Brief
Imam Chamene'is an die Jugend in Europa und
Nordamerika
– Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Begnadenden –
Die jüngsten Ereignisse in Frankreich [gemeint sind die
tödlichen Angriffe auf Mitarbeiter des Magazins „Charlie Hebdo“
am 7. Januar 2015 und weitere Anschläge] und ähnliche Vorfälle
in einigen anderen westlichen Ländern haben mich davon
überzeugt, dass ich Euch direkt diesbezüglich ansprechen
sollte.Ich wende mich an Euch junge Menschen, nicht um Eure
Eltern außer Acht zu lassen, sondern deshalb, weil ich die
Zukunft Eures Volkes und Eurer Heimat in Euren Händen liegen
und in Euren Herzen ein vitaleres und sensibleres Verlangen
nach der Wahrheit sehe. Mit diesen Zeilen wende ich mich auch
nicht an Eure Politiker und Regierungsverantwortlichen, denn
ich bin mir sicher, dass sie bewusst den Weg der Politik von
dem Weg der Aufrichtigkeit und Rechtschaffenheit getrennt
haben.
Ich spreche zu Euch über den Islam und insbesondere über
das Bild, dass sie Euch vom Islam vorlegen. Seit zwei
Jahrzehnten, d.h. ungefähr nach dem Zerfall der Sowjetunion,
hat es zahlreiche Bestrebungen gegeben, diese große Religion
als einen beängstigenden Feind darzustellen. Die
Heraufbeschwörung von Angst und Ablehnung und deren Missbrauch
blicken bedauerlicherweise auf eine lange Vergangenheit in der
politischen Geschichte des Westens zurück. Ich möchte hier
nicht auf die verschiedenen Ängste, die bislang den westlichen
Völkern eingeflößt worden sind, eingehen. Ihr selbst könnt mit
einem kurzen Blick auf die jüngsten kritischen
Geschichtsstudien erkennen, dass in der neuen
Geschichtsbeschreibung das unaufrichtige und betrügerische
Verhalten westlicher Staaten gegenüber anderen Völkern und
Kulturen auf der Welt gerügt worden ist. Die Geschichte
Europas und Amerikas schämt sich wegen des Sklaventums. Sie
schaut verlegen zu Boden wegen der Kolonialzeit und wegen des
Unrechts an Farbigen und Nicht-Christen. Eure Forscher und
Historiker erklären aufrichtig, dass sie sich wegen des
Blutvergießens schämen, welches im Namen der Religion zwischen
Katholiken und Protestanten oder im Namen der Nationalität und
der Volkszugehörigkeit im Ersten und Zweiten Weltkrieg erfolgt
ist.
Dieses Geständnis verdient selbstverständlich Anerkennung.
Ich will auch gar nicht die Geschichte tadeln, wenn ich einen
Ausschnitt aus dieser langen Liste nenne, sondern ich möchte,
dass Ihr Eure Intellektuellen fragt, warum das kollektive
Gewissen im Westen immer erst mit einer Verzögerung von
mehreren Jahrzehnten und manchmal mehreren Jahrhunderten
aufwacht. Warum ist die Korrektur des kollektiven Gewissens
immer auf die weit zurückliegende Vergangenheit gerichtet und
nicht auf die aktuellen Probleme? Warum wird in wichtigen
Dingen, wie der Begegnung mit der islamischen Kultur und
Denkweise, eine allgemeine Informiertheit verhindert?
Ihr wisst ja, dass Herabsetzung und Hervorrufung von Hass
und fiktiver Angst gegenüber „Anderem“ die Grundlage für alle
ungerechten Bestrebungen nach Profit und Vorteilen ist. Nun
möchte ich, dass Ihr Euch selbst fragt, warum diesmal die alte
Politik der Angstmache und Verbreitung von Hass in einem
derartig beispiellosen Ausmaß den Islam und die Muslime ins
Visier genommen hat?
