Haltung verlor und ihm lachend die Hand entgegenstreckte, die er herzlich drückte.

Auch hierin hatte die alte Bretonin recht gehabt: er hatte einen harten Kopf, ihr Sohn Gildas, aber er war gut und war treu wie Gold.

Am Abend dieses selben Tages, des 16. Juni, wanderten wir zu dreien, alle mit Kerzen in der Hand, einen Waldweg nahe Brest entlang. Drei Freunde: de R., Yves und ich.

De R., ein Schiffsfähnrich, war uns acht Monate hindurch ein guter Freund gewesen, und er verdient es wohl, daß ich ihn in diesen Blättern erwähne: Ein nobler Bretone, vielleicht ein wenig zu sehr auf hohem Piedestal, ein wenig zu stolz gegen seinesgleichen, – uns ausgenommen – im übrigen der Vertraute aller unserer Unternehmungen und der beste Junge der Welt.

Knapp ehe er nach Japan abgehen sollte, hatte er uns ein Abschiedsessen gegeben.

Das hatten wir eben in einem Waldrestaurant absolviert, das reizend am Wasser gelegen war, von grünen Laubkronen überwölbt, in welchen Finken und Nachtigallen schlugen. Und nun gingen wir drei über lenzgrüne Pfade zurück. Der Schein unserer Kerzen überstrahlte die Heckenrosensträucher, die sich schier bogen unter ihrer hellen duftenden Blütenlast, kleine Vöglein und braune Maikäfer schwirrten allenthalben umher.

Lind, schwarz und lichtlos war die Nacht. Von keinem Hauch ward die Luft bewegt. Selten nur hatte das Bild des Lebens sich mir in so sanften Farben gewiesen, als an diesem schönen Juniabend.

Unmöglich können Worte den Zauber wiedergeben, der die Natur gefangen hielt. Wir schritten singend dahin, und so oft ein Wirtshaus am Wege stand, kehrten wir ein, um auszuruhen.

Wie schön war das Leben! Wie gut war's doch, so jung zu sein und doch als alte Freunde durch die blühende Bretagne zu schreiten, oder, gute Zigaretten zur Hand, vor einem Glase süßem Most zu sitzen.

Zum Teufel mit allen trüben Träumereien, allen Schwermutsgedanken trauriger Poeten. Noch gibt es schöne Tage im Leben, frohe Stunden voll von Jugendglück und Leidvergessen, noch schlagen gute Herzen unter der Sonne und treue Freunde gibt es auf der Erde.

Brest, Juni 1878.

Es gibt Melodien, die in meinem Gedächtnis von Situationen und Epochen meines Lebens nicht zu trennen sind. Und ihnen ist es seltsam eigen, vergangene Eindrücke neu aufleben zu lassen – und wären es die, die am längsten zurückliegen, die am tiefsten vergessen sind!

So ersteht mir die qualvolle Zeit, die ich im Frühling 1870 in der Reede von Salonique verlebte, vollkommen wieder, wenn Opheliens Lied erklingt:

Blond ruht und bleich

Im Wasserreich

Die Willis mit dem Blick voll Glut.

Hab' jeder acht,

Der unbedacht

Zu lang weilt an der Wasserflut.

Den Winter in Eyroub zaubert mir das Lied des Muezzin zurück: »Allah illah Allah! ve Mohamed recoul Allah.«

Das bretonische Lied von den »Drei Matrosen von Groix« charakterisiert für mich den tristen Aufenthalt in Lorient.

Den heurigen Frühling in Brest malt mir dieses Lied, das hier im hohen grünen Gras gesungen wird:

Unterm span'schen Himmelszelt

Ohne Trunk und Speisen Reisen,

Sonst nichts haben auf der Welt

Außer Durst und Hungerspein,

Ist nicht fein!

Usw. ...

Recouvrance, 19. Juni 1878.

Sturmnacht. Es bläst, als wollte es die Häuser umreißen.

Ich bin ein wenig besorgt, wie es wohl an Bord zugehen mag und ob meine Abwesenheit nicht auffällt.

Die ganze Nacht hindurch schüttelt der Wind unser altes Haus in Recouvrance. Die Katze meiner Hausfrau miaut vor unserer Tür, bis der Morgen kommt, – klägliche Musik, klägliche Situation.

