Brief
Imam Chamene'is an die Jugend im WestenNach seinem
ersten Brief
Brief an die Jugend in Europa und Nordamerika wendet sich
Imam Chamene’i erneut an die Jugend im Westen. Hier der
Wortlaut seines Briefes vom 29. November 2015 in der deutschen
Übersetzung:
2. Brief des Islamischen Revolutionsführers Imam Chamene’i
an die Jugend im Westen
Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Begnadenden
An alle jungen Menschen in den westlichen Staaten!
Die bitteren Vorfälle, die in Frankreich durch blinden
Terrorismus ausgelöst wurden, haben mich erneut dazu bewogen
mit Euch jungen Menschen in den Dialog zu treten. Ich bedauere
es, dass solche Ereignisse der Anlass dazu sein müssen. Aber
der Schaden wird noch viel größer sein, falls schmerzhafte
Ereignisse nicht zur Suche nach Auswegen und zum
Gedankenaustausch führen.
Das Leid jedes einzelnen Menschen, wo immer auf der Welt,
stimmt von Natur aus die Mitmenschen traurig. Ein Kind, das
vor den Augen seiner Lieben stirbt, eine Mutter, deren
familiäres Glück sich plötzlich in Trauer wandelt, ein Mann,
der den leblosen Körper seiner Frau rennend in eine Richtung
wegträgt oder ein Zuschauer, der nicht weiß, dass er in
einigen Augenblicken die letzte Szene seines eigenen Lebens
sehen wird – alles Szenarien, die die Gefühle und Emotionen
eines Menschen aufwühlen. Wer auch nur einen Hauch Liebe und
Menschlichkeit besitzt, den lassen solche Szenen nicht
unberührt und erfüllen ihn mit Schmerz, ob sie sich nun in
Frankreich abspielen oder in Palästina, Irak, Libanon oder
Syrien.
Eineinhalb Milliarden Muslime hegen mit Gewissheit dasselbe
Gefühl und verabscheuen die Urheber dieser Tragödien. Aber das
Leid von heute muss zum Aufbau eines besseren und sichereren
morgen führen. Ansonsten wird es nur eine bittere und nutzlose
Erinnerung bleiben. Ich bin davon überzeugt, dass nur Ihr
jungen Leute imstande sein werdet, aus den Wirren von heute
neue Lösungen für die Gestaltung der Zukunft zu finden und
Irrwege zu blockieren, die den Westen in die jetzige Lage
versetzt haben.
Es ist richtig, dass der Terrorismus heute der gemeinsame
Schmerz von uns und euch ist. Doch solltet Ihr wissen, dass
die Unsicherheit und Aufregung, die Ihr bei den jüngsten
Ereignissen erlebt habt, in zweierlei Hinsicht einen großen
Unterschied zu dem Leid aufweist, welche die Menschen im Irak,
Jemen, Syrien und Afghanistan seit Jahren ertragen: Erstens
ist die Islamische Welt in grundlegend weitreichenderen
Dimensionen, größerem Umfang und seit sehr viel längerer Zeit
Opfer von Schrecken, Furcht und Gewalt. Zweitens wurden diese
Aggressionen leider kontinuierlich seitens einiger großer
Mächte auf verschiedene Art und Weise effektiv unterstützt.
Es gibt heutzutage kaum jemanden, der nicht von der Rolle
der USA bei der Bildung oder Stärkung und Bewaffnung der
Al-Qaida, Taliban und deren üblen Nachfolger wüsste. Neben
diesen direkten Hilfen befinden sich die offenen und bekannten
Unterstützer des takfiristischen[1] Terrorismus, trotz ihrer
rückständigsten politischen Systeme, stets in der Reihe der
Verbündeten des Westens. Hingegen werden die
fortschrittlichsten und offenkundigsten Ideologien in der
Region, die dem lebendigen Volkswillen entspringen,
erbarmungslos unterdrückt. Der doppelzüngige Umgang des
Westens mit der Erwachungsbewegung in der Islamischen Welt
liefert ein anschauliches Beispiel für die Widersprüchlichkeit
der westlichen Politik.
