Auf fernen Meeren

Auf fernen Meeren

Tagebuchfragmente und Briefe

1924 n.Chr.

Pierre Loti

Inhaltsverzeichnis

An Bord des »Vaudreuil«

Feuerland, September 1871.

Die ausgedehnte bergige Insel Feuerland ist in ihrem ganzen östlichen Teil von Urwäldern bedeckt, die sozusagen undurchdringlich sind. Ihr Himmel ist nebelumhangen, ihr Klima dem der kältesten Landstriche in Europa vergleichbar.

Es ist ein mühselig Vorwärtsdringen, ein Anklammern an Zweige mitten in diesen zeitlosen Wäldern, wo abgestorbene Bäume den Weg versperren. Der Boden ist bedeckt mit Überresten von vielerlei Vegetation, die Jahrhunderte in regelmäßiger Folge hier aufgehäuft haben, und in welchen man gänzlich zu versinken droht. Moosflechten sind im immerwährenden Waldesschatten zu üppiger Entwicklung gediehen, und ihre wirren filzigen Massen bedecken alles ringsumher.

Dies reglose Stück Natur bietet dem Blick an trüben Wintertagen ein sonderbar gespenstiges Bild. Die Einsamkeit und die tiefe Stille weit und breit legen sich beklemmend aufs Herz.

Auf unseren weiten, beschwerlichen Streifzügen durch dieses Land stießen wir eines Tages auf etwas, was wir hier weder vermuteten, noch suchten: auf eine Schar Indianer, deren Urzustand alles, was wir bisher ähnliches gesehen, weit hinter sich zurückließ; es war eine Art idealen Wildentums. Schauplatz war der Wald an einem Wintermorgen, nahe einer tiefen Bucht, in welche zweifellos vor uns noch kein Europäer eingedrungen war. Die Gegenwart dieser Lebewesen verriet sich uns durch ein Geräusch von Lauten in unbekannter Klangfarbe. Und als wir mitten im dichten Gezweig langsam vorwärtsschlichen, standen wir bald vor einem Schauspiel, das uns so neu als scheußlich war.

Die Wilden saßen oder hockten mit der Gefräßigkeit reißender Tiere vor ihrer Morgenmahlzeit. Furchtbare Hunde, die mit ihnen fraßen, hatten bei unserem Nahen nicht angeschlagen, und so konnten wir sie einen Augenblick lang unbemerkt beobachten. –

Der Hauptteil ihres Frühstücks bestand aus Muscheltieren. Doch sahen wir auch, wie zwei Pinguine in Teile gerissen wurden, die diese vom Hunger getriebenen Menschen nicht zuzubereiten für nötig hielten. Junge Weiber von abstoßendem Äußern bissen selbst in ihre noch befiederten Flügel.

Unser Erscheinen erschreckte die Familie maßlos. Das gab sich vorerst durch wilde Gesten und lautes Schreien kund; dann aber waren sie alle in einem Augenblick ins Dickicht geglitten und darin verschwunden, und man hörte nur mehr ein ruckweises Geräusch, das, von ihren Kehlen hervorgebracht, den Lauten glich, die gereizte Affen von sich geben.

Doch sie waren bald so zahm wie jene andern in der St. Nicolaus-Bai, als wir ihnen Zwieback und Brot reichten.

Da wurden wir sofort umringt, neugierig betrachtet und betastet. Man fand uns wunderbar, unsere Kleidung lächerlich. Und sie teilten sich ihre Beobachtungen mit einem undefinierbar komischen Ausdruck in Miene und Gebärde mit. Ihre häßlichen, eckigen, mageren Köpfe zeigten alle dasselbe Gesicht, wie es bei ganz tiefstehenden unvermischten Rassen der Fall ist. Ihr Haar, rötlichbraun wie bei den meisten indischen Volksstämmen, hing lang über dem Hals und stand kurz und struppig über der Stirn. Langhaarige Fellmäntel hingen als einzige Bekleidung von ihren Schultern herab; weder die heftige Kälte, noch irgendeine leise Spur von Schamgefühl konnten sie jemals zwingen, ihre häßlichen, mit Fischtran überstrichenen Leiber zu bedecken.

Die Boote, in denen sie gekommen waren, waren aus mehreren Balken roh gezimmert und zusammengesetzt. Wir fanden Netze darin, die aus Binsen geflochten waren, knöcherne Messer, solchen aus der Steinzeit ähnlich, Pfeile und Pinguineier.

Ein Fellbündel, das wohl absichtlich dort versteckt worden war, erregte unsere Aufmerksamkeit, doch als wir es berühren wollten, fielen uns schreiend und drohend die Frauen in den Arm. Es waren zwei ganz kleine Kinder, die, in Fuchshäute eingehüllt, schliefen. Da sahen wir, daß in diesen Weibern auch, wie sonst in Mensch und Tier, die Mutterliebe schlief, und das hob sie in unseren Augen höher empor.

Die Südseite des Feuerlandes, die unausgesetzt von furchtbaren Schneestürmen gepeitscht wird, ist überall entblößt. Und die südlichsten in der Gruppe dieser Inseln, jene unter anderen, die das Kap Horn einschließt, strecken kahle Felsen in die Luft, die Pinguinen und Robben zum Tummelplatz dienen. Das sind gefährliche Küsten, an die ohne Ende das wütende Meer anschlägt, und die von Seeleuten sehr gefürchtet werden.

Mitten in diesen trostlosen Landstrichen liegt das Elend-Eiland, das durch den besonders herzbeklemmenden Anblick, den es gewährt, in jeder Hinsicht seinen Namen rechtfertigt. Es trägt nur spärliche Vegetation in weiter öder Einsamkeit, und überall lagert Moosflechte. Von Zeit zu Zeit erblickt der Wanderer Gruppen zwerghaft verkrüppelter, ja selbst toter Bäume, deren Gerüste, vom Winde gebleicht und gebogen, seltsame Formen angenommen haben. Finstere, feuchte Kälte allenthalben, kein Lebewesen rings zu erspähen, und immerfort die gleiche fürchterliche Stille.

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