Yves verläßt mich um vier Uhr morgens. Ich bin recht besorgt, wie seine Rückkehr an Bord sich gestaltet. Es regnet in Strömen, und immer stärker heult der Wind.

Um sieben Uhr stehe ich bei der großen Brücke. Rings wütet fessellos der Sturm. Aber Yves ist da. Er ist gekommen, mich mit der Schaluppe abzuholen. Viel Leute füllen die Brücke und die Kais, – Matrosen und Weiber, und alle sehen voll Angst auf die Reede hinaus, der ganz weiß ist vor Schaum und Gischt.

Yves, der sehr aufgeregt ist, läuft mir entgegen:

»Man räumt den Tonnerre,« sagt er. »Eben kam die Depesche aus Paris, und morgen müssen wir im Hafen sein!« –

20. Juni Der »Tonnerre« liegt im Hafen von Brest. Wieder ein beendeter Feldzug. Den ganzen Morgen habe ich Bordwache. Der Regen strömt weiter.

Am Nachmittag erwarte ich Yves in der Wohnung von Recouvrance, die wir bald für immer werden räumen müssen. Doch kommt er erst um ein halb sechs Uhr: »Verspätung wegen Ausladen des Schiffsraums« erklärt er.

Da ich ein Bild von ihm haben möchte, führe ich ihn zu Bernier, dem Photographen. Yves macht beim Aufnehmen sehr viel Umstände. Sein Gesicht ist ihm zu schwarz und seine Haltung scheint ihm schlecht.

Am Abend kommen wir bei strömendem Regen an Bord zurück: Yves in Zivil, was streng verboten ist. –

21. Juni. Bewegter Tag. Schöner und glücklicher Tag für Yves. Ich gehe schon um acht Uhr morgens ans Land und suche den Divisionskommandanten auf.

Um zwei Uhr versammelt sich der hohe Rat, der über Avancements zu entscheiden hat, an Bord des »Tonnerre«. Stürmische Debatte. Für Yves stimmen natürlich alle Offiziere, voran ich, – gegen ihn der zweite Kommandant, der von der Mannschaft der »Medée« unter der Hand bearbeitet worden ist.

Der Chefkommandant sagt kein Wort in die Diskussion hinein, die voller Leidenschaft und heftig fortgeführt wird. Dann aber wendet er sich lächelnd zu mir: »Kermadec wird trotzdem fünf Stimmen haben, denn er bekommt auch meine.«

Die Schlacht ist gewonnen. Yves ist in die erste Klasse seines Ranges vorgerückt.

Eine Stunde später erhalte ich noch unerwartet die Erlaubnis für meinen Freund, den »Tonnerre« sofort verlassen zu dürfen. Nun bleibt ihm nichts zu wünschen übrig. Schon morgen kann er nach Toulven abreisen, wo sein kleiner Sohn auf ihn wartet.

Um fünf Uhr verlassen wir das Schiff. Yves, der glücklich ist wie ein König, führt seinen Reisesack mit sich.

Rendezvous nach Tisch auf dem Jahrmarkt von Brest. Zum letztenmal Ringelspiel, Holzpferde usw. Yves, der sonst so ernste, ist heute heiter wie ein Kind. Er hat eine Menge urkomischer Einfälle und hält jeden zum besten.

22. Juni. Abschied an Bord des »Tonnerre«. Alle Welt zerstreut sich, und das Schiff ist gewesen.

Große Inspektion, bei welcher die gestrigen Vorschläge und Avancements verkündet werden.

»Yves Kermadec in die erste Klasse seines Ranges vorgerückt.«

Nichts für die Herren von der »Medée«.

Dann hat ein alter Dienstmann meine zweihundert Kilo Gepäck geholt und hat sie schlecht und recht nach Recouvrance expediert. Das Wetter war strahlend schön. Nach den bangen Tagen voll Regen und Kummer, die eben vorüber waren, war ein jeder neu belebt, und Yves ward nicht müde, das immer wieder zu versichern.