Diese Widersprüchlichkeit zeigt sich auch in der
Unterstützung für den Staatsterrorismus Israels. Das
unterdrückte palästinensische Volk erlebt seit mehr als 60
Jahren die schlimmste Art von Terrorismus. Die Bürger in
Europa suchen nun für einige Tage in ihren Häusern Schutz und
meiden Versammlungen und überfüllte Plätze, wohingegen eine
palästinensische Familie seit Jahrzehnten nicht einmal im
eigenen Haus vor der Tötungs- und Zerstörungsmaschinerie des
zionistischen Regimes sicher ist. Gibt es heute eine
Gewalttat, die sich hinsichtlich ihrer Kaltblütigkeit mit dem
Siedlungsbau des zionistischen Regimes vergleichen ließe?
Dieses Regime zerstört tagtäglich die Häuser der
Palästinenser, ihre Plantagen und Äcker, und gibt ihnen noch
nicht einmal die Gelegenheit dazu, ihr Hab und Gut in
Sicherheit zu bringen oder ihre Ernte zu sammeln. Es wird
dafür niemals ernsthaft und wirksam von seinen einflussreichen
Verbündeten oder zumindest von den scheinbar unabhängigen
internationalen Organisationen gerügt. Und all dies spielt
sich für gewöhnlich vor den entsetzten Blicken und
tränenerfüllten Augen der Frauen und Kinder ab, welche
erleben, wie Mitglieder ihrer Familie verprügelt und verletzt
oder in einigen Fällen zu den schrecklichen Folterstätten
abtransportiert werden. Kennt Ihr in der heutigen Welt noch
ein anderes Beispiel für eine solche Herzlosigkeit, die derart
lange fortbesteht?
Ist es kein Terrorismus, wenn eine Frau mitten auf der
Straße von einem bis zu den Zähnen bewaffneten Soldaten
erschossen wird, nur weil sie protestiert? Wenn es kein
Terrorismus ist, was ist es dann? Ist diese Barbarei etwa
nicht als Extremismus zu bezeichnen, nur weil sie von
militärischen Kräften eines Besatzerregimes begangen wird?
Oder sollen wir beim Anblick dieser Bilder etwa kein
schlechtes Gewissen mehr bekommen, nur weil sie über 60 Jahre
lang fortlaufend auf den Fernsehbildschirmen zu sehen waren?
Die Feldzüge der letzten Jahre gegen die Islamische Welt,
denen zahllose Menschen zum Opfer fielen, sind ein weiteres
Beispiel für die widersprüchliche Logik des Westens. Die
angegriffenen Länder haben, abgesehen von den menschlichen
Verlusten, auch ihre wirtschaftlichen und industriellen
Infrastrukturen verloren. Ihre Bewegung in Richtung Wachstum
und Entwicklung wurde gestoppt oder verlangsamt und in einigen
Fällen um Jahrzehnte zurückgeworfen. Dennoch verlangt man von
ihnen auf dreiste Weise, dass sie sich nicht als unterdrückt
ansehen sollen. Wie kann man ein Land in eine Ruine verwandeln
und seine Städte und Dörfer dem Erdboden gleichmachen und dann
sagen: Bitte betrachtet euch nicht als jemand, dem Unrecht
widerfahren ist! Wäre eine ehrliche Entschuldigung nicht
besser als die Einladung, so zu tun, als ob nichts geschehen
wäre und die Tragödien zu vergessen? Das Leid, das die
Islamische Welt in diesen Jahren aufgrund der Heuchelei und
der äußeren Aufmachung der Aggressoren ertragen hat, wiegt
nicht geringer als der materielle Verlust.