Warum ist das heutige internationale Machtsystem bestrebt,
das islamische Denken an den Rand und in die Passivität zu
drängen? Welche Sinngebungen und Werte gibt es denn im Islam,
die dem Konzept der Großmächte in die Quere kommen, und welche
Interessen werden durch die falsche Darstellung des Islams
denn gedeckt? Meine erste Bitte lautet daher, dass Ihr nach
den Motiven dieser groß angelegten Schwarzmalerei über den
Islam forscht.
Meine zweite Bitte ist die, dass Ihr gegenüber der Flut von
Vorurteilen und Hetzpropaganda, versucht, Euch direkt und
unmittelbar mit dieser Religion vertraut zu machen. Der
gesunde Verstand befiehlt, dass Ihr zumindest wisst, wovor Ihr
flieht und Euch fürchtet und von welcher Beschaffenheit es
ist. Ich bestehe nicht darauf, dass Ihr meine oder irgendeine
andere Deutung des Islams akzeptiert. Ich sage nur: Lasst
nicht zu, dass Euch, ausgehend von böswilligen und schmutzigen
Motiven, diese lebendige und die heutige Welt beeinflussende
Wahrheit (falsch) präsentiert wird. Gestattet nicht, dass sie
Euch heuchlerisch die Terroristen, die sie selber angeheuert
haben, als Repräsentanten des Islams vorstellen. Lernt den
Islam über die echten Quellen und die Quellen aus erster Hand
kennen. Werdet mit dem Islam durch den Koran und die Biografie
ihres großen Propheten vertraut.
Ich möchte Euch an dieser Stelle gerne fragen, ob Ihr Euch
bislang schon direkt an den Koran der Muslime gewandt habt?
Habt Ihr die Verhaltensweise des Propheten des Islams und
seine menschlichen und moralischen Lehren studiert? Habt Ihr
bislang außer über die Medien auch aus anderen Quellen über
die Botschaft des Islams erfahren? Habt Ihr Euch jemals
gefragt, wie und aufgrund welcher Werte dieser Islam mehrere
Jahrhunderte hintereinander die größte wissenschaftliche und
geistige Zivilisation der Welt hervorbrachte und die besten
Gelehrten und Denker großzog?
Ich bitte Euch, nicht zuzulassen, dass sie durch abwertende
und einfältige Maskenbilder zwischen Euch und der Wahrheit
eine gefühlsgeladene Trennmauer errichten und Euch die
Möglichkeit rauben, sich unvoreingenommen ein Urteil zu
bilden. In unserer Zeit, in welcher die Kommunikationsmittel
die geografischen Grenzen überwunden haben, solltet Ihr nicht
zulassen, dass man Euch in künstliche geistige Grenzen
einsperrt. Auch wenn kein Einzelner die entstandenen Klüfte
ausfüllen kann, so kann doch jeder von Euch für die eigene
Erkenntnis und die Aufklärung seiner Umgebung eine Brücke des
Denkens und der Gerechtigkeit über diesen Klüften errichten.
Dieser bewusst vorausgeplante Konflikt zwischen dem Islam
und Euch jungen Menschen ist nicht angenehm, aber er kann
Eurem wissbegierigen und suchenden Geist neue Denkaufgaben
geben. Durch Bemühung um eine Antwort auf diese Fragen tut
sich vor Euch eine wertvolle Gelegenheit zur Entdeckung neuer
Wahrheiten auf. Deshalb lasst diese Gelegenheit für das
richtige und vorurteilsfreie Islamverständnis nicht aus der
Hand gleiten. Vielleicht werden dann dank Eures
Verantwortungsbewusstseins gegenüber der Wahrheit die
kommenden Generationen weniger beschämt und mit einem
ruhigeren Gewissen über diesen Abschnitt der Geschichte der
Beziehungen des Westens zum Islam schreiben können.
Sayyid Ali Chamene’i
21. Januar 2015