Um zwei Uhr ist mein lieber Yves abgereist, glücklich, weil er nun bald Weib und Kind umarmen sollte, weil er im Rang vorgerückt war, und weil er all dies mir verdankte. Beim Abschied von mir war er aber recht traurig, und auch ich hatte ein schweres Herz, auch ich, ich will es gestehen. Wir armen Matrosen wissen nicht, ob das blinde Geschick uns je wieder zusammenführt!

Ich habe ihn, Yves Kermadec, sehr liebgehabt. Gar schnell ist unsere Zuneigung gewachsen. Mag sein, daß dies kam, weil ich ihn vor mancher Gefahr bewahrt habe.

Jetzt bin ich bald mit dem Kofferpacken in unserer Wohnung in Recouvrance zu Ende. Acht Uhr ist's, ein schöner Juniabend; aber es ist noch schmerzlicher für mich, an einem schönen Abend im Juni allein zu sein: solch lange Abendstunden locken Träume herbei und wecken all meine lieben Erinnerungen aus vergangener Zeit. –

Fröhlich kommen Menschen vom Spaziergang heim und Matrosen gehen singend an meinen offenen Fenstern vorüber. Durch den Äther schießen flinke Schwalben, und der Sommer duftet überall.

Auf den Möbeln dieses Zimmers, das er nicht mehr betreten wird, liegen noch Yves' Reisesack, seine silberne Quartiermeisterpfeife und seine Mütze mit dem Zeichen 2091 P.

Ein Abschnitt unseres Daseins hat unwiederbringlich geendet.

Paris, Juni 1878.

Montag, am 23. Juni, Abfahrt von Brest. Immer noch ist das Wetter herrlich. Grün und in Blüte steht die Bretagne.

In Lorient zehn Minuten Aufenthalt. Meine Freunde, die ich verständigt hatte, warten auf dem Kai. Ein flüchtiger Gruß nur gilt der grauen Stadt, wo ich so tödlich bange Tage verbrachte.

In Redon Zusammentreffen mit einem amerikanischen Ingenieur, der mir bis Paris Gesellschaft leistet. Der gute Mann spricht englisch, ich antworte türkisch. Daraus ergibt sich eine originelle und recht bewegte Konversation.

Als ich beim nächsten Tagesgrauen erwachte, hatte sich das Antlitz der Landschaft verändert, und die alte Bretagne war weit. Keine mächtigen Wälder, keine grauen Felsen, keine alten Granitkirchlein, weder Moos noch Moosflechte, kein hohes Gras voll rosa Blüten, nichts als die albern ebene Umgebung von Paris, und die Befestigungen.

Mit tiefem Widerwillen streifte mein Auge nun wieder diese menschlichen Bienenkörbe aus Ziegel und Backstein, die Fabrikschlote, empfand ich die dumpfe, ungesunde Luft, dies Element der Vorstädte.

Die kleine Hütte, die Yves in Toulven besaß, stand recht einfach, recht arm und wie verloren am Waldpfad fern in der Bretagne. Aber um sie her waren Frische und rechtschaffenes Leben ...

Zwar hat der Jardin du Luxembourg lauschige Winkel, mächtige Bäume, gut gepflegte, leuchtend grüne Rasenflächen und Bänke, auf welchen man zur Sommerszeit am frühen Morgen stundenlang träumen kann, ohne von Spaziergängern gestört zu werden. In diesem Garten weben frühe Erinnerungen meines Lebens: mit siebzehn Jahren habe ich sehr oft hier gesessen ...

Hier war es also, nahe dem Medicibrunnen, daß ich heute morgen, am 24. Juni, als ich den Zug verlassen hatte, der mich aus der Bretagne hierher gebracht, mir zwei Stunden tiefinnerer Einkehr gewährte, ehe ich es schicklich fand, bei Freunden vorzusprechen.

Seltsam schimmernd zog mein ganzes Leben an mir vorbei, mit allen Menschen, die es durchkreuzt, mit allen Situationen, die ich durchlebt und mit den Bühnenbildern von sämtlichen Ländern der Erde, – eine lange Folge, trüben Schauens voll, das mit den Jahren immer trüber wird, und bald durch nichts mehr froh gestimmt werden kann. Ungeheure Sehnsucht nach Frieden, Seelenruhe und Einsamkeit überkam mich da: und selbst des Klosters Stille hätte ich in diesem Augenblick dem lauten Lärmen von Paris vorgezogen.

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