Liebe junge Menschen! Ich hoffe, dass Ihr heute oder in der
Zukunft diese von List und Heimtücke verunreinigte Denkart
ändert, deren Kunst darin besteht, langfristige Ziele zu
verheimlichen und hinterhältige Absichten zu beschönigen. In
meinen Augen besteht die erste Phase zur Herstellung von
Sicherheit und Ruhe darin, diese Gewalt hervorrufende
Ideologie zu korrigieren. Solange doppelzüngige Kriterien in
der westlichen Politik vorherrschen und solange sich der
Terrorismus in den Augen seiner mächtigen Unterstützer in
einen guten und einen schlechten aufteilen lässt und solange
die Interessen von Regierungen gegenüber den menschlichen und
ethischen Werten den Vorzug genießen, sollte man nicht
woanders nach den Wurzeln für die Gewalt suchen.
Leider sind diese Wurzeln über die Jahre immer tiefer in
die kulturelle Politik des Westens eingedrungen und haben eine
sanfte und verdeckte Invasion in Gang gesetzt. Viele Länder
sind stolz auf ihre einheimische nationale Kultur. Es sind
Kulturen, die nicht nur groß und fruchtbar sind, sondern
Jahrhunderte lang die menschlichen Gesellschaften bestens
genährt haben. Die Islamische Welt bildet dabei keine
Ausnahme. Doch in der heutigen Zeit versucht die westliche
Welt unter Nutzung moderner Hilfsmittel beharrlich, für eine
internationale kulturelle Gleichschaltung zu sorgen. Ich
bewerte das Aufzwingen der westlichen Kultur gegenüber den
anderen Völkern und die Abwertung unabhängiger Kulturen als
verdeckte Gewalt und halte es für äußerst schädlich.
Die Schmähung reicher Kulturen und Entwürdigung ihrer
ehrenwertesten Elemente erfolgen in einer Zeit, in der die
Kultur, die sie ersetzen soll, in keiner Weise als Ersatz
geeignet ist. Beispielsweise haben die beiden Faktoren
„Aggressivität“ und „moralische Zügellosigkeit“, welche leider
zu den Hauptmerkmalen der westlichen Kultur geworden sind,
sogar in ihrem eigenen Ursprungsgebiet zur Abnahme der
Popularität und Bedeutung der westlichen Kultur geführt.
Nun stellt sich folgende Frage: Begehen wir denn eine
Sünde, wenn wir keine streitsüchtige, primitive und
sinnentleerte Kultur wollen? Machen wir uns etwa schuldig,
wenn wir uns gegen eine verheerende Flut stellen, die in Form
von verschiedenen scheinbar künstlerischen Produkten in
Richtung unserer jungen Menschen strömt? Ich streite nicht die
Wichtigkeit und den Wert von kulturellen Beziehungen ab. Immer
wenn diese Beziehungen unter natürlichen Bedingungen und unter
Achtung der Gesellschaft, die sie empfangen sollen,
vonstattengingen, haben sie Wachstum, Ehre und Reichtum mit
sich gebracht. Im Gegensatz dazu sind ungleiche, diktierte
Beziehungen ohne Erfolg geblieben und haben Schäden
verursacht.
Zu meinem größten Bedauern muss ich feststellen, dass
niederträchtige Gruppen wie die IS-Terrormiliz die Ausgeburt
solcher erfolglosen Verbindungen mit importierten Kulturen
sind. Hätte das Problem wirklich etwas mit der (religiösen)
Überzeugung zu tun, dann hätten wir bereits vor der
Kolonialisierung solche Phänomene in der Islamischen Welt
beobachtet. Aber die Geschichte bezeugt das Gegenteil.
Zuverlässige historische Belege zeugen eindeutig davon, dass
die Kreuzung der Kolonialisierung mit einer radikalen,
verworfenen Denkweise – obendrein eines Beduinenstamms – die
Saat des Extremismus in diese Region gestreut hat. Wie sonst
ist es möglich, dass aus einer der moralischsten und humansten
religiösen Rechtsschulen der Welt, die in ihrem zugrunde
liegenden Buch die Tötung eines einzigen Menschen mit der
Tötung der gesamten Menschheit gleichstellt, ein Abschaum wie
der IS hervorgeht?
Andererseits muss man fragen, wieso sich jemand, der in
Europa geboren ist und in der dortigen Umgebung geistig und
ideologisch geformt wurde, solchen Gruppierungen anschließt?
