Auf fernen Meeren

Auf fernen Meeren

Tagebuchfragmente und Briefe

1924 n.Chr.

Pierre Loti

Inhaltsverzeichnis

Brief Pierre Lotis an Madame X in Paris

Lorient, April 1878.

... Wenn ich Dir weh getan habe, verzeihe mir. Du weißt, ich habe meine bösen Tage. Da ist mein Herz eiskalt und bleibt für alle verschlossen. Auf jener letzten Reise sah ich Dich wohl in anderem Lichte, aber es war, im Gegenteil, ein weitaus sympathischeres ... Bis dahin hatte ich in Dir nur einen Menschen im Glück gesehen, mit einer gewissen positivistischen Philosophie begabt, die Dir zu genügen schien; ich glaubte Dich relativ ruhig, zufrieden in jenen Kälteregionen. Ich trug es Dir sogar ein wenig nach, daß Du eine Art Frieden fandest jenseits aller Ideen von Erlösung und ewigem Leben, welchen ich trotz meiner tiefen Ungläubigkeit doch mit dem Herzen verbunden bleibe ...

Im Gegenteil, als ich kürzlich mit Dir sprach, empfand ich manches voraus, was Du nun so erschütternd niederschriebst. Da sah ich, daß Dein Herz auch voller Wirrnis ist, gequält und verzweifelt wie das meine. Das gleiche Chaos, die gleiche Not, um nichts mehr, um nichts besser, die gleiche furchtbare Leere. Wir brauchen uns gegenseitig nicht mehr zu beneiden. Doch fühlen wir beide zu sehr nach der nämlichen Richtung hin, um wirklich befreundet sein zu können ...

Siehst Du, ich, ich bin doch noch jung, aber ich merke schaudernd, daß ich bald dahin gelangen werde, wo Du jetzt bist. »Sich ausstrecken, um das Ende zu erwarten« – der Wunsch steigt manchmal in mir auf.

Und dennoch gibt es etwas, was alles im Leben bedeutet. Die Liebe. Ich habe reizende Mätressen gehabt und werde zweifellos noch viele haben. Es sind Frauen unter ihnen gewesen, die ich sehr anbetete. So, daß ich furchtbaren Schmerz empfand, dachte ich daran, daß eines Tages der Tod uns scheiden könnte, und daß dann alles in Staub vergeht ... Ich träumte davon, man möge uns im gleichen Grab begraben, damit unserer beider Asche sich menge.

Und diese Frauen habe ich vergessen. Ich habe andere geliebt und habe ebenso geträumt. Die Zeit vergeht, die mich von hinnen trägt, und bald, bald kommt das Alter.

An Freunde glaube ich kaum. Und dennoch habe ich ihrer mehr gehabt als sonst wohl jemand auf Erden ... Oft stieß ich auf Zuneigung, auf blinde Ergebenheit. Ich klaubte Seeräuber in den Straßen auf und nahm sie an mein Herz. Bei ihnen fand ich mehr Jugend und Leben, und mächtigere, weniger banale Gefühle als bei meinesgleichen ... Aber alles geht unaufhaltsam vorüber.

Wenn die späten Jahre da sein werden, mit Leiden vielleicht, mit Falten und grauen Haaren, wenn mir keine andere Liebe mehr blüht als jene, die käuflich ist, wenn ich wie ein altes, schadhaftes Gerät zur Seite gelegt sein werde, – was, guter Gott, bleibt mir dann außer Selbstmord?

Jene, die Du und ich als Einfältige verachten, die anbetend Christus zu Füßen liegen, jene, versichere ich Dir, sind die Glücklichen dieser Erde. Die Not der Zeit, die vorübergeht, die Not des Einsamseins, das Grauen vor dem nahenden Nichts – all dies ist ihnen unbekannt. Sie gehen dahin voll Ruhe und Vertrauen. Mein Leben gäbe ich darum, ihre leuchtende Illusion zu besitzen; würde sie mir selbst nur mit der Geistesverfassung von armen Tollhäuslern, die in dem Glauben leben, die Reichen und Mächtigen der Erde zu sein.

Und wenn dieser Glaube fehlt, – wenn wir dann wenigstens nach etwas anderem blicken könnten, nach einem Hoffnungsstern, einer Unsterblichkeit ... Doch nichts! ... Denn außer der noch strahlenden Christusgestalt ist alles Schrecken und Finsternis ...

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