Brief Pierre Lotis an Madame X in Paris
Lorient, April 1878.
... Wenn ich Dir weh getan habe, verzeihe mir. Du weißt,
ich habe meine bösen Tage. Da ist mein Herz eiskalt und bleibt
für alle verschlossen. Auf jener letzten Reise sah ich Dich
wohl in anderem Lichte, aber es war, im Gegenteil, ein weitaus
sympathischeres ... Bis dahin hatte ich in Dir nur einen
Menschen im Glück gesehen, mit einer gewissen positivistischen
Philosophie begabt, die Dir zu genügen schien; ich glaubte
Dich relativ ruhig, zufrieden in jenen Kälteregionen. Ich trug
es Dir sogar ein wenig nach, daß Du eine Art Frieden fandest
jenseits aller Ideen von Erlösung und ewigem Leben, welchen
ich trotz meiner tiefen Ungläubigkeit doch mit dem Herzen
verbunden bleibe ...
Im Gegenteil, als ich kürzlich mit Dir sprach, empfand ich
manches voraus, was Du nun so erschütternd niederschriebst. Da
sah ich, daß Dein Herz auch voller Wirrnis ist, gequält und
verzweifelt wie das meine. Das gleiche Chaos, die gleiche Not,
um nichts mehr, um nichts besser, die gleiche furchtbare
Leere. Wir brauchen uns gegenseitig nicht mehr zu beneiden.
Doch fühlen wir beide zu sehr nach der nämlichen Richtung hin,
um wirklich befreundet sein zu können ...
Siehst Du, ich, ich bin doch noch jung, aber ich merke
schaudernd, daß ich bald dahin gelangen werde, wo Du jetzt
bist. »Sich ausstrecken, um das Ende zu erwarten« – der Wunsch
steigt manchmal in mir auf.
Und dennoch gibt es etwas, was alles im Leben bedeutet. Die
Liebe. Ich habe reizende Mätressen gehabt und werde zweifellos
noch viele haben. Es sind Frauen unter ihnen gewesen, die ich
sehr anbetete. So, daß ich furchtbaren Schmerz empfand, dachte
ich daran, daß eines Tages der Tod uns scheiden könnte, und
daß dann alles in Staub vergeht ... Ich träumte davon, man
möge uns im gleichen Grab begraben, damit unserer beider Asche
sich menge.
Und diese Frauen habe ich vergessen. Ich habe andere
geliebt und habe ebenso geträumt. Die Zeit vergeht, die mich
von hinnen trägt, und bald, bald kommt das Alter.
An Freunde glaube ich kaum. Und dennoch habe ich ihrer mehr
gehabt als sonst wohl jemand auf Erden ... Oft stieß ich auf
Zuneigung, auf blinde Ergebenheit. Ich klaubte Seeräuber in
den Straßen auf und nahm sie an mein Herz. Bei ihnen fand ich
mehr Jugend und Leben, und mächtigere, weniger banale Gefühle
als bei meinesgleichen ... Aber alles geht unaufhaltsam
vorüber.
Wenn die späten Jahre da sein werden, mit Leiden
vielleicht, mit Falten und grauen Haaren, wenn mir keine
andere Liebe mehr blüht als jene, die käuflich ist, wenn ich
wie ein altes, schadhaftes Gerät zur Seite gelegt sein werde,
– was, guter Gott, bleibt mir dann außer Selbstmord?
Jene, die Du und ich als Einfältige verachten, die anbetend
Christus zu Füßen liegen, jene, versichere ich Dir, sind die
Glücklichen dieser Erde. Die Not der Zeit, die vorübergeht,
die Not des Einsamseins, das Grauen vor dem nahenden Nichts –
all dies ist ihnen unbekannt. Sie gehen dahin voll Ruhe und
Vertrauen. Mein Leben gäbe ich darum, ihre leuchtende Illusion
zu besitzen; würde sie mir selbst nur mit der
Geistesverfassung von armen Tollhäuslern, die in dem Glauben
leben, die Reichen und Mächtigen der Erde zu sein.
Und wenn dieser Glaube fehlt, – wenn wir dann wenigstens
nach etwas anderem blicken könnten, nach einem Hoffnungsstern,
einer Unsterblichkeit ... Doch nichts! ... Denn außer der noch
strahlenden Christusgestalt ist alles Schrecken und Finsternis
...