Kann man etwa glauben, dass Leute, die ein oder zweimal in ein
Kriegsgebiet reisen, plötzlich derart radikalisiert werden,
dass sie ihre eigenen Landsleute unter Beschuss nehmen? Gewiss
darf man hierbei nicht die Wirkung eines ungesunden
kulturellen Konsums in einer verschmutzten,
gewaltverherrlichenden Umgebung außer Acht lassen. In diesem
Zusammenhang sind umfassende Analysen erforderlich, welche die
offenen und verborgenen Verunreinigungen der Gesellschaft
aufzeigen. Vielleicht haben die tiefen Hassgefühle, die in den
Jahren des industriellen und wirtschaftlichen Aufschwungs
aufgrund von Ungleichheiten und etwaigen gesetzlichen und
strukturellen Benachteiligungen in die Herzen von
Bevölkerungsgruppen der westlichen Gesellschaften gesät
wurden, zu Minderwertigkeitskomplexen geführt, die hin und
wieder krankhaft auf diese Weise zum Ausdruck kommen.
Jedenfalls seid Ihr diejenigen, die die äußeren Schalen
Eurer Gesellschaft öffnen müssen und die Probleme und
Minderwertigkeitskomplexe zu finden sowie diese zu beseitigen
haben. Gräben sollten gefüllt und nicht vertieft werden. Ein
großer Fehler im Kampf gegen den Terrorismus sind überstürzte
Reaktionen, die vorhandene Abstände vergrößern. Irgendwelche
emotionalen und übereilten Handlungen, welche die in Europa
und den USA zu Millionen lebenden aktiven und pflichtbewussten
Muslime isolieren, sie in Angst und Schrecken versetzen, ihnen
mehr denn je ihre Grundrechte verwehren und in der
Gesellschaft an den Rand drängen, werden keine Lösung
darbieten. Im Gegenteil wird dies die Klüfte noch vertiefen
und die Missstimmung steigern.
Oberflächliche Vorkehrungen und Reaktionen, insbesondere
wenn sie vom Gesetz gedeckt werden, werden nichts anderes zur
Folge haben, als dass durch verstärkte Blockbildungen
zukünftige Krisen angebahnt werden. Gemäß einigen Meldungen
wurden in einigen europäischen Staaten Bestimmungen
eingeführt, welche die Bürger dazu anregen die Muslime unter
Generalverdacht zu stellen. Dies ist ein ungerechtes Vorgehen
und wir alle wissen, dass das Unrecht, ob man will oder nicht,
wie ein Bumerang wirkt, der zu einem selbst zurückkommt. Die
Muslime verdienen diesen Undank nicht. Die westliche Welt
kennt die Muslime seit Jahrhunderten nur zu gut. Sie haben
hauptsächlich nur Freundlichkeit und Geduld seitens der
Muslime erlebt – sowohl in der Zeit, als Menschen aus dem
Westen auf dem Territorium des Islams zu Gast waren und den
Reichtum des Gastgebers bestaunten, als auch in der Zeit, in
der sie selbst Gastgeber wurden und von der Arbeit und dem
Denken der Muslime profitierten.
Deshalb bitte ich Euch, junge Menschen, auf Basis einer
korrekten Kenntnis, tiefer Überlegung und durch Nutzung der
Lehren aus unangenehmen Erfahrungen, die Grundlagen für einen
gesunden und ehrenhaften Austausch mit der Islamischen Welt zu
legen. Dann werdet Ihr in nicht allzu ferner Zukunft sehen,
dass das Bauwerk, welches Ihr auf diesem Fundament errichtet
habt, einen Schirm der Zuversicht und des Vertrauens über den
Häuptern seiner Architekten ausbreitet, ihnen wärmende
Sicherheit und Ruhe spendet und das Licht der Hoffnung auf
eine leuchtende Zukunft in der Welt ausbreitet.
Sayyid Ali Chamene’i
29. November 2015
[1] Anm.: „Takfirismus“ bezeichnet die Ideologie, die
andersdenkende Menschen für ungläubig und vogelfrei erklärt.